„Wolfskinder“

„Wolfskinder“

Alle Länder im östlichen Zentraleuropa haben im II Weltkrieg und danach ungeheuer viel Leid ertragen müssen. Die Blood Lands (so der Buchtitel vonTimothy Snyder), die blutigen Länder von Estland bis zu Ukraine, litten besonders unter den Folgen der Herrschaft Hitlers wie Stalins. Litauen wurde 1940 sowjetisch besetzt, direkt setzten die Vertreibungen nach Sibirien ein. 1941 eroberte die Wehrmacht blitzartig das Land – und gleich begannen Sonderkommandos mit der Erschießung der Juden. Im Sommer 1944 wurde ganz Litauen von den Sowjets zurückerobert.

Anfang 1945 traf dann vor allem Ostpreußen der ganze aufgestaute (und angefachte) Hass der Rotarmisten. Am 1. September 1945 lebten noch etwa 175.000 Deutsche in dem Gebiet. Der schreckliche Hungerwinter 46/47 reduzierte diese Zahl drastisch. Andreas Kossert schreibt in seinem sehr zu empfehlenden Buch Ostpreussen – Geschichte und Mythos:

„Hunger trieb die Besiegten zur Verzweiflung… Als sich herumsprach, dass es in Litauen mehr zu essen gebe, setzten sich regelrechte Hungerzüge Richtung Litauen in Bewegung. Hin und wieder führten litauische Händler deutsche Kinder mit sich, die man ihnen angeboten hatte. In den Dörfern kannte sie ältere Leute, deren Kinder aus dem Haus gegangen, ausgewandert oder umgekommen waren und die ein hungerndes deutsches Kind in Pflege zu nehmen bereit waren. Immer mehr deutsche Kinder, die meisten Waisen, kamen zum Betteln nach Litauen. [Kossert schildert die Geschichte einer Vierzehnjährigen.] Das Mädchen schlug sich nach Litauen durch. Dort wurde es von Litauern einfach mit nach Hause genommen und überlebte. Diese ostpreussischen Kinder nannte man in Litauen vokietukai (kleine Deutsche). In der Bundesrepublik wurden sie später als Wolfskinder bekannt. Ihr Schicksal ist sicher da tragischste in der ostpreußischen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. “

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Auch in Litauen hatte man viel gelitten, doch die Bauern konnten damals wieder ihre Äcker bewirtschaften. Die Kollektivierung der Landwirtschaft begann erst richtig Ende der 40er Jahre. Die Wolfskinder bettelten, arbeiten aber meist auch bei den litauischen Bauern. Ihre Gesamtzahl wird auf 20.000 geschätzt. Natürlich gab es auch Misshandlungen und Ausbeutung, aber vielen Tausenden wurde so das Leben gerettet. Und einige blieben für immer im Land.

Ruth Kibelka schildert die Geschichte der „kleinen Deutschen“ in Wolfskinder. Grenzgänger an der Memel; das Buch ist auch auf Litauisch erschienen. Einen guten Überblick bietet auch ein 3Sat-Beitrag, der hier zu sehen ist.

Nun ist erstmals ein Kinofilm zum Thema produziert worden: „Wolfskinder“. Auf der Seite der Produktionsfirma heisst es zu dem Projekt:

„‘Wolfskinder’ erzählt die Geschichte eines Jungen, der sich, getrieben von der Suche nach seinem verlorenem Bruder, einer Gruppe Kinder anschließt, um mit ihnen aus den Wirren der Nachkriegsanarchie in die verwunschenen Wälder Litauens zu flüchten. Ein ehemals ostpreußisches Dorf unter sowjetischer Besatzung im Jahre 1947: Der 14-jährige Hans und sein kleiner 9-jähriger Bruder Fritzchen verlieren am Ende eines harten Winters ihre Mutter durch den Hungertod. Im Sterben liegend beauftragt die Mutter Hans, sich um seinen kleineren Bruder zu kümmern. Obwohl Hans den kommenden Anforderungen weniger gewachsen ist, als sein kleiner Bruder, überträgt ihm die Mutter die Verantwortung. Sie sollen versuchen, sich nach Litauen durchzuschlagen, wo einige Bauern deutschen Kindern wohlgesonnen sind. Im Schutz der Nacht versuchen die Brüder gemeinsam mit anderen Flüchtlingskindern über einen Fluss zu setzen. In der Hektik verliert Hans Fritzchen aus den Augen. Es beginnt eine Odyssee, bei der sich Hans getrieben von der Suche nach seinem Bruder einer Gruppe Kinder anschließt, um gemeinsam mit ihnen in einem fremden Land gegen Hunger, Wetter und Krankheit zu kämpfen.”Plakat

Regie führte Rick Ostermann, ein junger deutscher Regisseur, der bisher vor allem fürs Fernsehen gearbeitet hatte und mit „Wolfskinder“ seinen Debütfilm vorlegte. Auch das Drehbuch stammt von Ostermann. Gedreht wurde der Film im Sommer 2012 in Litauen, Premiere hatte er bei der Biennale von Venedig im vergangenen Jahr. Die Hauptrollen werden von Levin Liam und Helena Phil gespielt. Neben diesen Profis waren aber auch einheimische Laien mit auf demSet. In Litauen wurde „Wolfskinder“ in der vergangenen Woche bei den deutschen Filmtagen des Goethe-Instituts erstmals gezeigt. Auch Ostermann kam zu Vorführungen wie in Klaipėda und Vilnius (s. hier). Ein Trailer ist hier zu sehen.

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Ostermann mit den Hauptdarstellern in Venedig

„Wolfskinder“ wurde in der litauischen Presse recht positiv aufgenommen. Eine Szene stieß aber auf Kritik: Litauische Partisanen machen sich über eine Zwölfjährige her. Nun kann man auch solche Zwischenfälle in eine fiktive Handlung hineinschreiben, und gewiss haben manche Partisanen auch Verbrechen begangen. Doch ausgerechnet ihnen Vergewaltigungen anzulasten, macht historisch wenig Sinn – eindeutige Zeugnisse dafür liegen nicht vor. Die Rotarmisten kommen im Film dagegen recht gut weg, obwohl gerade sie ja häufig Frauen missbrauchten.

Der Film startet im Verleih des Port-au-Prince Filmverleihs im Frühjahr 2014 in Deutschland im Kino.