Ringen mit dem Wort

Ringen mit dem Wort

Lehren aus Luthers „Turmerlebnis“ oder Eine kurze Einleitung in die Theologie 

Im vergangenen Jahr unterrichtete Holger am EBI Einführung in die Theologie; in diesem Zusammenhang entstand dieser Text. Eine litauische Version befindet sich hier.

Im Mittelpunkt des Films „The Book of Eli“ steht die Bibel. Die prachtvolle englische „King James“-Übersetzung wird von Eli (Denzel Washington) in seinem Rucksack quer durch ein baum- und strauchloses Amerika getragen. Nach einem globalen Atomkrieg und allgemeiner Bibelzerstörung ist es weltweit das letzte Exemplar von Gottes gedrucktem Wort. Diese Bibel ist einzigartig und Objekt der Begierde. Eli lernt sie auswendig – auch aus Mangel an anderer Lektüre. Der Bösewicht Carnegie (Gary Oldman) will sie ebenfalls unbedingt in die Hände bekommen. Seine Motivation ist eine völlig unbiblische. Für ihn ist die Bibel „eine Waffe, die auf die Herzen und den Verstand der Schwachen und Verzweifelten zielt. Sie würde uns Macht und Kontrolle über sie geben“.

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Denzel Washington als Eli liest in einer King-James-Bibel

Carnegie begehrt die Bibel zutiefst. Von einem ähnlich intensiven Begehren jedoch einer ganz anderen Art lesen wir bei Martin Luther. In der Vorrede zum 1. Band der Gesamtausgabe seiner lateinischen Werke (Wittenberg 1545) schreibt der Reformator über den wohl wichtigsten Wendepunkt in seinem Leben:

„Ich war ja von einem bewundernswerten Verlangen ergriffen war, Paulus im Brief an die Römer kennenzulernen. Aber mir hatte bis dahin nicht die Kälte des Herzens im Wege gestanden, sondern ein einziges Wort, das im ersten Kapitel [1,17] steht: Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm [dem Evangelium] offenbar. Denn ich haßte dieses Wort “Gerechtigkeit Gottes”, das ich durch den Gebrauch und die gewohnte Verwendung bei allen Gelehrten gelehrt worden war, philosophisch zu verstehen von der, wie sie sagen, formalen oder aktiven Gerechtigkeit, durch die Gott gerecht ist und die Sünder und die Ungerechten straft.

Ich aber, der ich, obgleich ich als untadeliger Mönch lebte, mich vor Gott als Sünder mit unruhigstem Gewissen fühlte und nicht vertrauen konnte, daß ich durch meine Genugtuung versöhnt sei, liebte nicht, nein ich haßte den gerechten und die Sünder strafenden Gott. Im geheimen war ich…  aufgebracht gegen Gott, indem ich sagte: Gleichsam als ob es wahrlich nicht genug sei, daß die armen Sünder und die durch die Erbsünde ewig verlorenen durch jede Art von Unheil durch das Gesetz des Dekaloges bedroht sind, wenn nicht Gott durch das Evangelium Leid zum Leid hinzufügte, und auch durch das Evangelium uns Gerechtigkeit und seinen Zorn androhte! Ich raste so mit grimmigem und verwirrtem Gewissen, bedrängte aber ungestüm an dieser Stelle Paulus, brennend dürstend, um zu wissen, was der hl. Paulus wollte.

Tag und Nacht dachte ich unablässig darüber nach, bis Gott sich meiner erbarmte und ich auf den Zusammenhang der Worte achtete, nämlich: Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbar, wie geschrieben steht: ‘Der Gerechte lebt aus Glauben’. Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als die Gerechtigkeit zu verstehen, durch die der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus dem Glauben, und begriff, daß dies der Sinn sei: Durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbar, und zwar die passive, durch die uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: ‘Der Gerechte lebt aus Glauben’. Da fühlte ich, daß ich geradezu neugeboren und durch die geöffneten Pforten in das Paradies selbst eingetreten war. Da erschien mir durchgehend ein anderes Gesicht der ganzen Schrift. Ich durchlief danach die Schrift, soweit ich sie im Gedächtnis hatte, und fand auch in anderen Ausdrücken einen ähnlichen Sinn…

Und mit welchem Haß ich vorher das Wort ‘Gerechtigkeit Gottes’ haßte, mit solcher Liebe schätzte ich es nun als allerliebstes Wort. So wurde mir jene Stelle bei Paulus wahrhaft Pforte des Paradieses…“ (WA 54, 185f)

Traditionell wird diese Episode im Leben Luthers „Turmerlebnis“ genannt, da sie sich möglicherweise im Turm des Augustinerklosters in Wittenberg zutrug. Heute hat sich unter den Theologen und Historikern eher „reformatorische Wende“ als Bezeichnung durchgesetzt. Viel wurde unter den Experten über den genauen Zeitpunkt dieses Geschehens diskutiert. Es gilt inzwischen als wahrscheinlich, dass Luther erst nach dem Thesenanschlag vom Herbst 1517 diese Entdeckung mit dem Wort Gottes machte (es werden aber auch Daten bis 1513 oder gar 1511/12 genannt). An dieser Stelle wollen wir diese Diskussion nicht vertiefen. Es soll hier auch nicht um den Inhalt der Entdeckung Luthers gehen, um die Gerechtigkeit Gottes und ihr Verständnis. Im Folgenden wollen wir die die Art und Weise, wie Luther mit dem Wort umgeht, untersuchen.

Ich will erkennen

Schon der erste Satz in Luthers (in Latein geschriebenen) Bericht ist durch und durch christlich. Er will den Apostel unbedingt „erkennen“, d.h. verstehen [lat. cognoscendi – erkennen, verstehen], was Paulus an einer bestimmten Stelle meint. Denn zum Christsein gehört untrennbar hinzu, dass man bestimmte Dinge über Gott, sein Wesen und Handeln, und den Menschen versteht. Mit Herz und Verstand. Man kann ganz einfach Muslim werden, indem man das Glaubensbekenntnis des Islam aufsagt (zwei Mal vor Zeugen). Wirklich verstehen oder von Herzen glauben muss man dessen Inhalt nicht. Es ist auch nicht unbedingt nötig, die Bedeutung der Aussagen des Korans, der hl. Schrift des Muslime, zu verstehen. Auswendiglernen, natürlich auf Arabisch, ist viel wichtiger – egal, ob man diese Sprache kann oder nicht. Im Zentrum des Christentum steht dagegen die Frage: „Verstehst du auch, was du da liest?“ (Apg 8,30) Ohne ein gewisses Maß an echtem Verstehen kann man nicht Christ werden und bleiben.

Der erste Satz ist zugleich auch ein sehr protestantischer. Denn hören wir zum Vergleich einmal kurz auf Erasmus von Rotterdam, der nur ein paar Jahre nach diesem Ereignis in Vom freien Willen schrieb: „Es gibt nämlich in der Heiligen Schrift gewisse unzulängliche Stellen, in die wir nach dem Willen Gottes nicht tiefer eindringen sollen und in denen, wenn wir trotzdem einzudringen versuchen, zunehmendes Dunkel uns umfängt…“ Verstehen der Bibel – ja, aber man solle es bloß nicht übertreiben. Nur nicht zu tief eindringen, denn so kann man sich im Dunkel verlaufen. Im Zweifelsfall will Erasmus sein „Urteil in allen Stücken gern [den Entscheidungen der Kirche] unterordnen“, und auch bei denen sei es nicht so wichtig, ob „ich ihre [der Kirche] Anordnungen verstehe oder nicht“.

Luther dachte hier ganz anders als Erasmus, der sich in solchen Sätzen als treues Kind der römischen Kirche zeigte. Bei dem Humanisten sehen wir das typisch katholische „ja, aber…“: Bibelstudium ja, aber das reicht noch nicht, und übertreiben soll man es damit auch nicht; Verstehen ist wichtig, aber Gehorsam gegenüber der Kirche ist wichtiger. Die Reformation dagegen war gerade eine Bewegung, die in die Bibel hineinbohrte, tief hineinbohrte und konsequent nach dem Verstehen der Bibel drängte, egal, was die herrschende Kirche nun dazu sagte. Denn es war eine der großen Wiederentdeckungen der Reformation, daß das Wort Gottes in Gestalt eines Buches zu uns kommt. Daher ist es unbedingt wichtig die Botschaft in diesem Buch so gut wie möglich zu erkennen.

Das Tor zum Evangelium

Luther war von einem tiefen Drang nach Gotteserkenntnis erfüllt. Was tat er? Wohin wandte er sich? An den Text der Bibel, den er intensiv studierte. Das beinhaltete Nachdenken: Er „dachte unablässig darüber nach“, was eine bestimmte Stelle bei Paulus bedeutet, d.h. was der Autor damit gemeint hatte. Dieses nachdenkende Studieren war intensiv, lang andauernd: „Tag und Nacht“ tat Luther dies, „unablässig“! Der ganze Text beschreibt ein großes Ringen mit dem Text, das mit viel Aufwand verbunden war. Luther wollte die Sätze unbedingt knacken, denn er wusste, dass das Verstehen der Bedeutung ein zutiefst geistlicher Vorgang ist. Luther schmeckte die Frucht seines Studiums und fühlte sich wie „neugeboren“, verglich dies mit dem Eintritt „ins Paradies“.

Luther sah also klar die tiefere Dimension dieses intensiven Studiums. Erforschen der Bibel ist wichtig – wegen des Heils. Bibelstudium ist wichtig, um zum Heil zu gelangen. Gott und Mensch wirken hier zusammen: Er achtete auf den „Zusammenhang der Worte“, und parallel „erbarmte sich“ Gott seiner und wirkte in und durch sein Studium.

Das „Turmerlebnis“ macht deutlich, dass theologisches Forschen und Studieren der Bibel kein Selbstzweck ist. Es dient nicht in erster Linie abstrakten und isolierten Zwecken der Wissenschaft, sondern ist zutiefst existentiell, denn es hat mit dem persönlichen Heil (dem eigenen und das anderer) zu tun. Es geht hier nicht um das Tor in das Wissenschaftlerreich, sondern um das Tor zum Evangelium und zur Rettung.

Theologen werden hier herausgefordert, sich auf den letzten Zweck ihres Tun zu besinnen. Und jedem Christ sagt Luthers Beispiel, dass das intensive Nachdenken keine Nebensache und alles andere als überflüssig ist. Der Christ „lebt von jedem Wort Gottes“ (Mt 4,4). Daher müssen nicht alle professionelle Theologen werden, aber jeder Christ muss sich intensiv um das Verstehen dieses Wortes bemühen. Das Studieren sieht je nach Beruf, Berufung und Verantwortung unterschiedlich aus, aber es bleibt ein Studieren.

Die Priorität der Schrift

Wie alle Reformatoren war Luther Theologe der Schrift. Er gab sich nicht mit der „gewohnten Verwendung [des Begriffs] bei allen Gelehrten“ zufrieden, als er den Römerbrief und das Wort „Gerechtigkeit“ studierte. Gerade die Deutung all dieser Gelehrten hinderte ihn bisher an der Entschlüsselung des Verses. Natürlich hatte Luther nichts Grundsätzliches gegen Kommentare und theologische oder philosophische Bücher. Er kannte sie sehr gut! Aber das geschriebene Wort Gottes hat Priorität, steht in der Autorität weit darüber. So kommt er zur Hl. Schrift mit der Erwartung, gerade hier Wahrheit zu finden, die sein Denken erneuert und korrigiert.

Luthers „Turmerlebnis“ veranschaulicht hervorragend seine Grundthese im Hinblick auf die Bibel: sacra scriptura sui ipsius interpres – die Heilige Schrift legt sich selbst aus. Das heißt vor allem, dass man eine Stelle der Bibel mit anderen auslegt. Nicht der Ausleger gibt dem Text seinen Sinn, sondern die Bibel selbst sagt von sich aus und mit ihrer eigenen Autorität, was sie meint. Ist eine Stelle nicht klar, so wird sie in den größeren Zusammenhang der Bibel gestellt. Das Ergebnis der Auslegung einer Stelle muss sich dann immer in den Gesamtkontext der Bibel einordnen lassen. Nachdem Luther die Bedeutung des Wortes klar geworden war, „durcheilte“ die Bibel im Kopf und überprüfte an ihr, ob seine Interpretation richtig war. Der Ausleger ist an allem natürlich beteiligt, aktiv, und er benutzt auch Hilfsmittel wie Lexika usw. dazu. Aber letztlich bleibt immer die Frage: Was hat die Schrift mir zu sagen?

Der biblische Text steht also weit über den Lehren der Kommentatoren, der Kirchenväter, anderer Theologen oder auch von Bekenntnissen. Der Lutherkenner H. Oberman: „Was an Luther neu ist, ist der Gedanke an absoluten Gehorsam gegenüber der Heiligen Schrift – auch gegen jede andere Autorität, seien sie der Papst oder die Konzilien“. Bibelkenntnis ist daher das A und O eines Theologen. 1538 schrieb der Wittenberger: „Wer mit der Schrift vertraut ist, ist ein ausgezeichneter Theologe“. Luther ging dabei selbst als Vorbild voran und hielt 1533 fest:

„Seit einer Reihe von Jahren habe ich nun jährlich zweimal die ganze Bibel durchgelesen. Wie wenn die Bibel ein riesiger, mächtiger Baum wäre und alle ihre Wörter kleine Zweige, so habe ich alle Zweige abgeklopft; denn ich wollte gern wissen, was sie zu bieten haben.“

Sprache, Wörter und Grammatik

In Luthers Bericht fällt auf, wie radikal er sich auf den Text selbst konzentriert, auf einzelne Wörter, ja auch ein einzelnes Wort. Er meditierte (im Lateinischen benutzte er das Wort meditare – nachdenken), aber die Meditation geht nicht hinter den Text, sondern in ihn hinein. Wie Jakob mit dem Engel (Gen 32,25f), Gott, kämpfte, so rang Luther mit Gottes Wort.

Der Durchbruch zum Verstehen geschah, als der Wittenberger Professor neu „auf den Zusammenhang der Worte“ achtete. Er tat also eigentlich gar nichts Besonderes. Er interpretierte die Paulus-Stelle mit den Werkzeugen, mit denen auch sonst der Sinn von Worten geklärt wird. Er beschäftigte sich mit Syntax, der Ordnung der Wörter in einem Satz, und Semantik, der Bedeutung von Wörtern und Sätzen. Er lief also nicht an Wörtern und Grammatik vorbei, sondern beachtete sie. Denn Luther wusste: „Sprachen sind die Scheide, die das Schwert des Geistes enthält“. Die Wörter selbst haben eine geistliche Dimension, weshalb auch die Kenntnis der biblischen Sprachen so wichtig ist. „Es ist eine Sünde und Schande, unser eigenes Buch nicht zu kennen, noch die Sprache und Wortes unseres Gottes“, so der Reformator.

Will man Gott erkennen und zum Heil gelangen und darin wachsen, so rät Luther: hinein in die Sätze und Wörter der Bibel, hinein in die Grammatik. Luther suchte – in seiner inneren Not! – eben keine ‘Aushilfe’ in übernatürlichen Visionen, er floh nicht in mystische Erlebnisse, er hörte auch (soweit wir von ihm wissen) keine inneren Stimmen. Luther ging in diesem Sinne nicht in sich, sondern außer sich. Suchst du nach geistlichen Aha-Erlebnissen? Dann, so der Reformator, sei bereit zu einem Ringkampf mit Gottes Wort. Diejenigen, die vermeintliche einfachere und geistlichere Abkürzungen suchen, verurteilte Luther z.B. in den Tischgesprächen scharf.

Eifer, Gefühl und Leidenschaft

Studium der Bibel kann mühselig und anstrengend sein, manchmal sicher auch trocken und an der Oberfläche wenig inspirierend. Dennoch ist das Ringen mit dem Text immer auch ein emotionales Geschehen. Intellekt und Gefühl sind beteiligt. So fällt besonders in Luthers Schilderung die Emotionalität der Sprache auf. Da ist überraschend viel die Rede vom Fühlen, er spricht von „brennendem Durst“ und „Verlangen“ zu wissen, von einem „verwirrten Gewissen“. Es geht um Liebe und Hass. Von rein nüchterner Auslegung, abgehoben über jedem Gefühl, ist hier nichts zu sehen. Luther überspitzt hier wie auch sonst gerne, wenn er an einer Stelle sogar sagt, dass er auf Paulus „einschlug“. Meist ist das lat. pulsare – schlagen, etwas schwächer mit „bedrängen“ übersetzt.

Luther zeigt in diesem Text wie auch sonst in seinem Leben, dass Glaube, Erkennen, Lieben immer den ganzen Menschen angeht. Wir lieben nicht mit dem Bauch, glauben mit dem Herzen und denken mit dem Kopf – so leicht lässt sich dies nicht aufteilen. Der ganze Mensch ist beteiligt an diesen Aktivitäten. Die Liebe zu Gott hat immer einen Inhalt, ist auch rational, und die Gotteserkenntnis ist auch immer emotional. Daher ist auch Erkenntnis des Wortes Gottes in Teilen auch immer eine Sache des Gefühls.

Luther betrieb in seinem Arbeitszimmer Exegese, und zwar mit seinem Verstand. Aber so rational auch immer diese ist und auch sein soll, ist sie dennoch kein rein intellektueller Vorgang, sondern mit Gefühlen und Leidenschaft verbunden. Luther machte dies auch seinen Studenten immer wieder klar. In der Exegese sollen sie einen schwierigen Text nicht anders behandeln als Mose den Felsen in der Wüste, den er mit dem Stab schlug, bis Wasser herausfloss für das durstige Volk (Num 20,11). Mit anderen Worten: Schlagt auf den Text ein!

Mühe, Arbeit und Leiden

Die Bibel ist zwar kein Buch mit sieben Siegeln; zwar ist sie grundsätzlich in ihren Aussagen klar und verständlich; doch dieses Verständnis erschließt sich oft nur durch intensives, langes Arbeiten. So mühte sich auch Luther mit dem Text aus dem Römerbrief ab, arbeitete hart an ihm. Und das war kein Einzelfall. Er nahm seine Arbeit als Professor sehr ernst und zeigte auch sonst einen vorbildlichen Fleiß. Zahlreiche Schriften und unzählige Briefe verfasste er, mehrmals in der Woche bestieg er die Kanzel zum Predigen. Auch auf diese galt es sich gut zu vorzubereiten.

Da der Theologe und Prediger es mit dem Wort Gottes zu tun hat, ist seine Verantwortung besonders groß und gerade von ihm vorbildlicher Fleiß gefordert: „Der Hausarbeitsschweiß ist groß; der politische Schweiß ist größer; der Kirchenschweiß ist der größte.“ Umso schärfer kritisierte er faule Kollegen:

„Manche Pastoren sind faul und nicht gut. Sie beten nicht; sie lesen nicht; sie untersuchen die Schriften nicht… Wir sind berufen zum Wachen, Lernen und anhaltenden Lesen. In der Tat, ihr könnt nicht genug in der Bibel lesen; und was ihr lest, könnt ihr nicht zu sorgfältig lesen, und was ihr sorgfältig lest, könnt ihr nicht zu gut verstehen, und was ihr gut versteht, könnt ihr nicht zu gut lehren, und was ihr gut lehrt, könnt ihr nicht zu gut vorleben… Der Teufel… die Welt… und das Fleisch wüten und toben gegen uns. Darum, liebe Herren und Brüder, Pastoren und Prediger, betet, lest, studiert, seid eifrig… Diese böse, schandbare Zeit ist nicht dazu angetan, faul zu sein, zu schlafen und zu schnarchen.“

Und wieder kommt zu dem Schweiß auch noch die geistliche Dimension hinzu. „Denn sobald Gottes Wort aufgeht [bekannt wird] durch dich, wird dich der Teufel angreifen“, so der Reformator nüchtern. Doch aller Widerstand, alles „Teufels Raserei“ macht erst einen „rechten [theologischen] Doktor“ und „guten Theologen“, denn dieser Widerstand treibt uns tiefer in Gottes Wort hinein, so dass gilt: „Allein die Anfechtung lehrt aufs Wort merken“. Das Ringen mit dem Text ist also in gewisser Weise auch ein Ringen mit dem Teufel. An Melanchton schrieb Luther: „Seit mehr als einer Woche werde ich zwischen Tod und Hölle hin und hergeworfen; mein ganzer Leib fühlt sich zerschlagen, meine Glieder zittern noch“; er werde sogar von „Wellen und Stürmen der Verzweiflung und Lästerung gegen Gott getrieben“.

„Ich“ und Tradition 

Ich und Paulus – liest man nur diesen Text, könnte man den Eindruck gewinnen, dass Luther ganz allein und völlig neu das Wort des Apostels entdeckt hat. Und in gewissem Sinne ist dies tatsächlich so. Der häufige Gebrauch der ersten Person unterstreicht, dass der Reformator zutiefst persönlich berührt wurde und viele Dinge neu sah. Wir dürfen dieses Zeugnis jedoch nicht in individualistischer Weise missverstehen. Luther stand in anderer Hinsicht nicht allein vor dem Bibeltext. Bei aller Exegese, Predigt und Lehre griff er auf die katholische Tradition, d.h. die Tradition der weitweiten Kirche Gottes der vergangenen Jahrhunderte und besonders der Kirchenväter zurück.

Luther wandte sich ab vom damaligen Katholizismus Roms, von der Verfremdung der wahren Tradition. In seinen Werken findet sich zum Teil scharfe Kritik der scholastischen Theologie. Er kritisierte auch einzelner Kirchenväter massiv wie z.B. Origenes oder Hieronymus. Dies darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die Reformatoren in ihren Werken intensiv aus den Kirchenvätern zitieren. Dies gilt für Luther wie vor allem auch für Bucer, Bullinger und Calvin. Besonders Augustin wurde von ihnen allen hoch geschätzt. Der lutherische Reformator Urbanus Rhegius (gest.1541) betonte: die Hl. Schrift muss immer im Einklang mit der überlieferten Lehre der allgemeinen Kirche gedeutet werden.

Die Reformatoren haben sich schon früh gegen den Vorwurf zur Wehr gesetzt, sie würden neue, der allgemeinen Kirche fremde Lehren in die Welt setzen. In seiner Antwort an Sadoleto betonte der junge Calvin einerseits, daß die Bibel die höchste Autorität hat, ihr „Wort gleicht einem Prüfstein für alle ihre [der Kirche] Lehren“. Er kritisiert die scholastische Lehre als „eine Art Geheimmagie“ und die damalige Kirche Roms: „Gottes Wort ist [in ihr] beiseitegeschoben und still beigesetzt“. Genauso gilt aber auch: „In Fragen der Lehre berufen wir [Evangelische] uns getrost auf die alte Kirche“, denn „wir haben eine bei weitem bessere Übereinstimmung mit der Alten Kirche als Ihr! Wir versuchen nichts anderes, als daß einmal jenes altwürdige Antlitz der Kirche wiederhergestellt werde.“ Dann nennt er eine Reihe der Kirchenväter. „Ihre Zeugnisse verdienen ja Vertrauen. Und dann schau später auf die Ruinen, welche bei Euch von jener Kirchen übriggeblieben sind!“

Die Hl. Schrift hat Priorität, wir unterstehen zuallererst ihr. Aber die meisten protestantischen Lehren sind schon in der frühen Kirche anzutreffen, so auch die Rechtfertigung allein aus Glauben. Es gab theologische Neuerungen in der Reformation, aber dies waren Weiterentwicklungen in einer Traditionslinie, kein radikaler Neuanfang. In dieser Tradition sah sich natürlich auch Luther. Er rang mit dem Bibelwort, aber er laß sie mit einem breiten Hintergrundwissen.

Luthers Schilderung des Turmerlebnisses darf also nicht subjektivistisch missdeutet werden. Luther erhebt sich hier nicht über Tradition und Kirche, doch diese Gefahr besteht natürlich besonders für Evangelische. Mahnende Worte von Philip Schaff (1819–1893), dem großen protestantischen Kirchenhistoriker:

„Dem gefährlichste Feind, dem wir entgegentreten müssen, ist nicht die Kirche Roms, sondern die Sektenplage unter uns; nicht die eine Person des Papstes in der Stadt auf den sieben Hügeln, sondern die zahllosen deutschen, englischen und amerikanischen Päpste, die Protestanten wieder unter eine menschlichen Autorität versklaven wollen – eine Autorität, die nicht in der Kirche, sondern in ihrem privaten Urteil und Willen gegründet ist. Um diesem zu widerstehen, brauchen wir mehr als das formale Prinzip [des Protestantismus, nämlich die oberste Autorität der Schrift – sola scriptura], denn alle diese Päpste berufen sich – zu unrecht – auf die Bibel. Wir brauchen die Kraft der Geschichte und eine Vorstellung von der Kirche als Säule und Fundament der Wahrheit, die Mutter aller Gläubigen, und diese wiederum in rechter Unterordnung unter das Wort.“ (Principle of Protestantism)

Studium und Gebet

Durch das Erforschen der Schrift zum Heil – doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Geradezu paradox formulierte Luther 1518: „Daß man die Heilige Schrift nicht mit Studium und Talent durchdringen kann, ist ganz sicher. Darum ist eure erste Pflicht, mit Gebet anzufangen“. „Sinn und Verstand“ allein müssen am Text verzweifeln, denn die Bibel enthält zwar Wörter und ist daher in dieser Hinsicht ein Buch wie alle anderen, aber dies sind „Worte des ewigen Lebens“ (Joh 6,68). Ihr Hauptinhalt ist das göttliche Evangelium, weshalb sie eben in anderer Hinsicht kein ‘normales’ Buch ist.

Jedem Interpreten der Bibel riet der Reformator: „Knie nieder in deinem Kämmerlein und bitte mit echter Demut und Ernst zu Gott, daß er dir durch seinen lieben Sohn wolle seinen Heiligen Geist geben, der dich erleuchte, leite und dir Verstand gebe.“ Die Bibel soll „durch Studium und ehrfürchtiges Gebet“ durchdrungen werden. Wer sich nur auf den Verstand verlässt, den vergleicht er mit solchen, „die in die Schrift mit schmutzigen Füßen eindringen wie Schweine“. Alles Studieren ist fruchtlos ohne Gottes Werk, das unsere Blindheit und hartes Herz überwindet.

Geist und Schrift

Warum mühte sich Luther so sehr mit dem Text ab? Geht es nicht auch einfacher? Und ist das überhaupt nötig? Redet Gott durch sein geschriebenes Wort zu uns? 1545 hielt der Reformator fest: „Menschen, die Gott reden hören wollen, müssen die Heilige Schrift lesen“. Denn sie ist das Wort Gottes. Das sahen allerdings viele Vertreter des „linken Flügels“ der Reformation ganz anders wie der Täuferführer Hans Denck, der 1527 schrieb:

„Das Wort, das wir äußerlich mit dem Mund reden, mit fleischlichen Ohren hören, mit Händen schreiben und drucken ist nicht das lebendige, wahre, ewige Wort Gottes. Es ist nur ein Zeugnis oder Anzeiger, der auf das innere Wort hinweist… Nichts äußerliches, es sei Wort oder Zeichen, Sakrament oder Verheißung, hat die Kraft, dem inneren Menschen Sicherheit zu geben, ihn zu trösten oder ihn zu vergewissern.“

Denck lehrte, das innere Wort, die Stimme des Geistes, komme vor und stehe über dem äußeren Wort, der Heiligen Schrift. Ähnlich Johannes Umlauf: „Ist sie [die Schrift] also nur ein Zeugnis seines Wortes, so ist sie nicht Gottes Wort selbst… Darum soll man die Seligkeit dem inneren lebendigen Wort Gottes… allein zuschreiben und gar nicht an das äußere Wort oder Schrift binden…“ Das Eigentliche sei das direkte Wirken des Geistes im Inneren; das äußere, hörbare, verkündigte Wort ist nur Zeichen, Hinweis, ja noch nicht einmal Wort Gottes im eigentliche Sinne. Noch einmal Hans Denck:

„Die heilige Schrift halte ich über alle menschlichen Schätze, aber nicht so hoch wie das Wort Gottes, das da lebendig, kräftig und ewig ist, welches aller Elemente dieser Welt ledig und frei ist… Darum ist auch die Seligkeit nicht an die Schrift gebunden, wie nützlich und gut sie auch sein mag. Das liegt daran: es ist der Schrift nicht möglich, ein böses Herz zu verbessern… So kann ein Mensch, der von Gott erwählt ist, ohne Predigt und Schrift selig werden.“

Diese „Spiritualisten“ rissen Schrift und Geist auseinander. Der Geist wirkt neben der Schrift. Sein Wirken ist das Eigentliche neben dem das Reden des schriftlichen Wortes verblasst. Alle Reformatoren widersprachen diesem Denken massiv. Sicher kann der Buchstabe als solcher nicht das Herz verändern. Aber der Hl. Geist benutzt den Buchstaben, er nutzt das „gelehrte Schriftstudium“, um dadurch zu wirken. Im Jahr 1539 meinte Luther zu Psalm 119: „Gott will dir seinen Geist nur durch dies äußerliche Wort geben“. Und dies äußerliche Wort ist zuerst ein Buch, das gelesen, studiert und dessen Botschaft dann verkündigt sein will. Ähnlich wie Luther meinte auch J. Calvin: „Wir müssen das Lesen und Erforschen der Schrift mit Eifer betreiben, wenn wir vom Geiste Gottes Nutzen und Frucht empfangen möchten…“ (Inst. I,9,1).

Die reformatorische Lehre zum Verhältnis von Schrift und Geist formulierte Luther in den Schmalkaldischen Artikel von 1537: „es ist fest dabei zu bleiben, dass Gott niemandem seinen Geist und Gnade gibt außer durch oder mit dem vorhergehenden äußerlichen Wort, damit wir uns bewahren vor den Enthusiasten, das ist Geistern, die sich rühmen, den Geist ohne und vor dem Wort zu haben“. Luther formulierte hier scharf, denn es geht um den Kern des evangelischen Glaubens. Es ist der Teufel, so der Reformator, der schon die ersten Menschen vom äußeren Wort wegführte, sie auf „Eigendünkel“ achten, ins Innere blicken und sich davon lenken lassen ließ. Schon in seiner Schrift Wider die himmlischen Propheten (1525) befasst sich der Reformator ausführlich mit diesen Fragen und hielt darin fest:

„So nun Gott sein heiliges Evangelium hat hinausgehen lassen, handelt er mit uns auf zweierlei Weise. Einmal äußerlich, das andere Mal innerlich. Äußerlich handelt er mit uns durch das mündliche Wort des Evangeliums und durch leibliche Zeichen, als da sind Taufe und Sakramente. Innerlich handelt er mit uns durch den Heiligen Geist und Glauben samt anderen Gaben. Aber das alles dermaßen und in der Ordnung, daß die äußerlichen Stücke vorangehen sollen und müssen und die innerlichen hernach durch die äußerlichen kommen; so hat er es beschlossen keinem Menschen die innerlichen Stücke zu geben ohne durch die äußerlichen Stücke. Denn er will niemand den Geist noch Glauben geben ohne das äußerliche Wort und Zeichen, das er dazu eingesetzt hat.“

Unser einziger Weinberg

Luthers Botschaft für uns heute ist eindeutig: Herzstück allen pastoralen Dienstes ist die Arbeit am Buch, denn Prediger sind im wesentlichen Vermittler des uns in einem Buch vermittelten Wortes Gottes. Im Sendschreiben an den christlichen Adel nannte er dies „unseren einzigen Weinberg“. Daher wurde in den damaligen Gemeinden so gut wie nur gepredigt. Luther war Theologieprofessor, predigte aber, wie wir schon sagten, oft zweimal am Sonntag und einmal in der Woche. Im Schnitt etwa alle zweieinhalb Tage hielt er eine Predigt.

Wir müssen heute das 16. und 17. Jahrhundert nicht kopieren. Schließlich haben sich die Umstände geändert, die Möglichkeiten der Wortverkündigung erweitert (uns stehen z.B. noch viel mehr Medien zur Verfügung als damals). Dennoch bleibt die Herausforderung, und immer noch muß sich jede Kirche, Gemeinde und christliche Gruppe selbstkritisch fragen: Wird das Erforschen der Schrift an den Rand gedrängt, verkommt es zur Nebensache? Geraten andere Dinge ins Zentrum? Welchen Platz nimmt das Studium der Bibel wirklich ein? Das Wort Gottes spricht für sich selbst und manchmal ganz von selbst aus, es besitzt eine natürliche Klarheit, die sich oft genug dem Leser und Hörer geradezu aufdrängt. Doch dies ist nicht die ganze Wahrheit. Häufig müssen wir mit den Worten der Bibel ringen und sie schlagen, um ihr die richtige Bedeutung abzuringen. Sie wir zu solch mühevoller Arbeit bereit?

Dies sind keine Fragen des Geschmacks, der Vorlieben oder bloß die einer gewissen Tradition. Es geht hier um das Heil, denn durchs Erforschen der Schrift öffnet sich die „Pforte des Paradieses“.