Die Reste eines großen Erbes
Vor sechs Jahren hielt Holger auf der LINK-Tagung in Bern einen Vortrag über Litauen. Daraus hier ein leicht überarbeiteter Auszug:
Zwischen der Christianisierung um 1400 und dem Beginn der Reformation lagen in Litauen nur gut 100 Jahre. Ab ca. 1525 breitete sich der evangelische Glaube im Land aus. Der König Polen-Litauens, Sigismund d. Ä., versuchte jedoch die Reformation durch Verbote im Keim zu ersticken. Wichtige Führer der Evangelischen mußten ins benachbarte evangelische Preußen fliehen. Dort wurde die Universität in Königsberg 1544 zu einem Zentrum der evangelischen Litauer.
Unter der Herrschaft von Sigismund August (ab 1544/48) ließen die Verfolgungen nach und erste Gemeinde konnten sich um die Mitte des Jahrhunderts bilden. Der junge Fürst sympathisierte mit den Protestanten, an seinem Hof wirkten lutherische Prediger, doch er trat leider nie ganz auf die Seite der Reformation über. Viele Adelige nahmen aber den evangelischen Glauben an. Die Gutsbesitzer ermöglichten Gottesdienste in litauischer Sprache auf ihren Ländereien. Zwar wurden die Evangelischen nicht völlig gleichberechtigt, doch 1563 wurde den Adeligen Glaubensfreiheit garantiert. Um 1600 gab es ca. 200 protestantische Gemeinden (überwiegend reformiert) im Großfürstentum Litauen. Das Land war fast zur Hälfte evangelisch!
Die Nachfolger des toleranten Sigismund August wie Stephan Bartory und Sigismund Wasa (reg. 1587–1632) förderten die katholische Kirche wieder stark. Ab 1610 gerieten die Evangelischen endgültig in die Defensive. Viele Adelige wechselten zurück zur katholischen Kirche. Auch zeigte das Wirken des katholischen Ordens der Jesuiten, der Speerspitze der „Gegenreformation“, Spuren. Seit 1569 im Land breiteten sie ihr Netz von Schulen stetig aus (1579 Gründung der Vilniuser Universität) und übernahmen auch im Buchdruck die Initiative. Trotz der starken Betonung von Bildung und Gelehrsamkeit durch die Evangelischen konnten diese widerum keine protestantische Universität gründen.
Die Betätigung der Protestanten wurde immer weiter eingeschränkt. 1668 wurde jeglicher Übertritt zu den evangelischen Kirchen untersagt. Die katholische Kirche konnte viele Kirchengebäude zurückgewinnen – Polen-Litauen wurde mehr und mehr zu einem völlig katholischen Staat, ja sogar der Maria geweiht. 1717 wurden die Bürger- und Bekenntnisrechte der Protestanten weiter massiv beschnitten.
Heute bilden die Evangelischen eine Minderheit von einem guten Prozent (ca. 18.000 Lutheraner, 6000 Reformierte, größte ‘Freikirche’ ist die charismatische „Wort des Glaubens“-Kirche, ca. 2500 Mitglieder in 35 Gemeinden). Demgegenüber betrachten sich knapp 80% der Litauer als Katholiken. Von ihnen geht aber nur jeder siebte regelmäßig zur Messe.
Diese Dominanz der katholischen Kirche ist in mehrerer Hinsicht problematisch. So halten sich über 90% der Einwohner für „gläubig“, da ja nach katholischem Verständnis jeder Getaufte sowieso gläubig ist. Es ist schwierig zu verdeutlichen, dass Zugehörigkeit zu einer religiösen Tradition und kirchliche Riten nicht retten.
Außerdem wurden im katholischen System nicht wenige unbiblische Lehren verankert, so dass man von einer ernsten Verzerrung des Evangeliums sprechen muss. In der Mehrheitssituation wird dies dann nur zu deutlich. In diesem Jahr [2008] wird z.B. in Litauen das Jubiläum der Marienerscheinung von Šiluva im Jahr 1608 groß begangen (die älteste off. anerkannte Erscheinung in Europa; die weltweit einzige, bei der Maria auch Protestanten – nämlich einem reformierten Pfarrer – erschienen sein soll). In einem katholischen Land wird hier jede Zurückhaltung aufgegeben; und natürlich wird die ev.-reformierte Geschichte des Ortes komplett unterschlagen bzw. negativ dargestellt.
In Medien und Öffentlichkeit hat die katholische Kirche eine Art Monopolstellung – und sie selbst ändert daran natürlich nichts. Kardinal Bačkis vertritt die Kirche, ist die Stimme der Christen; TV-Übertragungen sind natürlich aus der Kirche. Viele Evangelische, über Jahrunderte klein und still gehalten, haben sich dem angepaßt und vertreten deutlich hörbar keine evangelischen Positionen mit Profil. Viele denken etwa so: „Wir sind ja eh so wenige, auf uns hört doch eh keiner. Man muß sich mit der katholischen Kirche arrangieren. Ärgern darf man sie schon gar nicht.“
Für die Studentenarbeit sehr relevant ist der kultureller Sog, der von der katholischen Kirche ausgeht. Es ist eben das ganz Natürliche für einen Litauer, Katholik zu sein bzw. zu bleiben oder wieder zu werden („Plausibilitätsstrukturen“ nennen Soziologen wie Peter L. Berger dies). Ist der Freund bzw. Ehepartner katholisch, werden die Kinder dann eben auch katholisch getauft; man versucht gewisse evangelische Überzeugungen beizubehalten, kehrt oftmals aber faktisch wieder in den Schoß der Mehrheitskirche zurück.
Problematisch ist schließlich ein weiterer wichtiger Aspekt. Litauen hat ein protestantisches Erbe, doch das so wichtige erwecklich-pietistische Element ist vor rund 50 Jahren gleichsam ausgestorben. In „Groß-Litauen“, dem zum Zarenreich gehörenden Teil des ethnischen Litauens, gab es keine Erweckungsbewegungen. Ganz anders sah dies in „Klein-Litauen“ aus – im mehrheitlich von Litauern bewohnten Teil Ostpreußens (ein ausführlicher Überblick zur Geschichte der litauischsprachigen ev. Kirche dort von A. Juška hier). Unter den „preußischen“ Litauern war die Gemeinschaftsbewegung zwischen 1850–1900 sehr stark (auch viele Chrischona-Gemeinschaften gab es in der Gegend; Bild o. das ehemalige Chrischona-Gebäude in Klaipeda/Memel im Jahr 2010; heute [2014] ist es ein schick renoviertes Krankenhaus). Über 40% der evangelischen Litauer hielten sich zu den „Versammlungen“, bei denen Laienprediger die Bibel auslegten. Auch im Memelland, das 1923 zu Litauen kam, war so der Pietismus fest verankert. Doch mit dem II Weltkrieg brach diese Traditionslinie ab – fast alle evangelischen Memelländer sind nach Deutschland ausgereist (die letzte Welle in den 60er Jahren). Bis auf einzelne Familien (und den einen oder anderen Pfarrer) ist das pietistische Erbe im Land nicht mehr vorhanden. Heute will der junge Bischof Sabutis an dieser Tradition anknüpfen, aber die Linie gibt es eben nicht mehr – es muß neu mit dem Stift angesetzt werden.
Dieses heute evangelikal genannte Erbe fehlt Litauen. Es gibt viel zu wenig Christen, die tief in der Bibel verwurzelt, mit ihr aufgewachsen sind; die gute Traditionen wie die Sonntagsheiligung praktizieren; die ethische Prinzipien der Bibel aus- und vorleben. Die Versammlungsleute waren damals auch in sozialer Hinsicht Salz und Licht: Alkoholismus war in Nordostpreußen kein Problem – ganz anders im benachbarten Groß-Litauen.
Oft wird die Bedeutung eines tiefen evangelischen Erbes in einem Land unterschätzt. Dies geschieht gerade dann oft, wenn man dies Erbe für selbstverständlich hält. Gründliche Bibelkenntnisse, die Weitergabe von geistlichen und theologischen Wahrheiten von Generation zu Generation, die Herausbildung und Bewahrung von guten evangelischen Traditionen ist ein Schatz. Die Studentenbewegungen in England, Deutschland, der Schweiz profitieren nicht zuletzt von diesem Erbe. Und in Ländern wie Litauen gibt es daher zu wenig missionarisch aktive Studenten aus evangelikalen Familien und Gemeinden.