„Hurra, die Schule brennt“?
Vor neunzig Jahren, 1923, war noch jeder dritte Einwohner Litauens Analphabet. In der Bildung hing das Land hinter Ländern wie Deutschland, Tschechien, aber auch den baltischen Nachbarn deutlich zurück. In den kommenden knapp zwanzig Jahren der Unabhängigkeit wurden in der Volksbildung gewaltige Anstrengungen unternommen. 1930 besuchte schon mehr als die Hälfte aller 5-14-Jährigen die Schule. In der Sowjetunion wurde das Netz der Bildungsanstalten noch dichter. Und heute erreichen litauische Schüler in den PISA-Statistiken der Lese-, Mathematik- und Naturwissenschaftskompetenz ähnliche Werte wie Österreicher und Deutsche.
Die heutige Schul- und Hochschullandschaft ist in ihrem Grundbestand ein Erbe der Sowjetzeit. Bis heute beginnt für alle – vom Kindergarten bis zur Uni – das Schul- und Studienjahr am 1. September, der feierlich begangen wird. Mit der ersten bzw. zweiten Juniwoche gehen die Sommerferien los. Diese sind etwa doppelt so lang wie in Deutschland! (Zur Freude aller Schüler und Lehrer, zum Leidwesen der Eltern – was macht man mit dem Nachwuchs in den drei Monaten?) Die Einschulung erfolgt mit sechs oder sieben Jahren. Bis zum sechzehnten Lebensjahr, also bis zur 10. Klasse, ist der Schulbesuch verbindlich. Auf die Grundschule (1. bis 4. Klasse) folgt das „Progymnasium“ – eine Art Gesamtschule, die von so gut wie allen Kindern besucht wird. Anders als in Deutschland teilen sich erst ab der 9. Klasse die Wege der Schüler. Die meisten wechseln dann aufs Gymnasium, das bis zur 12. Klasse führt. Manche bleiben dort nur zwei Jahre und gehen anschließend auf eine Berufsschule. Weit mehr als die Hälfte eines Jahrgangs erwirbt die Hochschulreife – im europäischen Vergleich ein hoher Wert.
Meist ist Englisch die erste Fremdsprache und wird oft schon ab der zweiten Klasse unterrichtet. Ab der sechsten Klasse tritt eine zweite Sprache hinzu. Hier dominiert wieder das Russische; Deutsch und vor allem Französisch müssen um ihren Weiterbestand an den Schulen ringen. Latein ist Exotenfach an einigen wenigen Gymnasien. Populärer sind da schon Norwegisch und Spanisch. Litauisch ist bis zum Abitur Pflicht, und auch eine obligatorische Abschlussprüfung in Mathe wird wohl 2014 wieder eingeführt. Leider ist das Abitur ganz auf die Prüfungen am Ende konzentriert. Wer da einen miesen Tag erwischt, verbaut sich womöglich seine Zukunft, denn staatlich finanzierte Studienplätze werden nach dem Notenschnitt vergeben. Das Notensystem beginnt übrigens mit „O“ (entspricht der Sechs im deutschen) und geht bis „10“ (der Eins), im Abitur dann von „100 Prozent“ abwärts.
Isabelle, unsere Älteste, hat als erste die acht Klassen an der Vincas-Kudirka-Schule (benannt nach dem Dichter der Nationalhymne) in unserer Nachbarschaft hinter sich gebracht. Am 7. Juni gab es eine feierliche Entlassung (s. Foto o.). Sie hatte bisher nur zwei Klassenlehrerinnen, war mit vielen Mitschülern all die Jahre zusammen. Mit ihrem Notenschnitt landete sie im oberen Drittel – und das mit Dreien und Vieren in den Kernfächern. Dies zeigt schon, dass die Anforderungen allgemein hoch sind, da alle zum Gymnasium hingeführt werden sollen. So hatte unser Benjamin, an sich fit im Englischen, in einem langen Test einmal etwa ein Dutzend Fehler, und wupp – gleich eine Vier. So wundert es nicht, dass das Leistungsspektrum in einer Klasse mitunter sehr breit ist. In Isabelles Klasse musste die Litauischlehrerin einen Spagat aushalten, nämlich Schülern, die in Deutschland Gymnasium und Hauptschule besuchen würden, gerecht werden.
In Litauen droht keine „Rechtschreipkaterstrofe“ („Der Spiegel“ auf seinem Titel, 25/2013), doch die Leistungen sind auch teuer erkauft. Die Lebenszufriedenheit der Kinder in Litauen ist eher niedrig wie eine weltweite Umfrage der UNICEF unter 11- bis 15-Jährigen 2013 ergab. Unter den 29 Industriestaaten kommt Litauen hier nur auf den drittletzten Platz 27. Das Schulsystem hat sicher seinen Anteil daran. Natürlich kommt keine Schule ohne Disziplin aus, doch warum sollte Lernen nicht auch mal Freude bereiten? Das Notenberechnen auf zwei Stellen hinterm Komma lässt oft jeden Rest von Spaß verfliegen.
Wer nicht aufs Hochschulstudium zusteuert, wird’s zu wenig bringen – so meinen viele. Denn die Berufsausbildung an einer „profkė“ (Volksmund für „profesinė mokykla“, Berufsschule) hat einen mäßigen Ruf. Da gehen eben die hin, die es auf eine bessere (Hoch-)Schule nicht schaffen. Das Absurde: nun drängen Hochschulabsolventen in die Berufsschulen, um dort endlich mal einen praktischen Beruf zu lernen, mit dem man dann auch sein Brot verdienen kann. Warum nicht gleich so? Es geht leider nicht nur um die Förderung der persönlichen Gaben und Interessen, sondern auch um Prestige…
In seltsamer Weise mischen sich im Bildungssystem Reste der alten Sowjetideologie und ‘kapitalistischer’ Geist. Beliebt in der Presse sind Rangordnungen der Gymnasien: Wer bringt die meisten Studenten hervor? Die Schülerzahlen gehen überall zurück (deutlich weniger Kinder als noch vor 20 Jahren), so dass die Schulen im Wettbewerb um den Nachwuchs ringen. Prestigeschulen feilen an ihrem Ansehen, anderen droht die Schließung.
Die Schulen verpflichten sich zur Stärkung von Demokratie, Zivilgesellschaft und Toleranz, bleiben aber in Teilen immer noch ideologisiert vom alten Geist: die Ehrentafeln mit den besten und verdienstvollsten Schülern gibt es immer noch; Lehrer arbeiten vorzugsweise mit Zwang und Drill – selbst Schülern höherer Klassen wird vorgeschrieben, welchem Lehrer sie welche Blumen zu schenken haben und welches Loblieb auf die Schule angestimmt werden soll. Eigeninitiative – wie soll sie da wachsen? „Hurra, die Schule brennt“ (so der Film von 1969 mit Peter Alexander, 1980 dann das Lied von Extrabreit) – so denken doch Schüler! Die Vincas-Kudirka-Schüler müssen aber in der Schulhymne singen, sie „verleiht uns Flügel“, und einzig ihr sei es zu verdanken, dass man so viel gelernt hätte. Bitte etwas bescheidener.
Und dann ist da noch die mangelnde Transparenz: In alter kommunistischer Manier wird in irgendwelchen Hinterzimmern von irgendwem da oben in der Schule beschlossen: nun gibt’s Schuluniformen. Der demokratische Dialog wird als Schauveranstaltung später nachgeholt. Nein, nein, gezwungen wird heutzutage niemand mehr, aber wehe, jemand tanzt aus der Reihe. Im Herbst wird mit Ludvic nun auch unser viertes Kind dem litauischen Schulsystem übergeben. („Homeschooling“, Hausunterricht, ist nicht erlaubt.) Es ist ein System im Übergang, und unter den zu oft wechselnden Richtlinien des Ministeriums in Vilnius leiden auch die Lehrer. Die meisten sind in der Sowjetunion sozialisiert und sollen nun ein ganz anderes Wertesystem vermitteln. Der Druck auf sie ist hoch, die Angst unter den Kollegen nicht weniger. Schließlich sind sie nicht verbeamtet wie viele Kollegen in Deutschland und müssen oft um ihren Job fürchten.
Das Schulsystem raubt so manchen Nerv, aber es gibt natürlich auch Lichtblicke. Mit den Klassenlehrerinnen in der Grundschule von Benjamin und Isabelle verstanden wir uns hervorragend (bei Letzterer wird nun auch Ludvic eingeschult). Viel hängt eben auch von jeder einzelnen Lehrerpersönlichkeiten ab. So gab Leonida nach dem Unterricht Isabelle Nachhilfe in Mathe – von sich aus, ohne Bezahlung, einfach so.
Wie wohl alle Eltern ärgern wir uns manchmal über Faulheit, Nachlässigkeit und Vergesslichkeit der Kinder. Und wir freuen uns mit ihnen über kleine und große Erfolge. Wir haben keine großen Ambitionen und erwarten von ihnen nicht zu viel. Und vor allem sind wir überzeugt: Schule ist wichtig, aber wahrlich nicht das wichtigste. Viel wird außerhalb von ihr gelernt, viel können und sollen Eltern ihren Kindern beibringen. Man sollte sich nicht ernsthaft wünschen, dass Schulen abbrennen. Aber ab und an hilft so ein Gedanke: Wäre damit wirklich alles verloren?