Vor 222 Jahren: „… noch ein Volk in Europa“
Es wäre eine 500.000 Euro-Frage für „Wer wird Millionär?“: In welchem Land trat am 3. Mai 1791 die erste moderne Verfassung Europas in Kraft? In Frankreich, England, Schweden oder Polen? Man glaubt es kaum, aber tatsächlich galt in Polen-Litauen vor 222 Jahren eine vom Parlament verabschiedete Verfassung, als die Monarchen in Deutschland und anderen Ländern noch allein den Ton angaben. Nur die Verfassung der USA, verabschiedet 1787, ist ein paar Jahre älter.
Polen-Litauen, seit der Union von Lublin 1569 ein fester Staatenbund, stand Ende des 18. Jahrhunderts unter Reformzwang. Die Großmächte Preußen, Österreich und Russland hatten sich 1772 schon Teile des Landes unter den Nagel gerissen. Besonders groß war die Bedrohung aus dem Osten – und das schon seit einigen Jahrhunderten. Ein moderner Umbau des Staates sollte neue, feste Fundamente liefern.
König Stanislaus II. August setzte im Herbst 1789 eine Reformkommission ein. Im selben Jahr war auch die Französische Revolution ausgebrochen, die bekanntlich blutiger verlief. Aber das Gedankengut der Aufklärung prägte sicher auch die Entwicklung in Polen. So übernahm man das Prinzip der Volkssouveränität, das auf Jean-Jacques Rousseau zurück geht. Der Sejm wurde zur Verkörperung der „Allgewalt der Nation“ erklärt. Von Montesquieu stammte das Prinzip der Gewaltenteilung (Judikative, Exekutive und Legislative). Vor allem erhielt das wohlhabende Bürgertum neben dem Adel erstmals ein politisches Mitspracherecht, was den Bauern allerdings noch verwehrt blieb. Immerhin profitierten diese von der Rechtsgleichheit, die bislang nur für den Adel und Geistliche galt. Der Einfluss des Königs im Rahmen dieser konstitutionellen Monarchie war beschränkt. Die Regierung wurde nun dem Parlament gegenüber verantwortlich. Dort, im Sejm, sollte fortan das Mehrheitsprinzip gelten. In gewisser Weise wurde die Krone aber auch gestärkt: Man rückte vom traditionellen Wahlkönigtum ab (was dem Adel die entscheidende Macht gegeben hatte) und führte die erbliche Monarchie unter den herrschenden Wettinern ein.
Der „heilige römisch-katholische Glaube“ wurde zur „Nationalreligion“ erklärt – was heute zusammenzucken lässt, ist nur ein Festschreibung der Politik, die schon im ganzen 18. Jahrhundert galt. Übertritte zu anderen Kirchen waren verboten. Neu war aber die gleichzeitige Garantie der Religionsfreiheit für andere Bekenntnisse: „ Da uns aber eben dieser heilige Glaube befiehlt, unsern Nächsten zu lieben; so sind wir deshalb schuldig, allen Leuten, von welchem Bekenntnisse sie immer auch sein mögen, Ruhe in ihrem Glauben und den Schutz der Regierung angedeihen zu lassen. Deshalb sichern wir hiermit… die Freiheit aller religiösen Gebräuche und Bekenntnisse in den polnischen Landen.“
Im Warschauer Königsschloss nahm der Sejm mit Vertretern aus ganz Polen und Litauen am 3. Mai die Verfassung an (s. Bild oben). Genau vier Monate später wurde in Frankreich die erste Revolutionsverfassung in Kraft gesetzt. Stolz schrieb der polnische Monarch nach Paris, dass es neben dem französischen „noch ein Volk in Europa“, d.h. noch ein Volk mit einer eigenen Verfassung gibt. Zu Ehren der Mai-Verfassung wurde der 3. Mai Polens Nationalfeiertag. In Litauen ist er ein nur wenig beachteter Gedenktag.
Für eine kurze Zeit bildete Polen-Litauen die politische Avantgarde in Europa. Doch es war schon zu spät. Die mächtigen Nachbarn sahen solch eine Verfassung natürlich als eine Bedrohung für ihre absolutistische Herrschaftsform an. Drei gegen einen – die Lage Polen-Litauens war hoffnungslos. 1793 wurde der Staat weiter aufgeteilt, und 1795 lößte sich „die Republik beider Völker“ zwischen Preußen, Russland und Österreich ganz auf. Und mit ihm auch die Hoffnung auf eine frühe Modernisierung in Zentraleuropa.