Der Fluch des Fusel

Der Fluch des Fusel

„Alkohol ist dein Sanitäter in der Not / Alkohol ist dein Fallschirm und dein Rettungsboot“, so Herbert Grönemeyer vor fast 30 Jahren in seinem Song „Alkohol“. Doch irgendwann geht der Fallschirm nicht mehr auf, oder man springt selbst aus dem vermeintlichen Rettungsboot. So geschehen Mitte April des Jahres, als ganz Litauen von einer Todesnachricht geschockt wurde: der wohl bekannteste Schauspieler des Landes, Showmaster und Komiker (!) Vytautas Šapranauskas hat seinem Leben mit gerade Mitte 50 ein Ende gesetzt. Erfolgreich, beliebt und immer zu Witzen und coolen Sprüchen aufgelegt, suchte der Schauspieler dennoch Halt in der Flasche, bekam wie einst Harald Juhnke in Deutschland Probleme mit seinen Auftritten, gerade im Fernsehen. Irgendwann ließ sich die Einsamkeit aber wohl nicht mehr wegtrinken, und der geschiedene Vater zweier Kinder (der in den letzten Jahren die Partnerinnen mehrfach wechselte) erhängte sich in seiner Vilniuser Wohnung. Geradezu prophetisch blickte er diesen Winter traurig von den Plakaten des Filmes „Valentinas vienas“ (Valentin allein, s. Foto); in dem litauischen Kinostreifen spielte Šapranauskas die Hauptrolle.

„Šapras“ teilte das Schicksal vieler Litauer. Etwa 60.000 abhängige Alkoholiker gibt es wohl im Land. Geschätzt wird, dass täglich um die 450.000 über den Durst trinken, also immerhin 15% der Bevölkerung. Jährlich werden 150 Todesfälle je 100.000 Einwohner gezählt, die auf Alkoholmissbrauch zurückzuführen sind. Dies ist etwa drei Mal mehr als in Deutschland. Und das, obwohl der jährliche Pro-Kopf Konsum mit knapp 12 Litern reinem Alkohol in beiden Ländern etwa gleich groß ist. Rauchen kann tödlich sein, heißt es auf Zigarettenpackungen. Fürs Trinken gilt dies in Litauen gewiss: eine Untersuchung im Bezirk Vilnius zeigte, dass 68% der Selbstmörder betrunken waren; dies gilt ebenso für 81% der Ertrunkenen, 88% der bei Bränden Umgekommenen, für 93% der Opfer von Vergiftungen und für 60% der Verkehrstoten. Genauere Statistiken zum Konsum gibt es eigentlich nur zum Verkauf legalen Alkohols, und die Zahlen beunruhigen: der Bierverbrauch nahm zwischen 2000 bis 2011 von 60 Litern pro Kopf und Jahr auf 93 Liter zu; der von Spirituosen von 6,6 Litern auf 12,6; und der von Wein stieg von 11 auf 20,6 Liter.

Wo wird nun am meisten gesoffen? Ist es auf dem Land, wo den oft arbeitslosen Männern nur der Fusel bleibt? Oder in den Städten, wo Reiche und Prominente wie Šapranauskas mit edlerem Gebräu die Stimmung aufhellen? Die Experten streiten. Klar ist, dass auch so manche Politiker Alkoholiker sind und z.B. bei Verkehrskontrollen auffallen. Jüngst musste Egidijus Vareikis von den Konservativen und bekannter katholischer Autor sogar von der Polizei in Verwahrung genommen werden. Nach drei Jahren Abstinenz hatte er einen Rückfall, schlug seine Frau, und bald standen die Beamten vor der Tür.

Die Politik weiß nicht so recht, wie zu reagieren ist. Handlungsbedarf besteht sicher, aber die Steuer ist kaum noch zu erhöhen, da dies auch nur den Schwarzmarkt ankurbeln würde. Die Werbung ist schon weitgehend eingeschränkt. Sinnvoll wäre es sicher, die Zahl der Verkaufsorte drastisch zu reduzieren, denn noch immer hat auch der kleinste Supermarkt eine breite Palette alkoholischer Getränke im Angebot.

Natürlich gibt es auch die ganz drastischen Antworten: Seit der großen Nüchternheitsbewegung unter Bischof Valančius im 19. Jhdt. gibt es nicht wenige Vereine, die die „blaivybė“, den totalen Alkoholverzicht propagieren; und auch in einigen christlichen Gemeinden ist für Mitglieder jeder Alkohol tabu. Letztlich muss sich aber im ganzen Land eine Tradition des gemäßigten und begrenzten Konsums wie z.B. Frankreich durchsetzen. Dieser kulturelle Wandel wird aber viele Jahrzehnte in Anspruch nehmen.

Übrigens können im Restaurant des litauischen Parlaments seit Juni wieder Wein und Bier bestellt werden – damit die ausländischen Besucher bei der litauische Ratspräsidentschaft der EU ab Juli nicht ‘auf dem Trockenen’ sitzen…