Rundgang durchs protestantische Vilnius

Rundgang durchs protestantische Vilnius

Vilnius ist eine Stadt der Kirchen und Klöster. In der Altstadt ist das historische Erbe kaum zu übersehen: dutzende römisch-katholische Gotteshäuser reihen sich neben orthodoxe, dazwischen hier und da auch noch eine Kirche der Unierten, der Papsttreuen mit östlichem, griechischem Ritus. Früher kamen noch Zig Synagogen hinzu, von denen nach dem letzten Weltkrieg nur noch ganz wenige erhalten sind.

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In der litauischen Stadt trafen schon im späten Mittelalter die verschiedenen Kulturen aufeinander – religiöse und nationale. Im 16. Jahrhundert kamen dann noch die Evangelischen hinzu. In Vilnius konnte schon 1555 eine lutherische Gemeinde gegründet werden. Sieht man einmal vom damals preußischen Memelland ab, in dem schon 1525 eine evangelische Landeskirche gegründet worden war, ist diese die wohl älteste protestantische Pfarrei auf heutigem litauischem Gebiet.

In ganz Litauen gehörten jahrhundertelang überwiegend Deutsche zu den lutherischen Gemeinden in den Städten. Auch in Vilnius wurde die Kirche im Viertel der deutschen Handwerker und Händler erbaut und steht heute wieder (nach Umbenennung in der Sowjetzeit) in der „Deutschen Straße“. Allerdings wurden die Evangelischen mit ihrem Bau im katholischen Land in den Hof verbannt. Durch ein recht niedriges Tor im Haus an der Straßenfront gelangt man in den Kirchhof.

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„Vokiečių gatvė“ (Deutsche Strasse) in Vilnius – Eingang zur lutherischen Kirche

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Seit 462 Jahren steht hier eine evangelische Kirche – das heutige Kirchenschiff aus dem 18., der Turm aus dem 19. Jhdt.

Das heutige Kirchengebäude wurde Mitte des 18. Jahrhunderts nach einem großen Brand in der Stadt errichtet, dem auch die bisherige lutherische Kirche zum Opfer gefallen war. Die geschwungenen Linien des Dachs weisen gleich auf den Stil des Barocks hin. Verantwortlich für den Neubau war damals Johann Christoph Glaubitz, ein aus Schlesien stammender Architekt, der selbst Lutheraner war. Glaubitz hinterließ zahlreiche Spuren in der Stadt, entwarf auch viele katholische Kirchen in Vilnius wie im ganzen Großfürstentum. Auch die Fassade des Universitätskirche (Hl. Johannes) stammt von Glaubitz, der vor 250 Jahren starb.

Das gesamte Kirchenschiff ist im Hof nicht zu sehen, da gleichsam eingeklemmt zwischen anderen Gebäuden. Ende des 19. Jahrhunderts wurde ein neugotischer Glockenturm neben die Kirche gesetzt. In ihm befindet sich seit dem vergangenen Jahr ein Glockenspiel.

Prachtstück des Innenraums ist der hohe barocke Altar: dargestellt sind die Geburtsszene Jesu, das letzte Abendmahl, der Gekreuzigte und an den Seiten die vier Evangelisten sowie Petrus und Paulus. Die große Kanzel ist ebenfalls mit Figuren und einem Relief verziert. Erst seit gut zwanzig Jahren erstrahlt das Innere der Kirche wieder im alten Glanz – in der Sowjetunion war sie zu einer Werkhalle und einem Sportsaal umfunktioniert und die Inneneinrichtung zerstört worden. Mit den Deutschen verschwand damals, vor über siebzig Jahren, auch die deutsche Prägung der Gemeinde, die nun erstmals in ihrer bald 500-jährigen Geschichte eine rein litauische ist.

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Konzert am 31. Oktober – Abschluss der Musiktour mit Liedern der Reformationszeit

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Postkarte von 1916

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Im September wurde im Hof direkt vor der Kirche eine mannshohe Bronzeskulptur Martin Luthers eingeweiht. Bildhauer Romualdas Kvintas gab dem Reformator eine Bibel in die Hand, was der Tradition der Denkmäler in Deutschland entspricht. Der Luther in Vilnius unterscheidet sich von den zahlreichen anderen aber durch das erhobene Kruzifix in der anderen Hand.

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Lutherdenkmal im Kirchhof

In der Altstadt steht ein weiteres Denkmal, das einen lutherischen Pfarrer zeigt: Direkt am Hauptgebäude der Vilniuser Universität gegenüber dem Präsidentenpalast steht eine Skulptur des Kristijonas Donelaitis oder Christian Donalitius (1714-1780). Der Litauer wurde unweit von Gumbinnen im damaligen „Preußisch-Litauen“ geboren und schuf das erste Werk weltlicher litauischer Literatur: Die Jahreszeiten (lit. Metai). Von 1743 bis zu seinem Tode 1780 wirkte Donelaitis als lutherischer Pfarrer in Tolmingkehmen, litauisch Tolminkiemis (nun russisch Tschistyje Prudy).

In den Jahren 1765–75 schrieb Donelaitis an den Jahreszeiten: vier einzelne Gedichte („Idyllen“) über die „Freuden des Frühlings“, die „Arbeiten des Sommer“, die „Früchte des Herbstes“ und die „Sorgen des Winters“, insgesamt knapp 3000 Verse. Das Poem hat das Landleben zum Gegenstand und spiegelt die Welt seiner Bauern (lit. „būrai“) wieder.

In der Sowjetunion hatte man dann keine Probleme, den Geistlichen für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Bei den Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag 1964 nannte man ihn einen  „mutigen Vorkämpfer für die litauischen Leibeigenen, gegen die deutschen Feudalherren.“ So kam es auch zur Errichtung eines Denkmal des lutherischen Pfarrers in der atheistischen UdSSR.

Bei der Einweihung des Neugusses in Bronze im Donelaitis-Jahr 2014 war kein evangelischer Geistlicher zugegen und nicht geladen – der Dichter wird eben immer noch primär als nationaler Kulturheld gesehen und nicht als evangelischer Christ.

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Kristijonas Donelaitis an der Universität Vilnius

Für sich vereinnahmen oder zerstören –  das waren die Optionen der sowjetischen Herrschaft. Beim evangelischen Friedhof auf dem „Tauro kalnas“ (etwa: Ochsenhügel) wurde radikal zerstört. Anfang des 19. Jahrhunderts richteten die Lutheraner eine Grabanlage auf dem Hügel, einige Hundert Meter westlich der Altstadt, ein. Einige Jahrzehnte später kamen die Reformierten hinzu. Eine große Friedhofskapelle und zahlreiche Mausoleen der wohlhabenden Familien wurden errichtet.

1958 wurde die Schließung des Friedhofs beschlossen, Anfang der 70er beseitigte man die restlichen Grabsteine und riss die Kapelle ab. An ihrer Stelle wurde der „Hochzeitspalast“ (Santuokų rūmai) der Stadt gebaut. Um den katholischen Kirchen als Ort der Eheschließung etwas entgegenzusetzen, wurden die Standesämter in der litauischen Sowjetrepublik prächtig ausgestattet, gerieten gleichsam zu sakralen Räumen. Am Nordrand des Friedhofs baute man eine typischen Sowjetklotz: den Kulturpalast der Gewerkschaften. An dem Ort mit herrlicher Aussicht über die Stadt steht heute nach einem Brand vor Jahren eine Ruine, die auf ihren Investor wartet.

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Alte Farbpostkaste der evangelischen Friedhofskapelle

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Abriss der Kapelle 1973

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Das einzige erhaltene Mausoleum des Friedhofs

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„Hochzeitspalast“ (Santuokų rūmai)

Die Lutheraner als Kirche der Deutschen fanden früh eine Art Nische in der Stadt; die evangelischen-reformierten Christen dagegen mussten lange auf Wanderschaft gehen. Eine erste Kirche stand wohl auf dem Gutshof des Fürsten Nikolaus Radziwill des Schwarzen vor den Toren der Stadt (im heutigen Vingis-Park). Zweiter Standort ab den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts war das Anwesen des Cousins des Fürsten, Nikolaus Radziwill des Roten, der ebenfalls Anhänger der Reformation war. Heute steht dort, mitten in der Altstadt, das Ministerium für Bildung und Wissenschaft.

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Hier in der Volanas-Strasse stand einst Ende des 16. Jhdts. eine der ersten reformierten Kirche auf Stadtgebiet; im Gebäude aus dem 19. Jhdt. sitzt heute ein Ministerium

Im Zuge der Gegenreformation kam es zu zahlreichen religiösen Konflikten in der Stadt (1569 kamen die Jesuiten nach Litauen, 1608 wurde die Ordensprovinz gegründet). Die Reformierten wurden mehrfach vertrieben bis sie schließlich im 17. Jahrhundert vor der Stadtmauer landeten, in der heutigen Pylimo-Straße. 1835 wurde an dieser Stelle ein Neubau im damals modischen klassizistischen Stil errichtet. Äußerlich ähnelt die Kirche damit der Kathedrale am Fuße des Gediminas-Hügels, die in der Zeit ebenfalls ein klassizistisches Gewand erhielt. Wie auf der Kathedrale standen auch auf der reformierten Kirchen drei Figuren: zwei Engel und eine Personifikation des Evangeliums (bei den Katholiken sind es drei Heilige).

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Nach Unruhen wurden die Reformierten 1640 vor die Stadtmauern verbannt; an dem Ort steht bis heute die Kirche, nun ein Bau aus dem Jahr 1835

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In den 90er Jahren wurde aus dem Kinosaal der Sowjetzeit wieder eine Kirche

In der Sowjetzeit diente das Gebäude als Kinosaal. Das Äußere der Kirche soll nun endlich in den kommenden Jahren wieder authentisch rekonstruiert werden. Umstritten ist noch, in welcher Sprache auf dem Sims „Allein Gott die Ehre“ geschrieben werden soll: lateinisch (Soli Deo gloria), litauisch oder polnisch – schließlich war die Gemeinde über Jahrhundert polnischsprachig.

Im Innenraum der Kirche geschah die schon vor rund zwanzig Jahren. Er unterscheidet sich von den katholischen und lutherischen Kirchen durch seine Schlichtheit. An der Hauptfront befindet sich kein Altar, sondern nur ein Kreuz. Wie bei den Reformierten üblich ist die Kanzel das prächtigste Objekt im Raum. Sehenswert ist außerdem die hölzerne Kassettendecke – typisch eher für Bauten der Renaissance und des Barocks.

Im 19. Jahrhundert entstand ein ganzer reformierter Gebäudekomplex um die Kirche herum. Direkt neben der Kirche ist das große Gebäude, das einst die Kirchenleitung beherbergte, in Teilen wieder in Besitz der Kirche. Im Erdgeschoss befinden sich nun das „Gute Nachricht-Zentrum“ (Gerosios Naujienos centras, GNC), eine Art ERF Litauens, sowie ein kleiner Gemeindesaal sowie Büroräume der reformierten Kirche.

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Blick auf das ‘reformierte Viertel’: links die Kirche, im Vordergrund das Gebäude der Synode, rechts das des Kolegiums (Kirchenleitung); Aufnahme vom Beginn des 20. Jhdts.

Knapp einhundert Meter westlich der Kirche steht oder besser gesagt: stand das Gebäude der Synode der Kirche, in dem sich das Synodenarchiv und die Bibliothek der Kirche befanden. Natürlich war auch dieser Besitz der Kirche in der Sowjetunion nationalisiert worden. Heute ist das Gebäude nach Bränden weitgehend verfallen; die Kirche hat es an einen Investor verkauft, der auf dem attraktiven Grundstück einen neuen Bau errichten wird.

Zwischen Synodengebäude und Kirche liegt der „Reformierte Platz“ oder Park. Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert lag an dem Ort der reformierte Friedhof. In der Sowjetunion wurde auch dieser mit einigen Mausoleen zerstört. Im Zentrum errichtete man ein Denkmal für die sowjetischen Partisanen, das aber im unabhängigen Litauen beseitigt wurde. Die heute wenig attraktive Parkanlage mitten in der Stadt wird in den kommenden Jahren komplett umgestaltet werden.

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„Reformierter Park“ mit Blick auf die Kirche

Viel Evangelisches ist also in der litauischen Hauptstadt nicht zu finden. Dies liegt neben den Zerstörung in der Sowjetzeit natürlich auch am Sieg der Gegenreformation. Obwohl Johannes Calvin ihm Werke wie den Kommentar zur Apostelgeschichte widmete, ging der Großfürst von Litauen, Sigismund II August, eben doch nicht wie erhofft zur Reformation über. Und die Kinder von Nikolaus Radziwill des Schwarzen, zweiter Mann im Staat, wurde alle wieder katholisch. Einer der Söhne wurde sogar Kardinal. Im Anwesen der Familie, das er erbte, mitten in der Stadt, gleich neben des Johannes-Kirche, ließ er protestantische Bücher verbrennen. Der Gebäudekomplex wurde nach dem Kardinal „Kardinalija“ benannt. Die Sowjets rissen die Häuser fast alle ab und errichteten wenig attraktive Wohnhäuser.

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Reste der alten „Kardinalija“ in der Šv. Jono gatvė (links die sowjetischen Neubauten)

Nur ein Steinwurf vom einstigen Ort der Bücherverbrennung entfernt ist eine weitere Spur der Gegenreformation zu finden. Nicht zuletzt die Universitätsgründung durch die Jesuiten garantierte den Sieg der katholischen Seite im Ringen der Konfessionen im 17. Jahrhundert. In einem Nebeneingang der Johanneskirche, fast schon versteckt hinter zwei Türen, steht eine mannshohen Skulptur des Ordensgründer der Jesuiten, Ignatius von Loyola. In seiner linken Hand hält er ein aufgeschlagenes Buch. Mit einem Fuß steht er auf der Schulter einer liegenden männlichen Figur. Diese hat ihre Hand in einem zugeschlagenen Buch, die andere umgreift eine Schlange.

Eine ganz ähnliche Skulptur – sicher eine Art Vorlage – befindet sich an mehreren Orten in Rom wie z.B. in der Chiesa di Sant’ Ignazio di Loyola, der Kirche des Hl. Ignatius von Loyola, oder auch im Petersdom selbst. Das Buch in der Hand des Ignatius trägt dort eine Aufschrift: „ad maiorem Dei gloriam“ (zur größeren Ehre Gottes) – das persönliche Motto des Ordensgründer. Auf der anderen Seite wird der Titel bezeichnet: die Ordenssatzung der Jesuiten. Der liegende Mann personifiziert die Häresie und den Hauptgegner des Ordens – die Protestanten. Die Schlange steht natürlich für die teuflische Verführung, das geschlossene Buch wird die Irrlehren der Reformatoren repräsentieren. Von manchen wird der Mann mit Martin Luther identifiziert. Dies macht natürlich insofern Sinn, als „Lutheraner“ recht lange als Gattungsbegriff für alle Anhänger der protestantischen Lehre galt. Luther war in den Augen der Jesuiten der Erzhäretiker schlechthin.

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Jesuitengründer Ignatius von Loyola mit dem Fuß auf dem Irrlehrer (Martin Luther?) in der Hl. Johannes-Kirche