Ist Gnade ungerecht?

Ist Gnade ungerecht?

„Gnade ist unfair“

„Dass ein Unschuldiger für die Sünden anderer bestraft wird, ist tatsächlich ungerecht… aber genau das ist es ja, was ‘Gnade’ bedeutet! Gnade kann gar nicht anders als ungerecht sein, sonst wäre es keine Gnade. Denn man bekommt was man nicht verdient hat…“ So schreibt ein Verkündiger in der Veröffentlichung eines großen deutschen Missionswerkes.

Muss Gnade wirklich ungerecht sein? Gehört die Wider- oder Ungerechtigkeit etwa zum Wesen der Gnade? Es stimmt natürlich: Im Regelfall ist es ungerecht, wenn ein Unschuldiger bestraft wird. In unserer Erfahrungswelt wehren sich unschuldig Verurteilte allermeist dagegen. Solche Rechtsverstöße nennen wir dann Fehlurteile oder Willkürjustiz – und nicht Gnade. Soll dies etwa auch von Gott ausgesagt werden?

Verbrechen müssen tatsächlich gesühnt werden. Es ist aber nicht in seinem Wesen wider die Gerechtigkeit, wenn ein Unschuldiger freiwillig die Schuld anderer übernimmt (und Elemente dieser Schuldübernahme, wenn auch kaum im Strafrecht, gibt es in unseren Rechtssystemen). Hätte Gott einen Unschuldigen zur Schuldübernahme gezwungen, wäre dies kaum als gerecht zu bezeichnen.

Auf dem evangelikalen Portal www.jesus.de wird unter „Geheimnisse des Glaubens“ in mehreren Schritten Nichtgläubigen das Wesen des Christentums erläutert. Dort heißt es unter der Überschrift „Gott ist ungerecht – und das ist gut so“:

„Wenn Gott stattdessen unser reuiges Herz erhört, wenn er uns die Schuld vergibt (im Angesicht dessen, dem wir geschadet haben), dann handelt er im Grunde ungerecht – aber er handelt erlösend! Gott gleicht nicht die Schuld aus, sondern er schließt Frieden. Nur Vergebung kann den Teufelskreis aus Freiheit, Schuld und Gerechtigkeit aufbrechen. Deswegen schreibt Paulus: Die Menschen halten Gottes Gerechtigkeit für unlogisch. Gottes Gerechtigkeit ist nicht juristisch. Sie sorgt nicht für einen Ausgleich der Interessen, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Sie durchbricht die Spirale aus Gewalt und Gegengewalt. Sie schafft Frieden.“

Die Zusammenfassung des ganzen Abschnittes lautet dann so: „Gott sitzt zwischen den Stühlen: Will er gerecht sein, könnten wir nicht leben. Deshalb geht Gott nicht den Weg der Gerechtigkeit, sondern den Weg des Friedens.“ Der Friede siegt über die Gerechtigkeit.

Der Tenor dieses Textes ist eindeutig: Erlösung geschieht an der Gerechtigkeit vorbei („nicht der Weg der Gerechtigkeit“); Vergeltung, Strafe, Recht müssen zur Seite geschoben oder übergangen werden. Vergebung, Erlösung und Frieden werden in einen krassen Gegensatz zum Recht gestellt. Gottes Gerechtigkeit sei völlig anders, jenseits unserer Logik, „nicht juristisch“; Gott verhält sich „im Grunde“ nicht im Rahmen von rechtlichen Kategorien; das Vergeltungsprinzip wird verworfen.

All das ist nur insoweit richtig, dass Gott in allen Eigenschaften uns und unser Vorstellungsvermögen übersteigt (das ist auch die Wahrheit im ersten Zitat). Seine Liebe ist höher als alle menschliche Liebe, und seine Gerechtigkeit natürlich nicht mit unseren Kategorien gleichzusetzen.

Dass Gnade ungerecht sei, muss dann aber auch bedeuten, dass Gott selbst ungerecht ist, denn Gottes Eigenschaften und Taten spiegeln ihn selbst wider. Auch wenn „Gott ist ungerecht“ auf jesus.de geradezu jubelnd begrüßt wird, widerspricht dies allerdings zahlreichen eindeutigen Aussagen der Bibel. Gottes unwandelbare und vollkommene Gerechtigkeit wird in der Bibel vielfach bekräftigt, ein wirklich ungerechtes Handeln kategorisch ausgeschlossen (s. z.B. Gen 18,25; 2 Chr 19,7; Ps 37,28; 97,2; 119,137; 129,4; Apg 10,34; Röm 3,5–6; 1 Pt 1,17). Gerechtigkeit wird offensichtlich auch nicht in einem Gegensatz zu Gnade gesehen: „Der Herr ist gerecht in allen seinen Wegen und gnädig in allen seinen Werken.“ (Ps 145,17)

Schließlich sei hier noch Philip Yancey genannt, der vielgelesene Autor von Bestsellern wie What’s So Amazing About Grace? Er gilt nicht zuletzt wegen dieses Buches, das jüngst auch auf Litauisch erschien, als ein Experte in Sachen Gnade. Yancey schreibt auf seiner Internetseite: „Gnade ist unfair. Wir verdienen Gottes Zorn und bekommen Gottes Liebe, verdienen Bestrafung und erhalten Vergebung. Wir bekommen nicht, was wir verdienen…“

Dies ist natürlich alles ein Stück weit wahr, wobei allerdings der erste Satz als äußerst missverständlich, ja falsch zu bezeichnen ist. Yancey will natürlich sagen, dass Gottes Gnade unsere menschlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit sprengt. Das engl. „unfair/unfairness“ ist aber ein nicht unproblematischer Begriff, denn Unehrlichkeit, Verschlagenheit, Tugendlosigkeit schwingen deutlich mit. In vielen Sprachen muss man „Ungerechtigkeit“ oder Entsprechendes übersetzen.

Kannte Luther seinen Anwalt nicht?

Drei Zitate, die alle auf verschiedene Weise behaupten, dass Gottes Gnade ungerecht sei. Dabei heißt es doch in Ex 34,7: „ungestraft läßt er [Gott] niemanden“, und im gleichen Vers ist von der Bewahrung der Gnade die Rede! Die Bibel unterscheidet Gnade und Gerechtigkeit, beide sind natürlich nicht identische Eigenschaften Gottes. Aber es ist offensichtlich so, dass kein Widerspruch zwischen ihnen besteht: Gnade ist nicht wider die Gerechtigkeit. Wie ist dann aber zu erklären, dass an entscheidender Stelle im christlichen Lehrsystem in den Augen vieler nun die Ungerechtigkeit triumphiert? Wie kann das sein?

Wahrscheinlich muss man bis in die Reformationsepoche zurückgehen. Der Italiener Fausto Sozzini, der später in der Schweiz und in Polen lebte und den nach ihm und seinem Onkel Lelio benannten Sozinianismus prägte, gab schon im 16. Jahrhundert die Linie vor: Gott ist in seinem Wesenskern barmherzig – und nicht in gleichem Maße gerecht. Der sündige, d.h. unvollkommene Mensch ist schon mit Gott versöhnt – ganz abgesehen von Jesu Werk. Gottes Gerechtigkeit wird umgedeutet in die Treue zu seinen Zusagen (s.o. die Aussagen, Gottes Gnade sei „nicht juristisch“, nicht an Kategorien des Rechts orientiert). Der göttliche Richter verschwindet somit.

FaustusSocinus

Fausto Sozzini (1539–1604)

Sozzinis Einfluss auf die Theologie der Aufklärung und des Liberalismus kann kaum überschätzt werden. Es ist fraglich, ob wir ohne den Sozinianismus heute so über Gnade reden würden, wie es oftmals getan wird. Das Echo Sozzinis ist immer noch zu hören. (Ein Thema für sich wären die Spuren Sozzinis in „Worthaus“; genau wie schon der Italiener behauptet z.B. Siegfried Zimmer, der Mensch sei von Gott sterblich geschaffen worden, der Tod also keine Folge der Sünde.)

Man betrachte nur Christina Bruderecks Ausführungen in Reformation des Herzens zur Gnade. „Martin Luther hat um die Gnade gerungen“, so die bekannte Theologin und Autorin aus Essen. „Aber ich keine seine Frage nicht: ‘Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?’ Ich kenne seine Angst nicht: ‘Wird Gott mich ewig strafen, vernichten?’“ Sie kennt vielmehr die Frage: „Wie bekomme ich gnädige Geschwister? Gnädige Freunde? Gnädige Mitmenschen?“ Sie kennt die Frage nach der Gnade Gottes nicht, weil sie den Gott nicht kennt, der Sünde gewiss nicht unbestraft lässt.

Luthers Gott erscheint Brudereck daher „drohend. Finster. Brutal. Willkürlich. Grimmig. Als strenger Richter. Ein Herrscher mit Launen.“ Dagegen will sie vertrauen: „Gott liebt mich. Gott ist barmherzig. Gott ist die große, ewige Liebe, zu der ich aufschaue…“ Sie zitiert Luthers bekanntes Beichtgebet: „Allmächtiger Gott, barmherziger Vater! Ich armer, elender, sündiger Mensch bekenne dir alle meine Sünde und Missetat, die ich begangen mit Gedanken, Worten und Werken, womit ich dich erzürnt und deine Strafe zeitlich und ewiglich verdient habe. Sie sind mir aber alle herzlich leid…“

Ihr vielsagender Kommentar: „Auch bei Luther ist Gnade eine Beziehungskategorie. Aber seine Bilder ziehen mich in einer Gerichtsverhandlung. Es herrscht juristischer Jargon. Gott prozessiert gegen den Menschen. Erbringt den Schulderweis. Urteilt. Straft. Rechnet das Strafmaß aus. Droht. Begnadigt. Schickt den Geist als Bewährungshelfer. Die Bibel ist ein Gesetzbuch. Der Mensch gelobt Besserung. Ist passiv. Hat zu seiner Entschuldigung nichts vorzubringen. Auf einen Freispruch kann niemand hoffen. Auch seinen Anwalt scheint er nicht zu kennen.“

Brudereck polemisiert gerne gegen jedes „aber“. Hier hätte sie Luthers Worte auch einmal ohne Wenn und Aber stehen lassen können! Auch seinen Anwalt scheint er nicht zu kennen? Das ist zwar diplomatisch formuliert, aber dennoch eine Unverschämtheit – nun war Luther wahrlich nicht vollkommen, aber wer will ihm im Jahr der Reformation vorwerfen, er wäre nicht christozentrisch gewesen? „Juristischer Jargon“? Kann Brudereck mit der protestantischen Rechtfertigungslehre und ihren rechtlichen Kategorien irgendetwas anfangen?

Auch Coautor Jürgen Mette muss sich die Frage gefallen lassen: Ist das nicht Sozzini reloaded – und von reformatorischer Einsicht à la Luther keine Spur? Und warum hat Brudereck nicht den Mumm und sagt dem Leser wenigstens klar: Luther lag in den Kernfragen des Heils voll daneben? Hat Reformation des Herzens noch irgendetwas mit der Reformation des 16. Jahrhunderts zu tun?

Laut Brudereck ist die Gnade „das wichtigste Protest-Potential des Protestantismus“. Sie soll in dem Buch großgemacht werden, aber die Verwirrung zeigt sich an allzu vielen Stellen. „Sie [die Gnade] macht mir klar, dass ich endlich bin. Sie hilft mir, in meine Begrenztheit einzuwilligen.“ Tut die Gnade wirklich dies? Nein, kann man da nur sagen. Wir sind endlich und begrenzt geschaffen; dies war Teil von Gottes gutem Plan. Gnade hat damit nichts zu tun. Adam und Eva hatten vor dem Fall noch keine erlösende Gnade nötig. Gnade macht mir klar, dass ich gerettet bin, obwohl wir Menschen nun Sünder sind. Da die Rebellion des Menschen gegen Gott aber kaum noch Thema ist, hat sich die Gnade bei Brudereck und Co. gleichsam ein neues Arbeitsfeld gesucht. Nicht mehr: das Urteil des göttlichen Richters trifft dich nicht; nun heißt es: so wie du bist, bist du okay.

Der gnädige Gott oder die Gnade als Gott

Die Gnade verselbständigt sich heute geradezu. War es bisher der gnädige Gott oder der in Gnaden handelnde Gott, der rettet, so ist es nun die Gnade selbst, die erlöst – die Gnade wird zum Gott und gleichsam personalisiert. Gerade bei Brudereck ist dies häufig zu sehen. So definiert sie die gute Nachricht an dieser Stelle so: „Wo die Geisteskraft weht, ist Freiheit. Immer wieder zeigen uns einzelne Personen und Bewegungen, dass es anders geht. Dass die Liebe stärker ist. Dass die Freiheit mehr fasziniert. Dass Gnade gewinnt.“

Freiheit, Liebe, Gnade – natürlich hat all das mit dem Evangelium zu tun, aber sein personaler Kern wird nicht genannt. Eine Person der Trinität kommt in der Antwort vor, aber bezeichnenderweise nicht die Person Heiliger Geist, sondern die Geisteskraft; auch das Sühneopfer des Sohnes findet natürlich keine Erwähnung, auch nicht der Vater, der uns als seine Kinder annimmt; vielmehr die abstrakte Gnade als Quasi-Gott. Passend dazu kann Brudereck bekanntlich ja nichts mit Gott, dem Vater, anfangen und bevorzugt „Gott als Großmutter“.

Die personalisierte (theologisch gesprochen hypostatisierte) Gnade hat große Vorteile. Wenn die Gnade an sich rettet, die Gnade als Gott, dann kommt man leicht ohne die lästigen Kategorien des Rechts aus. Gericht, Strafe, Sünde – alles verflüchtigt sich, denn mit Gnade hat dies dann ja nichts mehr zu tun. Die Erlösung gestaltet sich somit recht einfach: Die Gnade legt sich als Soße über alles.

Das Problem ist jedoch ein simples: Die Gnade ist nicht Gott. Sie als abstraktes Prinzip oder als Kraft oder auch als Ding rettet nicht. Es rettet allein der gnädige und gerechte Gott. Schon Sozzini sah dies anders. Er meinte, Gott könne unmöglich gerecht im Sinn des strafenden Richters und barmherzig zugleich sein. Der Italiener hatte sich eben den einzigen Lösungsweg verbaut: die Dreieinigkeit.

Sozzini und so manch andere Italiener und Polen leugneten damals die klassische Lehre der Trinität wie sie z.B. im Nizänischen Bekenntnis formuliert wurde. Zuerst in Polen-Litauen, Siebenbürgen und Ungarn, später auch in anderen Ländern entstanden antitrinitarische Kirchen, heute meist „unitarisch“ genannt. Diese Art der Religion passte natürlich hervorragend zum Geist der Aufklärung, die die Trinität für nutzlos und der Vernunft widersprechend hielt. In der nachaufklärerischen Theologie wurde die Lehre vom dreieinen Gott dann an den Rand gedrängt und weitgehend marginalisiert – mit entsprechenden Folgen.

Denn die Spannung zwischen Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit bzw. Gnade ist ohne Dreieinigkeit nicht auszuhalten und nicht aufzulösen. Ohne Vater, Sohn und Geist als Gott keine Rettung, kein Evangelium, ja auch kein Christentum! Wenn also Gnade nicht fest in einen trinitarischen Kontext eingebettet ist, dann muss ein vermurkstes Ergebnis herauskommen.

„Gott will zu seinem Recht kommen“

Das Portal jesus.de wird vom Bundes-Verlag der Freien evangelischen Gemeinden getragen. FeG-Gründer Heinrich Hermann Grafe war Mitte des 19. Jahrhunderts aus der reformierten Kirche im heimatlichen Bergischen Land vor allem wegen mangelnder Kirchenzucht ausgetreten. Theologisch blieb er aber in vielerlei Hinsicht dem Erbe der Reformierten weiter verpflichtet, wie auch das erste Glaubensbekenntnis einer FeG zeigt.

Die auch in Deutschland bekannteste und beliebteste reformierte Bekenntnisschrift ist der Heidelberger Katechismus, den Grafe gewiss gut kannte. In den ersten 21 Fragen wird ein Fundament der gesamten Glaubenslehre gelegt; ab Frage 12 skizziert Hauptautor Zacharias Ursinus auch die Erlösungslehre in ihren Grundzügen. Letztlich geht es überall um das Verhältnis von Gnade und Gerechtigkeit und um die Lösung der Kernfrage: Wie kann Gott sündige Menschen begnadigen, ohne dass er dabei seine Gerechtigkeit verletzt? Wie können wir „Gottes Gnade erlangen“, wo wir doch aufgrund des „gerechten Urteils Gottes“ Strafe verdient haben? (Fr. 12)

Der ganze Katechismus ist wie auch das Apostolikum trinitarisch aufgebaut (s. Fr. 1 und 24), und im Abschnitt „Von des Menschen Erlösung“ (ab Fr. 12) wird uns die einzig denkbare Lösung präsentiert: „Gott will zu seinem Recht kommen“, weshalb jemand für die Schuld zahlen muss (Fr. 12). Wir können selbst für unsere Schuld nicht bezahlen (Fr. 13), nur der Gott-Mensch Jesus ist der einzige Mittler und Erlöser (Fr. 16–18). Gott, der gerechte Richter, gibt sich selbst für uns in seinem göttlichen Sohn; dieser ist uns „zur vollkommenen Erlösung und Gerechtigkeit geschenkt“ (Fr. 18).

Der Heidelberger skizziert, was andere reformatorische Väter vertieft haben. „Die Ungerechtigkeit ist Gott zuwider, und deshalb kann der Sünder in seinen Augen keine Gnade finden, sofern er Sünder ist und als solcher angesehen wird. Wo also Sünde ist, da tritt auch Gottes Zorn und Strafvergeltung hervor.“ So schreibt Johannes Calvin in seiner Institutio (III,11,2).

Also keine Chance auf Gnade für den Menschen? Gnade ist möglich, und zwar durch Christi Verdienst, sein Leben, Tod und Opfer für uns. „Zwischen Gottes Barmherzigkeit und Christi Verdienst“ besteht gar kein Gegensatz, so Calvin. „Der Mensch wird aus Gnaden gerecht durch Gottes reines Erbarmen“ und „Christi Verdienst tritt für uns ein“ (II,17,1). Beides gehört zusammen. „Christus hat durch seinen Gehorsam wirklich die Gnade bei dem Vater erworben und verdient“, er hat „durch seine Gerechtigkeit uns das Heil erworben…, er hat es uns verdient“ (II,17,3). „Wir haben durch Christi Sühneopfer Gerechtigkeit aus freier Gnade erlangt, so dass wir nun Gott wohlgefällig sind, die wir von Natur aus ‘Kinder des Zorns’ und durch die Sünde von ihm abgekommen sind“ (II,17,2).

Gnade wurde verdient? Ist das nicht ein kleinlicher, Erbsen zählender Gott, der in sich eben doch nicht völlig gnädig ist? Geschäftemacherei? Religion der Werke? So denken heute viele, und schon Sozzini lief gegen diese Lehre Sturm. Er verwarf das Sühneopfer Jesu und die Trinität, deutete die Gerechtigkeit Gottes um. Der Preis war jedoch ein hoher: Ohne eine Lösung des Problems der menschlichen Rebellion in Gott selbst – Christus ist ja auch Gott – und durch das Handeln der Personen der Dreieinigkeit bleibt nur eins: die Selbsterlösung des Menschen. So auch bei Sozzini, bei dem das Heil vom Glaubensgehorsam und der Nachfolge der Gläubigen abhängt. Ohne Trinität musste Sozzini zurückfallen ins Mantra aller falschen Religiosität: sei anständig und tugendsam und streng dich ordentlich an!

„Drei Personen – furchtbar!“

Sozzinis ging in seiner theologischen Methode von der praktischen Vernunft der Erfahrungswelt aus. Sie war eines seiner Fundamente. Daher bekam er natürlich Schwierigkeiten mit der Dreieinigkeit, die eine Offenbarungswahrheit ist und sich gerade nicht aus der Erfahrung ableiten lässt.

In den Spuren des Italieners und der Aufklärung sagen heute viele Christen, dass z.B. die Trinität unlogisch sei; oder eben, dass Gott ungerecht handelt. Man betrachtet Gott im Licht der menschlichen Erfahrungswelt und kommt deshalb zu solchen Fehlschlüssen.

Betrachten wir abschließend noch kurz das bekannte Gleichnis Jesu von den Arbeitern im Weinberg in Matthäus 20. Ob die Arbeiter nun zu früher oder später Stunde des Arbeitstages kamen – alle werden gleich entlohnt. Da haben wir’s wieder, so mag mancher einwenden: Gott handelt ungerecht.

Sicher ist gleicher Lohn für unterschiedliche Arbeitszeit am selben Arbeitsplatz ungerecht, aber das ist ja gerade das Provozierende an der Geschichte. Doch in ihr geht es eben nicht um irdische Arbeitsverhältnisse, sondern um das „Himmelreich“ (V. 1). In diesem gelten natürlich nicht die genau gleichen Prinzipien wie in Wirtschaft, Familie oder Politik. Egal, wann wir mit dem Glauben beginnen, ob als Kind oder kurz vor dem Tod wie der Schächer am Kreuz – alle gelangen mit Jesus ins Paradies. Aber damit ist die Gerechtigkeit Gottes noch nicht eine völlig andere!  V. 13 weist ja eindeutig den Vorwurf des Unrechts zurück, und das auch noch mit den Worten „bist du nicht mit mir einig geworden…“, d.h. jeder bekommt das Seine.

Hinzu kommt, dass das Gleichnis – wie alle Gleichnisse – nur wenige Punkte beleuchtet. Es will nicht aussagen, dass man durch eine Arbeitszeit, also ein Werk, wie gering auch immer, den Himmel tatsächlich verdient. Niemand verdient sich den Himmel! Es ist einzig Christi Verdienst, das ihn öffnet. Es geht dem Gleichnis um die Ersten und die Letzten, um die früh und spät Kommenden.

Gottes Gerechtigkeit ist zweifellos eine andere als unsere – weil er Gott ist! Aber seine Gerechtigkeit steht nicht in einem diametralen Gegensatz zu unserer, sondern übersteigt oder transzendiert sie. Daher darf sie auch nicht an der Latte unserer Erfahrungswelt gemessen werden. Es ist für uns Menschen eben nur ansatzweise zu begreifen, dass Gott zuallererst in sich das Problem der menschlichen Sünde löst und in sich Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in Einklang bringen kann. Gleiches gilt natürlich für den dreieinigen Gott selbst, der sich unserem vollen Begreifen genauso entzieht. Das macht die Trinität aber nicht unwahr oder irrelevant.

Das Wesen des Christentums ist ganz gewiss nicht „Gott ist ungerecht – und das ist gut so“. Gnade sieht nicht über die Sünde hinweg, sie wird vom dreieinen Gott hinweg geräumt und beseitigt. Die Trinität macht das Wesen des Christentums aus, und daher sind Gerechtigkeit und Gnade, Erlösung und Evangelium in einem trinitarischen Rahmen zu verstehen und zu erläutern. Die Trinität ist nicht unlogisch, aber sie hat den großen Vorteil, dass sie gleich die autonome menschliche Vernunft provoziert und entthront.   Gemeinden sollten daher nicht im Dutzend Reformation des Herzens bestellen und durcharbeiten. Da ist ein alter Schmöker wie der Heidelberger Katechismus wahrlich die bessere Alternative – weil eben durch und durch trinitarisch.

An dieser Stelle daher noch ein praktischer Tipp: Hände (bzw. Augen und Ohren) weg vom „Worthaus“. Praktisch das ganze klassische theologische Erbe wird dort regelmäßig dekonstruiert. An der überkommenen Trinitätslehre lässt Siegfried Zimmer in seinem Vortrag zum Thema kaum ein gutes Haar. „In der Bibel gibt es keine Trinitätslehre“; wie von Osterhase, Tannenbaum und Kirchturm steht auch von dieser nichts in der Bibel. Ein Argument, das genauso schon die Antitrinitarier des 16. Jahrhunderts vorbrachten.

Für Jugendliche sei die Trinitätslehre auch nichts. Dass manche Lehren für die frommen Nichtprofis nichts seien, vertrat schon Erasmus von Rotterdam – Luther widersprach bekanntlich heftig. Anstatt uns die Dreieinigkeit anständig und zeitgemäß zu erklären, nimmt sich Zimmer ausführlich Zeit, „das Herz der Muslime zu öffnen“. Mit der Auferstehung seien Jesus Dinge „zugewachsen“, die vorher „unmöglich waren“. Rückfrage: War der vorösterliche Christus nicht Gott, nicht der Gottmensch? Zimmer nennt im ganzen Vortrag Jesus nicht ein einziges Mal Gott, nur einmal sagt er, Vater, Sohn und Geist sind Gott.

„Ich und der Vater sind eins“ sei noch nicht im Sinne der Trinität gemeint, keine Wesenseinheit (und wieder: Sozzini reloaded). Ist die Trinität dann entstanden? Ist der Sohn nicht ewig? Fragen über Fragen. Er sei kein „Jünger der Trinitätslehre der Alten Kirche“, die er für „hochproblematisch“ und „starr“ hält. Praktisch kein gutes Wort zum Ringen der Kirchenväter und zum Bekenntnis von Nicäa usw. Die trinitarische Leseweise des Neuen Testaments sei manipulativ, das bloße Nachsprechen der alten Aussagen und Lehren nicht mehr möglich. Zimmer will einen Neuanfang, übrig bleibt das „väterliche Herz Gottes“ und der Gott, dem „es um das Leben geht“, „Gott ist das wahre Leben“, wir sollen Anteil bekommen an der Lebendigkeit Gottes als Ziel. Gott ist ein Beziehungswesen. Alles richtig. Aber warum polemisiert er x-Mal gegen die altkirchliche Lehre („drei Personen – furchtbar!“) und bietet uns dann nur ein armes „irgendwas ist beim Sohn anders als beim Vater“?

Zimmer betätigt sich mal wieder als Taschenspieler. Gegen Ende wird gar nicht schlecht die praktische Relevanz der Trinität verdeutlicht (obwohl die Polemik gegen Allmacht und Autorität à la Jürgen Moltmann unnötig ist). Doch über das „Beziehungen in Gott“ kommt er in eineinhalb Stunden kaum hinaus. Eine wirkliche Trinitätslehre über das Zueinander von Vater, Sohn und Geist entwickelt Zimmer gar nicht. – So sieht die theologische Bildungsoffensive im Stil von „Worthaus“ aus. Zu einem besseren Verständnis von Gnade und Gerechtigkeit Gottes und vor allem auch des Evangeliums werden Zimmer und Co. wohl kaum beitragen.