Augen auf!
Armut begleitet die Menschheit seit jeher. Für Jahrtausende war sie geradezu allgegenwärtig und nicht übersehbar, denn fast alle Menschen waren arm. Es waren immer nur Minderheiten, die so etwas wie Luxus genießen konnten und sich nicht über das tägliche Überleben Sorgen machen mussten. Wer Armut sehen wollte, brauchte nur die eigenen Augen aufmachen.
Mit der Industrialisierung, die vor etwa 200 Jahren Fahrt aufnahm, änderte sich die Welt in einem Maße wie nie zuvor. Im 19. Jahrhundert stieg dank neuer Technologien, Arbeitstechniken, Massenproduktion und Beschäftigungsmöglichkeiten der allgemeine Wohlstand rasant an. Pro-Kopf-Einkommen, Lebensdauer und Bevölkerungszahl – alles ging steil nach oben. Erstmals entstand eine breite bürgerliche Mittelschicht.
Die Armut ging einerseits zurück, andererseits wurde sie mit dem Beginn der Industrialisierung auch sichtbarer. Kinderarbeit war in so gut wie allen Epochen und Gesellschaften Gang und Gäbe. Aus heutiger Sicht arbeiteten Kinder fast immer erschreckend hart, und dies von recht frühem Alter an. In von der Landwirtschaft geprägten Kulturen war dies selbstverständlich und zum Überleben der Familie notwendig. In den Fabriken der Industrieländer wurde Kinderarbeit dann deutlich sichtbarer – und im Kontrast zum neuen Wohlstand anstößiger. Massen zogen in die Elendsquartiere der explosionsartig wachsenden Städte. Sie taten dies, um dem noch größeren Elend auf dem Land zu entfliehen, das eben nichts, aber auch gar nichts mit dem in heutigen Journalen wie „LandLeben“ gepriesenen idyllischen Lebensstil zu tun hatte.
In den großen Städten, in Slums und Fabriken, wurde Armut auf eine neue Weise offen-sichtlich und von Vertretern des neuen Bürgertums eifrig beschrieben, bald auch fotografiert. Journalisten beklagten Mißstände in der Arbeitswelt, Autoren wie Charles Dickens schufen eindrucksvolle Portraits der damaligen sozialen Umstände. Armut wurde von den damals ‘neuen Reichen’ keineswegs pauschal ignoriert. Selbst ein viktorianischer Maler wie Sir Luke Fildes, dessen Bilder wir heute vielleicht als zu sentimental, gar kitschig bezeichnen würden, mied nicht das Thema Armut in seinen Werken (er illustrierte auch Dickens Romane).
Das damals aufblühende Bürgertum hatte eben eher selten aristokratische Wurzeln. Es bestand zu weiten Teilen aus Neu-Reichen. Man war oft selbst ein, zwei Generationen zuvor noch arm. Ganz anders als z.B. die Oberschicht im Römischen Reich verachteten die Reichen des Industriezeitalters die Armen als solche meist nicht. Man wusste und hatte selbst erfahren, dass wir Menschen nicht zur Armut verdammt sind und es daher Auswege aus ihr gibt. Nun gab es dank steigendem Wohlstand immer mehr Mittel, um der Armut abzuhelfen und z.B. allgemeine Schulbildung möglich zu machen. Kinderarbeit wurde im 19. Jahrhundert sichtbarer und in vielen Ländern weit zurückgedrängt.
Römische Autoren spotteten über die ganz Armen, machten sich in heute kaum nachvollziehbarer Verachtung lustig über sie. Niemand schrieb damals ein Werk wie Oliver Twist, und auch in der literarisch hochproduktiven Renaissance gab es keine sozial engagierte Literatur. Das Thema war einfach nicht auf dem Radar. Warum auch? Bis zum ach so geschmähten Manchester-Kapitalismus, der tatsächlich Armut reduzierte und Armut sichtbarer machte, scherte sich fast niemand um das Schicksal am unteren Ende der sozialen Skala. Der neue Wohlstand brachte auch seine kritischen Begleiter hervor, die von der Überzeugung getragen waren, dass Arme nicht arm bleiben müssen.
Im 20. Jahrhundert verschwand Massenelend dann nach und nach aus den Industrieländern. Anders als Marx vorhergesagt hatte, stellten sich die kapitalistischen Staaten und die Zivilgesellschaften in ihnen auf die neuen Herausforderungen ein, schufen Schutzgesetze, leiteten Reformen ein, gründeten zahlreiche private Initiativen. Armut zog sich aus dem öffentlichen Bild mehr und mehr zurück. Wohlstand wurde nun – erstmals in der Weltgeschichte! – zu einem Massenphänomen. Gott sei Dank.
Der Sehendmacher
Die Metapher des Sehens, der Sichtbarkeit und im Kontrast dazu die Blindheit bestimmt auch das neue Buch von Steve Volke: Der Sehendmacher. Der bekannte Journalist und Autor geht von blinden Flecken aus, von Dingen, die man sehen müsste, aber nicht erkennen kann oder will. Er will die Leser gleichsam aus der Dunkelheit ins Licht führen, damit sie Dinge sehen, die man vorher nicht wahrgenommen hat. Der Sehendmacher ist dabei Gott bzw. Jesus selbst. Volke in einem Interview:
„Es geht in dem Buch um die sogenannten ‘blinden Flecken’ […]. Damit sind die Gebiete unseres Lebens gemeint, deren Wichtigkeit wir völlig unterschätzen, weil wir ‘blind sind’. Viele Christen sind einfach zufrieden mit der Art und Weise, wie sie ihr Christsein leben. Sie kommen nie auf die Idee, mal bei Jesus nachzufragen, ob der auch damit zufrieden ist, wie sie ihr Christsein leben. Wenn sie es tun würden, dann könnten sie Überraschungen erleben. Ich habe welche erlebt und wurde auf einmal mit einem Themengebiet konfrontiert, dass ich aus meinem Leben völlig ausgeblendet hatte: das Engagement für die Armen.“
Der Sehendmacher ist ein recht biographisches Buch, in dem Volke seine Einstellung im Hinblick auf die Armut skizziert und beschreibt, wie er zum internationalen Hilfswerk „Compassion“ kam, dessen deutschen Zweig er nun leitet. Rückblickend auch in „Eins!“, dem Journal der Deutschen Evangelischen Allianz (1/2014): „Dann hat Gott mich vor die Frage gestellt: ‘Was tust du persönlich eigentlich dafür, dass es weniger arme Kinder auf der Welt gibt?’ Meine Antwort: ‘Nichts’.“ Die globale Situation schätzt er dort so ein: „Es ist nicht in Ordnung, dass es einer Minderheit richtig gut geht, aber 80% der Weltbevölkerung teilweise absolut schlecht. Es geht darum, vielen das Überleben zu ermöglichen.“ Was können Christen und Gemeinden nun tun? Volke in dem Interview: „Bibel lesen, die entsprechenden Stellen ernst nehmen – und danach handeln! So einfach ist das.“
Mir scheint jedoch, dass diese pointierten Aussagen ebenfalls blinde Flecken offenbaren. Wir tun ständig etwas gegen die Armut, obwohl wir uns dessen natürlich kaum noch bewusst sind: Wir arbeiten, und das allgemein auf sehr produktive Weise. Täten wir dies in breitem Umfang nicht mehr, würden wir schnell in die Armut zurückfallen. Noch eine ganze Weile könnte man vom bisher Erwirtschafteten leben, aber dies wäre bald aufgebraucht. Dabei arbeiten wir sicher in erster Linie für uns selbst und unsere Familien. Wir erwerben Eigentum und vererben es. Dies ist der beste und natürlichste Weg der Armutsbekämpfung und –reduzierung.
Eltern, die für den Unterhalt der Familie sorgen, tun also etwas gegen Kinderarmut. Tagein, tagaus. Diese Leistung sollte nicht geringgeschätzt werden. Natürlich kann man fragen, was zur Verringerung von extremer Kinderarmut in armen Ländern beigetragen werden kann. Genauso wäre aber auch zu fragen: Warum sind eigentlich nicht alle Kinder arm? Warum können so viele im Wohlstand leben? Damit dies Leben im Wohlstand weiterhin möglich ist, wird ja etwas, sogar viel getan. Sicher ist das Herausführen von Kindern aus extremer Armut lobenswert, aber ist es das Erhalten von Wohlstand nicht auch?
Volke geht es aber in erster Linie um die extreme Armut von Kindern in den Ländern des Südens. Aber tun viele von uns wie auch einst er selbst wirklich „nichts“ dagegen? Ich halte dies für zumindest deutlich überzeichnet. Allein über Steuermittel wandern jährlich viele Milliarden aus den Industrieländern in die sich entwickelnden Staaten. Über deren Sinn muss diskutiert werden, und es ist leider oft genug fraglich, ob die Kinderarmut dadurch konkret verringert wird. Aber diese Mittel müssen erst einmal aufgebracht werden, und dies geschieht durch Arbeit und Abgaben der Bürger. Sicher ist diese Hilfe nicht direkt, d.h. persönlich; es ist Hilfe auf Umwegen und oft viel zu bürokratisch. Viele fordern außerdem eine deutliche Aufstockung dieser Hilfsmittel. Im historischen Vergleich muss man an dieser Stelle jedoch festhalten, dass wohl noch nie eine beträchtliche Gruppe von reichen Ländern den ärmeren so unter die Arme geholfen hat wie heute. Jahrtausende hat man sich bevorzugt gegenseitig überfallen, unterjocht und ausgeraubt.
Ich glaube auch nicht, dass die private Hilfsleistung so schrecklich unterentwickelt ist. In einigen westlichen Ländern ist die Spendentätigkeit intensiv und erstreckt sich auf zahlreiche Gebiete. Es sind in der Summe gewaltige Mengen von Geld, die innerhalb von Staaten, aber auch in Richtung des Südens in soziale und diakonische Projekte und Werke fließen. Natürlich ist es so, dass viele Wohlhabende gegen ein konkretes Übel wie extreme Kinderarmut direkt nichts tun; vielleicht sollten sich hier mehr von uns engagieren. Aber es gibt ja genug soziale Brennpunkte und Notsituationen, in der Nähe und in der Ferne. Volke ist so zu verstehen, dass er früher gegen extreme Armut von Kindern nichts getan hat. Doch hat er mit seiner Familie damals wirklich nichts für soziale Zwecke im weiten Sinne gespendet und gegeben? Wohl kaum. Offensichtlich hatte er diese Art der Armut, die der Kinder, nicht im Visier. Vielleicht hätte er sie schon damals mehr beachten sollen. Aber war er tatsächlich richtig blind für die Not anderer Menschen? Für den Nächsten? Ich bezweifle es. Mir scheint, dass Volke seine persönliche Vergangenheit im Rückblick düsterer sieht, als sie tatsächlich war.
Schwarzmalerei
Volke behauptete in „Eins!“, „dass es einer Minderheit richtig gut geht, aber 80% der Weltbevölkerung teilweise absolut schlecht.“ Er erweckt damit den Eindruck, dass die Lage in der Welt alles andere als gut ist. Ich würde den Spieß umdrehen: Einer sehr großen Mehrheit geht es gut, und über das „richtig“ sollte man hier nicht zu viel streiten (Kriterien für „richtig“ gutes Leben können z.B. Urlaubsreisen und der Besitz eines Automobils sein; es sind schon Milliarden, die sich beides leisten können). 80 und wohl noch mehr Prozent der Weltbevölkerung kann seine Grundbedürfnisse erfüllen, d.h. die tägliche Ernährung ist sichergestellt, ein ordentliches Dach über dem Kopf und Kleidung vorhanden, auch eine Gesundheitsversorgung und Schulbildung für Kinder. Noch nie in der Weltgeschichte musste so ein großer Anteil der Menschheit täglich nicht ums Überleben kämpfen!
80 Prozent ginge es teilweise absolut schlecht – was soll man von so einer Ausdrucksweise halten? „Teilweise“ macht die Aussage natürlich irgendwie richtig: unter den nicht sehr Wohlhabenden (alle außer den 20%) gibt es auch solche, denen es sehr schlecht geht. Natürlich ist dies so, aber wie groß ist dieser Teil? Wie groß ist der Anteil der Weltbevölkerung tatsächlich, dem es „absolut schlecht“ geht? Wie vielen muss das Überleben ermöglicht werden? Volke beschäftigt sich beruflich viel mit Armut und sollte die Zahlen kennen. Warum drückt er sich hier schluderig schwammig aus und gibt zu verstehen, wie schlimm die Lage angeblich sei – wo die extreme Armut doch auf dem Rückzug ist und prozentuale Rekordtiefstände erreicht hat?
Leider finden sich auch im Buch solche Verdrehungen. Im Kapitel „Brennweite“: „Wann kommen wir endlich dahin, den finanziellen Reichtum als das anzusehen, was er wirklich ist? Nicht so sehr ein Segen Gottes, sondern das Ergebnis einer systematischen Vernachlässigung der Armen dieser Welt!“
Weil die Armen vernachlässigt, ausgebeutet, ausgeraubt werden, sind die anderen reich; die Reichen sind wohlhabend auf Kosten der Armen – so hören wir leider immer wieder. Von einst Dorothy Day bis zu Shane Claiborne heute spielen sie alle diese Melodie. Darin steckt ein Funken Wahrheit, jedoch nur ein kleiner: Nach dem Sündenfall rauben sich Menschen nur zu gerne gegenseitig aus. Wir werden dafür immer Beispiele finden, in jeder Epoche der Geschichte, an jedem Tag, überall: Reiche nehmen sich untereinander weg, Arme von Reichen und Reiche von Armen, auch über Ländergrenzen hinweg.
Mit Raub und Vernachlässigung ist aber das Niveau des Wohlstands in der Welt in keiner Weise zu erklären! Warum können 6 Milliarden ihre Grundbedürfnisse erfüllen? Wie ist das möglich, wo ein paar Jahrhunderte zuvor nur ein paar Hundert Millionen (wenn überhaupt) dies konnten? Ist es nicht gerade umgekehrt wie Volke behauptet: Dass der Planet mehr als Vierfünftel seiner Bewohner recht gut ernähren kann, ist nichts anderes als ein gewaltiger Segen Gottes. Und noch nie in der Weltgeschichte war der Rückgang der Armut so rasant, gleichsam systematisch, und noch nie hat man sich global gesehen so viel um Armut gekümmert wie heute.
Volke glaubt offensichtlich an den Mythos des Nullsummenspiels, der falsch, doch leider kaum auszumerzen ist (s. „Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich!“). Wer an ihm festhält, kommt in der Sozialethik zu grundfalschen Schlüssen.
Wer ist schuld?
Im Kapitel „Kurzsichtigkeit“ wendet sich Volke der Frage zu, wer schuld an der Armut in der Welt ist. Er will dort die „wirklichen Ursachen“ angehen. „Ich bin überzeugt davon, weltweite Armut hat mit Sünde und Schuld zu tun. Aber in den meisten Fällen nicht mit der Schuld der Betroffenen, sondern mit der Schuld der anderen, denen es gut geht und die nicht teilen wollen.“ Weltweite Armut hat daher „auch mit unserer persönlichen Schuld zu tun.“
„Letztlich landen wir bei der Frage doch bei uns selbst“, so Volke. Daher stellt er sich „mittlerweile immer wieder Fragen wie: Hat mein Lebensstil etwas mit der Situation der Armen in dieser Welt zu tun?“ Oder: „Kann ich etwas bei mir verändern, das Einfluss auf das Leben der Armen weltweit hat?“ Er betont, dass man sich „nicht aus der Weltverantwortung stehlen kann.“
In gewisser Weise hat Volke hier natürlich recht. In einer sündlosen Welt würde es überhaupt keine lebensbedrohende Armut geben. Insofern hat Armut mit Schuld zu tun, so wie Krankheit, Tod und Leid. Zweifellos sind auch zahlreiche Fälle von konkreter persönlicher Armut mit konkreter Schuld reicherer Menschen verbunden. Wer würde das leugnen?
Glaubt man aber an den Mythos vom Nullsummenspiel, bleibt einem kaum etwas anderes übrig, als den reicheren Norden insgesamt zum Hauptverantwortlichen zu machen. Unser Leben im Wohlstand ist schuld – oder hat zumindest erheblichen Anteil daran –, dass es vielen anderen schlecht geht. So ganz scheint Volke dies aber doch nicht zu glauben, denn er behauptet: „Es sind nicht die Reichen an sich, die verantwortlich sind für die Armut in der Welt. Nur diejenigen Reichen, die ihr Vermögen komplett für sich behalten.“ Komplett? Wer behält seinen Reichtum schon zu einhundert Prozent für sich? Die allermeisten Wohlhabenden geben ab, auch wenn es keine großen Anteile der Vermögen sind.
„Die Welt braucht Reiche, die abgeben.“ Genau! Das würde ich sofort unterschreiben. Abgeben, teilen, Menschen in Not helfen ist biblisch gefordert. Um diesem Gebot, das kategorisch immer und überall gilt, Nachdruck zu geben, muss ich aber gar nicht auf die konkrete Schuldfrage der Armut zurückgreifen. Ich glaube nicht, dass unser Lebensstil im Wohlstand an sich schuldbehaftet und moralisch fragwürdig ist. (Das schwammige „unser Lebensstil hat mit der Armut der anderen zu tun“ reduziert sich letztlich auf die Feststellung, dass unser Lebensstil eine ethische Dimension hat, was selbstverständlich ist; wird es an dieser Stelle nicht konkret, und moralische Verantwortung und Schuld sind immer konkret, helfen solch wahre, aber allgemeine Aussagen wenig weiter. Ich halte „Weltverantwortung“ für einen äußerst mißverständlichen Begriff, von dem man Abschied nehmen sollte. Ich habe in gewisser Weise und unter Umständen auch für Menschen auf der anderen Seite der Erde Verantwortung; aber ich habe nicht für die Welt Verantwortung. Noch einmal: Verantwortung ist konkret oder sie ist keine Verantwortung.)
Jahrtausende galt Juden und Christen (um einmal diese beiden Gruppen herauszugreifen, die Gottes schriftliche Offenbarung besaßen) das Gebot des Abgebens, wenn man für sich selbst und die Familie genug zum Leben hat. Die Entwicklung von Armut und Reichtum in der Welt war damit kaum betroffen. Selbst jüdisch-christlich geprägte Gesellschaften sind nicht einfach deshalb wohlhabend geworden, weil in ihnen die Reichen in starkem Maße abgegeben hätten. Das hätten wir vielleicht gerne, und das würde sicher auch Volke liebend gerne so sehen. Es lief aber nicht so, und so läuft es bis heute nicht.
Ab 1800 waren es eben nicht ein Welle der Hilfsbereitschaft und eine aufgebrochene Euphorie des Abgebens, die zu einem rasanten Anstieg des Wohlstands und einem breiten Rückgang des Elends führte. Armut wurde und wird durch Schaffung von Wohlstand zurückgedrängt, durch Produktion. Armut im Weltmaßstab ist kein Verteilungsproblem. Wird dies nicht beachtet, kommen Rechnungen wie in Scott C. Todds Fast Living (und im Film „58“, mehr hier) heraus: Wenn die nordamerikanischen Christen von ihrem Überfluss radikal abgeben und den Armen im Süden helfen würden, könnte das Problem der extremen Armut gelöst werden. Eine sympathische Idee, die zur echten, d.h. langfristigen Problemlösung aber wenig beitragen würde.
Teilen und selbstloses Helfen ist gefordert, und Christen taten dies in den ersten Jahrhunderten, im Mittelalter, in der Reformationsepoche und danach. Abgeben macht Sinn in der Familie, in der Kirche und auch darüber hinaus im Stil des Barmherzigen Samariters (hilfsbedürftige Personen, die uns Gott gleichsam vor Augen führt). Teilen gehört in die ‘kleine‘, überschaubare Welt, die natürlich – s. auch die Projekte der Hilfswerke wie „Compassion“, „World Vision“ usw. – nicht auf unsere unmittelbare Umgebung beschränkt werden kann. In diesem Kontext, wo persönliche Kontakte oder zumindest Kenntnisse vorhanden sind, funktioniert dies gut und trägt zu Ausgleich, Linderung von Armut und Hilfe aus dem Elend heraus bei.
Die weltweite deutliche Reduzierung und das Entfliehen von ganzen Ländern aus der Armut sind etwas anderes. Dies geschieht in seinem Kern nicht durch Teilen. Wer das behauptet, muss den Nachweis führen. Der Mechanismus in der ‘großen’ Welt ist ein anderer (s. auch Wayne Grudems The Poverty of Nations dazu; unter den Faktoren, die es einem Land ermöglichen, die Armut zu überwinden, kommt das Teilen nicht vor. Hier eine Zusammenfassung in einem Acton-Vortrag). Volke fragt gegen Ende seines Buches: „Bin ich wirklich davon überzeugt, dass extreme Armut weltweit beseitigt werden kann?“ Gute Frage. Ich bin überzeugt davon, dass es möglich ist. Aber sie wird tatsächlich nur durch Schaffung von Wohlstand auf breiter Front beseitigt, nicht durch Umverteilung. Und auch nicht durch radikales Abgeben. Fast 1800 Jahre lang haben Christen mehr oder weniger fleißig abgegeben und geteilt; und was tat sich der globalen Armutsfront? So gut wie nichts. Der Römer um 300 war so reich oder arm wie der Hamburger um 1600. Auch wenn es unserem gutherzigen Ego nicht schmeckt: Der Durchbruch wurde nicht durch unsere Mildtätigkeit erreicht, sondern durch Erfindungsreichtum und Eigentumsschutz, durch freien Markt und freien Handel, durch Industrialisierung und Globalisierung.
Die Große Depression in den USA vor über 80 Jahren stürzte Millionen Amerikaner ins Elend (s. der obige Ausschnitt aus der berühmten Fotoreihe einer Mutter mit ihren Kindern). Hilfe war dringend gefordert, auch Überlebenshilfe. Sie war nötig, gut und wertvoll. Die Ursachen der Krise und ihre Lösung wurden damit kaum berührt. Der Samariter rettete den Ausgeraubten, aber er löste damit nicht die sozialen Probleme des damaligen Nahen Ostens wie die Straßenräuberei. Wir sollen konkret helfen (und dabei geben wir Zeit oder Geld ab), aber damit verbessern, verändern, transformieren „die Welt“ nicht.
Christen müssen tatsächlich sehend werden: konkrete Not von Geschwistern und Mitmenschen sehen und von ihrem Überfluss abgeben. Sie müssen aber auch die Augen aufmachen und die wahren Ursachen des Wohlstands erkennen, ohne die wir nie so weit wie heute gekommen wären.
[…] Verlag und gründete eine PR-Agentur. Im vergangenen Jahr erschien sein Der Sehendmacher (mehr dazu hier). Vor etwa einem Monat stellte Volke das Buch auch im Podcast „Hossa Talk“ vor (#63 Steve […]