Rechtfertigung light

Rechtfertigung light

Zum Grundlagentext „Rechtfertigung und Freiheit – 500 Jahre Reformation 2017“ der EKD

Die Rechtfertigung steht im Zentrum des evangelischen Glaubens. Es ist „klar und gewiss“, so Luther in den Schmalkaldischen Artikeln, dass allein der Glaube „ohne Werke des Gesetzes“ gerecht mache. Für den Reformator war dies der „Hauptartikel“ der protestantischen Lehre: „Von diesem Artikel kann man nicht weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erde oder was nicht bleiben will… Und auf diesem Artikel steht alles, was wir wider den Papst, Teufel und Welt lehren und leben“.

Es ist daher nur zu begrüßen, dass die Rechtfertigung im Vorblick auf das Reformationsjubiläum in einigen Jahren wieder Gegenstand der näheren Betrachtung wird. Einen Blick auf die Wurzeln des Protestantismus hat auch die EKD in ihrem Grundlagentext, erschienen Mitte Mai, geworfen. Lange hat man nicht mehr so viele Zitate von Luther, Calvin, Zwingli und Melanchton in kirchenamtlichen Dokumenten gelesen. Das hochkarätige Autorenteam hat sich sowohl um eine Würdigung, was durch das Anknüpfen an die protestantischen „soli“ unterstrichen wird, als auch um eine Aktualisierung des Erbes der Reformation bemüht.

„Rechtfertigung und Freiheit“ wurde in der Presse recht positiv aufgenommen – endlich mal wieder ein durch und durch theologischer Text. Leider werden auf den gut einhundert Seiten aber auch große Defizite erkennbar. Fünf kritische Anfragen:

Gott? Und Mensch?

In der Einleitung heißt es: „Im Zentrum der Reformation stand die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu Gott. Die Reformation war wesentlich ein religiöses Ereignis, weil die Männer und Frauen, die die Reformation trugen, erwarteten, dass Gott selbst den rechten Glauben wecken und so das Verhältnis der Menschen zu Gott erneuern werde.“ Genau! Und ein paar Seiten später: „Im Zentrum der theologischen Aussagen der Reformatoren steht die Lehre, dass das versöhnte Verhältnis zwischen Gott und Mensch von Gott ausgeht und nicht das Ergebnis einer Selbstbesinnung oder sonstigen kulturellen, politischen oder religiösen Anstrengung ist.“

Gott und Mensch – darum geht‘s tatsächlich. Was erfahren wir nun über beide? Das zweite Zitat zeigt ja, dass die Versöhnung zwischen ihnen im Mittelpunkt der Reformation stand. Wir erfahren unter 1.1 („Wie kann man das zentrale Thema der Reformation, die Rechtfertigungslehre, heute verständlich zur Sprache bringen?“) von Luthers Ringen mit seiner Sünde, der Frage nach dem gnädigen Gott und seiner Auseinandersetzung mit der „religiösen Leistungsgesellschaft“ seiner Zeit. Dann ist zu lesen:

„Solche Erfahrungen machen heute nur noch Menschen in bestimmten religiösen Milieus, sie sind kein für heutige Mehrheitsfrömmigkeit charakteristisches Verhalten. Uns ist auch das übersteigerte spätmittelalterliche und auch in der reformatorischen Bewegung meistens beibehaltene Bild von Gott als einem Gerichtsherrn, der wie ein absolutistischer Monarch unumschränkt herrscht, tief problematisch geworden. Es entspricht in seiner Einseitigkeit weder dem, was Jesus von Nazareth über seinen Vater lehrt, noch dem, was viele Passagen des Alten Testaments über den Gott Israels verkünden.“

Gewiss, die Reformatoren betrachteten Gott weiterhin als einen Richter. Und ja, dieses Bild ist für viele heute „tief problematisch“. Doch warum eigentlich? Und wo haben die mittelalterlichen und reformatorischen Theologen geirrt? Der pauschale Vorwurf der Einseitigkeit trifft sicher nicht. Und natürlich stellen „viele Passagen“ Gott auch anders als einen Richter oder Monarchen dar. Doch was soll damit bewiesen werden? Dass er etwa kein allmächtiger König sei? Es ist doch ein Kernpunkt jeder christlichen Gotteslehre, dass Gott und nur Er der Absolute und Allmächtige ist, vor dem sich alle zu beugen haben. Ja, Gott ist ein „absolutistischer Monarch“, was denn sonst! Denn dies bedeutet eben, dass kein Mensch sich solche Herrschaft anmaßen kann und darf.

Verwirrt wird man auch durch die Polemik gegen den „Gerichtsherrn“. Weiter unten im Text wird das „Jüngste Gericht“ genannt und richtig festgehalten: „Jeder Mensch muss sich für sein Tun und Lassen verantworten.“ Mehr kommt aber im ganzen Dokument nicht. Bei der Grundlegung zu Beginn wird überhaupt nicht deutlich, in welcher Position sich der Mensch nach dem Fall vor Gott befindet. Gott wird in seinem Wesen und Charakter nicht weiter vorgestellt. Zweifellos nimmt der Leser insgesamt mit, dass Gott ein gnädiger und liebender Retter ist. Doch gerettet wovor? Jeder Hinweis auf seinen Zorn fehlt; die „Verdammnis der Hölle“ wird nur im Kontext der Ablasspraxis genannt. Wenn denn Rechtfertigung weiterhin ein forensischer Begriff ist, wieso wird das Thema „der Mensch vor seinem göttlichen Richter“ nicht einmal im Ansatz entfaltet? Wenn Gerechterklärung wesentlich vor einem Gericht geschieht, warum fehlt jede Erörterung dieses Forums? Wo ist der „Richter aller Welt“ (Gen 18,25)??

Calvin stellte ja im ersten Kapitel seiner Institutio ausführlich dar, wie eng Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis des Menschen zusammenhängen. Das eine bedingt das andere. Enttäuscht der Grundlagentext bei der Darstellung Gottes, so sieht es folglich beim Bild des Menschen nicht anders aus. Man liest, „dass alle Menschen in der gleichen Weise Sünder sind und alle in der gleichen Weise der Gnade bedürftig“ und „dass der Mensch den Gerechtigkeitsmaßstäben Gottes nicht entspricht und nicht entsprechen kann“. Das war‘s. Dem nicht mehr richtenden und verdammenden Gott entspricht dieses weichgespülte Sündenverständnis nur zu gut. Zu der unbedingt notwendigen Erkenntnis der Größe des sündhaften „Elends“ des Menschen, von dem Heidelberger Katechismus zu Beginn spricht, wird man so nicht geführt. Die reformierte Bekenntnisschrift spricht in der Antwort zur Frage 5 von Hass, und auch Siegfried Kettling drückt sich in Typisch evangelisch ähnlich aus: „Gottlosigkeit bedeutet Widerstand gegen Gott: Der Sünder haßt Gott, statt ihn zu lieben, er verachtet Gott, statt ihn zu fürchten, er reckt sich hochmütig empor und verkrampft sich verzweifelt, statt Gott zu vertrauen.“

Zuspruch?

Unter Punkt 2.4.2 wird das protestantische Verständnis – „Rechtfertigung als von Gott gesprochenes Urteil“ – gut dargestellt:

„Die Rechtfertigung geschieht solo verbo, allein im Wort. Damit ist gemeint, dass die Rechtfertigung ein Urteil ist, das Gott über den Menschen spricht. Weil dem Menschen die Gerechtigkeit Christi zugesprochen wird, wird er für seine Sünde nicht länger durch das Gesetz angeklagt, sondern von Gott freigesprochen. Ihm wird eine ‘fremde Gerechtigkeit’, eben die Gerechtigkeit Christi zugerechnet.“

Allerdings fragt man sich, worauf dieses zugesprochene Urteil beruht. Warum kann Gott den Sünder für gerecht erklären? Wieso bewirkt Christi Gerechtigkeit das Heil? Elementare Fragen, doch der Grundlagentext verläuft sich im Diffusen: „In Jesus Christus hat Gott sich so auf die Menschen eingelassen, dass er alles, was die Menschen von ihm trennte, hinweggenommen hat.“ Oder an anderer Stelle: „Gott selbst hat in Christus am Kreuz gehandelt… Deshalb hat er sich in Christus auf das Leben, Leiden und Sterben der Menschen eingelassen. Er hat die Menschen vom Tod und von ihrer Schuld befreit.“ Unter 2.2.2 nähert man sich eine Antwort an, wenn es heißt, dem Sünder werde „zugutezuhalten, dass Jesus Christus in seinem Leben und Sterben diesen Gerechtigkeitsmaßstäben entsprochen hat.“

Wie kann es sein, dass ein sündiger Mensch vor dem heiligen und gerechten Gott gerechtfertigt dasteht? Von einem Grundlagentext sollte man auf einhundert Seiten eine halbwegs klare Antwort erwarten dürfen. Doch geradezu krampfhaft hat man die Begriffe umfahren, die die klassische Antwort umreißen: Opfer, Blut, Sühne, Stellvertretung – alles kommt im Text nirgends vor. Selbst der Tod Christi am Kreuz wird nirgendwo erörtert! Kann das wirklich sein? Jesus kam in erster Linie auf die Erde, damit er sein Leben am Kreuz als Lösegeld gebe (s. Mk 10,45). Aber wir lesen nur, Gott habe „am Kreuz gehandelt“, „am Kreuz wendet sich Gott den Menschen zu“ und am Kreuz zeige sich die „Nähe Gottes zu den Menschen in spezieller Weise“. Vages und Unkonkretes. Es scheint, als habe am Bildschirm der Autoren eine Haftnotiz geklebt: „Blutopfer – nein danke!“

Man kann allen Interessierten daher nur empfehlen, besser die reformatorischen Originalquellen zu studieren. Obwohl Jahrhunderte alt, wird dort präzise formuliert. Im Heidelberger Katechismus heißt es in Fr. 60 („Wie bist du gerecht vor Gott?“), dass dem Sünder „die vollkommene Genugtuung, Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi“ geschenkt wird. Auch im Westminster-Bekenntnis wird in Artikel 11.3 sehr gut zusammengefasst, und auch hier taucht wieder die „Genugtuung“ auf, die nun, so scheint es, um jeden Preis gemieden wird: „Christus hat durch seinen gehorsam und seinen Tod die Schulden aller, die so gerechtfertigt werden, völlig getilgt und hat der Gerechtigkeit seines Vaters an ihrer Stelle eine angemessene, wirkliche und völlige Genugtuung geleistet.“ Schließlich sei hier Bernhard Kaiser zitiert: „Rechtfertigung ist der von Gott vollzogene gerichtliche Zuspruch der Vergebung und der im Sühneopfer  Christi gewirkten Gerechtigkeit an den Sünder, der Christus im Glauben erfasst.“ (Christus allein)

Unterscheidung?

Luther nannte in seinen Tischreden die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium „die höchste Kunst in der Christenheit“. Wir müssen unterscheiden zwischen Gesetz (was Gott von uns fordert) und Evangelium (was Gott für uns getan hat). Auch andere Unterscheidungen sind in der Theologie von größter Wichtigkeit. So sind Schöpfung und Erlösung unbedingt richtig aufeinander zu beziehen. Ihre heute oft anzutreffende penetrante Vermischung hat schwerwiegende Folgen: Aus der Tatsache, dass Gott in der ganzen Schöpfung gegenwärtig ist und dort handelt, wird z.B. oft die Behauptung abgeleitet, dass Gott mit jedem Menschen vereinigt sei, der Geist in allen wohne und die Kirche sich irgendwie auf alle Menschen erstrecke.

Auch die Autoren des Grundlagentextes sind offensichtlich in diese Falle gelaufen. Ausgangspunkt ist ihr Wunsch, die Rechtfertigung heute verständlich zu machen: „Um die Erfahrung der Rechtfertigung innerhalb der Kirchen neu zu plausibilisieren, kann man sich mit vier gegenwärtig häufiger verwendeten Begriffen der Bedeutung von Luthers Rechtfertigungslehre annähern, den Begriffen ‘Liebe‘, ‘Anerkennung und Würdigung’, ‘Vergebung’ und ‘Freiheit’.“ Anerkennung und Würdigung werden als sachlich weitgehend gleichbedeutend aufgefasst. Zur Anerkennung heißt es:

„Von anderen unmittelbar als Mensch anerkannt und respektiert zu werden, ist jedem und jeder ein existenzielles Bedürfnis. Diese zwischenmenschliche Erfahrung von Anerkennung ist allerdings selten, obwohl Menschen für sie nichts tun müssen und sie unverdient erhalten – vielleicht ist sie aber gerade auch deswegen selten. Wo das trotzdem geschieht, entsteht eine tiefe Beziehung. Erfährt der Mensch Anerkennung durch Gott und wird ihm die Nachricht von dieser Anerkennung weitergesagt, kann das daher zu einer existenziell bewegenden Erkenntnis werden: Ich bin anerkannt, auch wenn ich es nicht verdient habe. Einfach so. Geschenkt! Theologisch gesprochen: aus Gnade.“ Und zur Würdigung: „Wenn Gott aber den Menschen würdigt, ohne Vorbedingungen und unverdient, dann zeigt das Gottes Haltung zu seinem Geschöpf. Ausdruck dieser Würdigung Gottes ist die unantastbare Würde, die auch das Grundgesetz im Ersten Artikel für den Menschen im weltanschaulich neutralen Staat festhält.“

Man hat sich mittlerweile an solche Sätze gewöhnt. Daher bemerkt man nur noch selten, dass hier letztlich die Axt an den Baum des Heils gelegt wird. Die Anerkennung des Menschen als Geschöpf ist unbedingt zu unterscheiden von der Zueignung des Heils. Der im Ebenbild Gottes geschaffene Mensch wird als solcher von seinem Schöpfer anerkannt – bedingungslos. Dies begründet ja die Würde des Menschen, die alle besitzen und die ihnen nicht genommen werden kann. Unsere „unantastbare Würde“ beruht auf diesem Status als Geschöpfe. Damit ist aber noch keinerlei Aussagen über das Heil des Menschen getroffen!

Ja, jeder Mensch hat diese Würde, aber das heißt eben auch, dass er bzw. sie deshalb von Gott mit persönlicher Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht gewürdigt wird, denn nur der Mensch ist ein personales Wesen, das moralisch handelt und schuldig werden kann. Im Hinblick auf die Erlösung gilt aber nun, dass der Rebell vor Gott eben nicht anerkannt wird. Nach dem Fall ist der Mensch zwar immer noch Ebenbild, aber auch Feind Gottes (Röm 5,10). Ihn ‘würdigt’ Gott mit seinem Gericht.

Den Autoren geht es natürlich darum, die bedingungslose Gnade Gottes groß zu machen. Doch die Gnadenbotschaft des Neuen Testaments lautet ja nicht: du als Mensch bist anerkannt. Es ergeht vielmehr der Ruf nach Buße und Umkehr: du bist nicht o.k. und kannst – so wie du bist – vor dem heiligen Gott nicht bestehen. Im Grundlagentext wird jedoch überall der Eindruck erweckt, dass alle von Gott anerkannt, angenommen, akzeptiert sind. Die absolute Notwendigkeit des Glaubens wird in keiner Weise deutlich. Was mit den Nichtglaubenden geschehen wird, bleibt gleichsam hinter einem Schirm des Nichtwissens verborgen. Buße, Umkehr, Bekehrung sind als positive Konzepte schlicht und einfach nicht vorhanden.

„Rechtfertigung und Freiheit“ stellt also die Haltung Gottes zum Menschen nicht differenziert genug dar. Ein allgemeines Ja ergeht in gewisser Weise nur an den Menschen als Geschöpf. Im Hinblick auf Heil und Unheil des Menschen gilt einerseits das Nein Gottes: der unbekehrte Rebell findet nicht Aufnahme im ewigen Reich Gottes; andererseits gilt auch ihnen das Ja in Christus – aber es ist eben nicht eine Annahme aufgrund seines Menschseins, sondern wegen Christi Werk.

Der Grundlagentext setzt damit eine Argumentationslinie fort, die auch schon im „Glaubens-ABC“ auf den Seiten der EKD zu finden ist. Zum Begriff Rechtfertigung heißt es dort zu Beginn: „Was gibt dem Menschen Selbstwertgefühle?“ Es werden Krisen des Lebens wie Arbeitslosigkeit und Krankheit genannt. „Was aber mache ich, wenn ich merke, dass meine Pläne nicht aufgehen? Bin ich dann wertlos? Die biblische Botschaft von der Rechtfertigung fordert uns auf, mit den Augen Gottes zu sehen. Wir sind mehr als die Summe unserer Taten – und Untaten. Unsere Würde ist von Gott gegeben. Sie muss nicht erst hergestellt oder gar verdient werden.“ Man kann auch hier nur von einer fatalen Verwirrung der Leser sprechen. Würde und Rechtfertigung sind keineswegs in gleicher Weise „gegeben“.

Es scheint sogar, dass die Würde die Rechtfertigung als Hauptartikel ersetzt hat, denn selbst Nikolaus Schneider, Ratsvorsitzender der EKD, antwortete vor einigen Jahren im „chat“ auf evangelisch.de auf die Frage nach einer kurzen Umschreibung des Kerns des Evangeliums so: „Kurz und knapp: Du bist ein von Gott geliebter Mensch, musst dir deine Würde nicht erarbeiten und kannst sie auch nicht verlieren. Das gilt auch für das Himmelreich! Gott ist in allen Höhen und Tiefen des Lebens an deiner Seite.“ Aber ist es wirklich das, was wir einer verlorenen Welt zu verkünden haben? Sind das die Versprechen der Bibel? Fehlt hier nicht etwas? Und was ist, wenn die Realität die ist, dass „die unbekehrten Menschen auf einer morschen Decke über dem Abgrund der Hölle wandeln“, wie Jonathan Edwards 1741 in seiner berühmten Predigt „Sinners in the hands of an angry God“ sagte? (In deutscher Sprache hier.)

Antithese?

Durch den ganzen Grundlagentext zieht sich das äußert starke Bemühen, irgendwie alle Menschen in das Heilshandeln Gottes einzuschließen. Im Abschnitt zu „solus Christus“ ist zu lesen: „In Jesus Christus hat Gott sich so auf die Menschen eingelassen, dass er alles, was die Menschen von ihm trennte, hinweggenommen hat… In Christus hat Gott zum Heil der Menschen gehandelt“. Und weiter: „Die neutestamentlichen Texte sind davon überzeugt, dass das heilvolle Handeln Gottes in Jesus Christus alle Menschen meint. Man muss nicht zum alttestamentlichen Volk Gottes, zum jüdischen Volk gehören… Weil in Jesus Christus Gott umfassend und alle Menschen meinend gehandelt hat…“

All dies ist recht unpräzise formuliert. Was bedeutet es, dass mit Jesu Werk alle „gemeint“ sind? Was ist darunter zu verstehen, dass Gott „zum Heil der Menschen gehandelt“ hat? Zum Heil aller? Sind dann auch alle gerettet? Wenn alle „anerkannt“ sind (s.o.), liegt dies natürlich nahe. Eine Klärung dieser doch wohl wichtigen Fragen findet nicht statt. Nur in diesem Abschnitt wird angedeutet, wie man auf die Seite des Heils gelangt:

„Obwohl der Mensch unweigerlich immer wieder einmal rote Zahlen schreibt, verlangt Gott nicht, dass die Bilanz aus eigener Kraft mit schwarzen Zahlen schließt… Positiv wird die Gesamtbilanz, weil sich der Mensch als Kind Gottes mit seiner Taufe im Bereich des göttlichen Segens, der göttlichen heilsamen Zuwendung, befindet und daraus ‘gar nicht mehr herausfallen kann’ (Augustinus). Die Antwort des Menschen auf diese befreiende Erfahrung ist der Glaube.“

Mit der Taufe also, so ist zu verstehen, geschieht Entscheidendes: die „Gesamtbilanz“ wird eine andere, man tritt in den „Bereich… der göttlichen heilsamen Zuwendung“. Es wird implizit ausgesagt, dass man als Getaufter jedenfalls auf der sicheren Seite ist. Nur hier taucht im ganzen Dokument so etwas wie eine Antithese auf: Gesamtbilanz positiv – oder negativ. Ausgerechnet bei der Taufe, wo die Bilanz eben nicht geklärt wird. Denn die Zuordnung von Taufe und Glaube wird ja leider nicht erläutert.

Dem gesamten Grundlagentext ist ansonsten jegliches Denken in Antithesen fremd. Und das, obwohl sich dieser Geist der Gegensätze durch das ganze NT zieht. An zahlreichen Stellen in den Briefen betonen die Apostel gegenüber den Lesern in den Gemeinden: einst wart ihr… – jetzt aber… (Röm 6,19–22; 7,5–6; 11,30; 1 Kor 6,10–11; 12,2; Gal 4,8–9; Eph 2,1–6.11–13.19; 5,8–9; Kol 1,21–22; 2,13; 3,7–8; Tit 3,3–5; 1 Pt 2,9–10.25; 4,1–3.8). Das Christwerden ist mit einem Bruch, einem radikalen Einschnitt verbunden. Vielfach taucht daher auch das Schema „die draußen – ihr“ auf (Eph 4,17–20; 5,7; 1 Thes 4,5; 2 Thes 1,8; 2 Kor 6,14–17; 1 Pt 2,7.12; 1 Kor 1,18). Ein weiterer Aspekt der Diskontinuität bildet die Erkenntnis Gottes. In einem vollen Sinnen kennen nur (wiedergeborene) Christen Gott (Joh 17,3; s. auch Mt 11,27b; 2 Kor 8,9; 2 Tim 1,12; 1 Joh 4,16). Menschen, die sich nicht bekehren wollen, kennen Gott nicht (Joh 8,19; s. auch 1 Kor 1,21; 2,14; Gal 4,8; 1 Thes 4,5; 2 Tim 3,7).

All die Versangaben sollen nur unterstreichen, dass die „Stoßrichtung der Texte“ (s.u.) ziemlich eindeutig ist und kaum ignoriert werden kann. Es gibt Gläubige und Ungläubige, ein Drinnen und Draußen, Kirche und Welt. Leider wollen die Autoren jedoch praktisch alle bzw. alle Getauften im Boot sehen wie auch hier deutlich wird:

„Ob und wie ein Mensch glaubt, ist den Augen verborgen. Wie sehr er sich kirchlich engagiert oder ob er sich nicht engagiert, sagt nichts über seinen Glauben aus. Diesen sieht allein Gott. Volkskirchliche Strukturen tragen diesem Sachverhalt theologisch Rechnung. Sie ermöglichen unterschiedliche Beteiligungsformen und -intensitäten in der Kirche und beurteilen nicht, ob ein Mensch genug glaubt, um dazuzugehören. Alle Bemühungen um eine rege Beteiligungsgemeinde dürfen nicht dazu verleiten, nur diejenigen, die intensiv mitarbeiten, als richtige Christen anzusehen. Allein der Glaube reicht, um Christ zu sein. Und um diesen weiß allein Gott.“

Gewiss, der Glaube reicht, und letztlich weiß nur Gott um diesen Glauben, weil nur Er ins Herz sieht. Davon jedoch die geschilderte Vielfalt der Beteiligung abzuleiten, ist wohl einzig der heutigen landeskirchlichen Realität geschuldet. Theologisch zu rechtfertigen ist es nicht, dass man gläubig ist, sich aber der Gemeinschaft der Glaubenden so gut wie immer fernhält. Denn „unterschiedliche Beteiligungsformen“ ist ja schlicht ein Euphemismus dafür, dass sich neunzig Prozent der Kirchenmitglieder so gut wie überhaupt nicht beteiligen. Im Zweiten helvetischen Bekenntnis wird dagegen in Kapitel 22 betont, dass diejenigen, die den „heiligen Versammlungen oder kirchlichen Zusammenkünften“ fernbleiben und sich „hartnäckig“ absondern, „dringend ermahnt“ werden sollen. Im Heidelberger Katechismus in der Antwort zu Frage 103: „Gott will…, dass ich, besonders am Feiertag, zu der Gemeinde Gottes fleißig komme.“ Gott selbst will intensive Beteiligung. Er selbst hat festgelegt, wie ‘richtiges Christsein’ aussieht und wie nicht. Es ist alles andere als evangelisch und protestantisch, sich auf einen subjektiven Schmalspurglauben zu berufen.

Wage zu denken?

Die oberste Autorität der Hl. Schrift wird das formale Prinzip des Protestantismus genannt. So geht natürlich auch „Rechtfertigung und Freiheit“ auf den Themenkomplex Bibel und Wort Gottes ein. Auf Seite 37 ist von der „Transformation des reformatorischen Schriftprinzips in der Neuzeit“ und vom heutigen „Pluralismus der Textauslegungsmethoden“ die Rede, was zu einer „größeren Vielfalt an Verständnissen einzelner biblischer Stellen“ geführt habe.

Weitere Ausführungen sind dann im Abschnitt zu „sola scriptura“ zu finden. „Die Reformatoren nannten die Bibel ‘Wort Gottes’. Das steht aber schon im sechzehnten Jahrhundert nicht im Gegensatz zu der Einsicht, dass diese Texte von Menschen verfasst worden sind.“ Natürlich. Die Kirche wusste immer, dass Menschen die biblischen Bücher verfasst haben und die Bibel nicht wie der Koran gleichsam fertig vom Himmel gefallen ist. Es folgt ein Seitenhieb auf Biblizismus und Diktattheorie, aber mit Luther wird gewiss zu recht betont, dass man „die Meinung des ganzen Textes“ hören muss. „Man muss nach dem Sinn und der Stoßrichtung der Texte fragen“. Wer würde widersprechen?

Es überrascht nicht, dass Luther – wie schon üblich – aber auch als ein Vater der Bibelkritik präsentiert wird. Wiederum dürfte Einigkeit darin bestehen, dass die Schrift „von ihrer inhaltlichen Mitte her verstanden werden“ muss. Die Autoren behaupten jedoch darüber hinaus, dass biblische Texte, die „nicht den Glauben an Christus befördern“, getadelt werden müssen.

Dies lässt sich natürlich nur dann rechtfertigen, wenn die Bibel als solche nicht mehr Wort Gottes ist. Deshalb bekennt man sich klar zur Bibelkritik:

„Seit dem siebzehnten Jahrhundert werden die biblischen Texte historisch-kritisch erforscht. Deshalb können sie nicht mehr so wie zur Zeit der Reformatoren als ‘Wort Gottes’ verstanden werden. Die Reformatoren waren ja grundsätzlich davon ausgegangen, dass die biblischen Texte wirklich von Gott selbst gegeben waren. Angesichts von unterschiedlichen Versionen eines Textabschnitts oder der Entdeckung verschiedener Textschichten lässt sich diese Vorstellung so nicht mehr halten. Damit aber ergibt sich die Frage, ob, wie und warum sola scriptura auch heute gelten kann.“

Ja, diese Frage ergibt sich wohl. Noch einmal grenzt man sich anschließend ab und verwirft die Auffassung, „nur der nehme die Schrift ernst, der sie als Wort für Wort von Gott gegeben verstehe“. Und wieder wird gefragt: „Wie aber ist dann die Schrift auch heute noch als Wort Gottes zu denken? Warum spielt die Bibel auch im gegenwärtigen kirchlichen Leben eine zentrale Rolle?“

Dies sind tatsächlich wesentliche Fragen. Inzwischen plagt man sich schon gar nicht mehr mit einer Inspirationstheorie herum. Zwei Dinge werden nun genannt. Einmal erfahren wir „aus diesen Texten [d.h. der Bibel] über den Gott Israels und den Vater Jesu Christi“. Und zweitens sei die Bibel immer noch auf gewisse Art Wort Gottes, „weil Menschen immer wieder bemerken, dass sie durch diese Texte in besonderer Weise angesprochen werden. In ihnen haben sich menschliche Erfahrungen mit Gott so verdichtet, dass andere Menschen sich und ihre Erfahrungen mit Gott darin wiederentdecken können.“ Durch die biblischen Worte werden Menschen „im Innersten berührt“. Daher: „In diesem Sinne können diese Texte daher auch heute noch als ‘Wort Gottes’ angesehen werden. Das ist kein abstraktes Urteil, sondern eine Beschreibung von Erfahrungen mit diesen Texten… Deshalb bilden diese Texte nach wie vor den Kanon der Kirche.“

Man kann einerseits den Autoren für diese Art der Klarstellung dankbar sein. Das Schriftverständnis der Reformatoren teilen sie eindeutig und erklärtermaßen nicht mehr. So hatte ja Bullinger gleich zu Beginn des Zweiten helvetischen Bekenntnisses ausdrücklich unterstrichen, dass die „kanonischen Schriften… beider Testamente das wahre Wort Gottes sind“. Die Schrift ist Wort Gottes. Man fragt sich dann natürlich, warum die evangelischen Kirchen noch an diesen Bekenntnissen festhalten. Es wäre ehrlicher, sich ganz neue autoritative Lehrdokumente zu schaffen und nicht dieses seltsame Schauspiel der Neudeutung zu vollziehen.

Auf der anderen Seite offenbart diese Argumentation das ganze Elend solcher Theologie. Biblische Texte berühren im Innersten, so die Hauptaussage – deshalb bilden diese Texte nach wie vor den Kanon der Kirche. Hier ist zu fragen: Was soll dies für eine Begründung sein?? Denn schließlich werden Menschen durch alle möglichen Texte inspiriert, getröstet, ermutigt und berührt! Der eine wird durch „Das Kapitel“ von Marx berührt, und der andere durch die Bhagavad Gita; der eine schöpft Mut aus dem Koran, und der andere aus Aufzeichnungen der Heiligen. Die subjektive Wirkung von Texten mag wohl ein gewisser Hinweis auf seine Autorität und seinen Ursprung sein. Und im Umkehrschluss gilt sicher: Ist die Bibel Gottes Wort, wird sie sich in der Erfahrung vieler Leser auch als mächtig und erbauend erweisen. Die innere Berührung ist aber doch in keiner Weise ausreichendes Kriterium, um die Frage des Kanons der Kirche zu entscheiden!

Diese nun wahrlich ärmliche Argumentation kontrastiert mit dem Hinweis auf das zitierte Aufklärungsmotto sapere aude  – wage zu denken. Damit sei ein „genuin protestantisches Anliegen“ beschrieben. „Die Reformation will zu gebildetem Glauben führen. Sie intendiert einen Glauben, der verstehen möchte und nachfragen darf.“ Dies wird natürlich auf die Bibel und die Kritik an ihr gemünzt. Aber wer über diese Begründung des Kanons nachdenkt, der kommt nur ins Kopfschütteln. Was soll daran vernünftig sein?

Man würde wohl letztlich auf die Tradition der Kirche zurückgreifen: Weil sich über die Jahrhunderte hinweg so viele Menschen gerade von diesen Texten berühren ließen, halten wir an ihnen fest. Das hilft jedoch auch kaum weiter. Denn die Tradition wird ja wiederum sehr kritisch gesehen. Letztlich gibt es keinerlei vernünftige Antwort, warum weiterhin allein diesen Texten ein irgendwie normativer Status zugesprochen werden sollte.

Kommen wir zum Schluss. „Rechtfertigung und Freiheit“ ist weitgehend frei von gesellschaftspolitischen Bezügen. Mal ist nicht vom Klimawandel, Globalisierung und Friedenspolitik zu lesen. Aber die Thematik der „Geschlechtergerechtigkeit“ hat dennoch Eingang in das Dokument gefunden. Bleibt so mancher Punkt erschreckend diffus, so positioniert man sich hier gewohnt klar:

„Reformatorische Kirche und Theologie müssen noch weiter lernen, Geschlechtergerechtigkeit als genuin evangeliumsgemäßen Wert zu verstehen und deswegen Geschlechterhierarchien entschlossen abzubauen: Den Ausgang hat diese Entwicklung, historisch betrachtet, von einer Neubesinnung auf das kirchliche Amt genommen und der Frage, ob auch Frauen als Pfarrerinnen amtieren dürfen.“

Richtig wird das Neuartige in der protestantischen Amtsauffassung dargestellt, nämlich Luthers Einsicht „dass es keinen mit einem unzerstörbaren sakramentalen Charakter versehenen Stand eines Weihepriestertums in der Kirche geben darf, das den Laien gegenübersteht, um ihnen Christus zu repräsentieren“. Dann wird Galater 3,28 zitiert („Hier ist nicht Jude noch Grieche…“) und der Abschnitt wie folgt beendet: „Aber erst Jahrhunderte später, nach den Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts und seiner Emanzipationsbewegungen, hat das zur Einsicht geführt, dass auch Frauen alle Ämter in der Kirche übernehmen können. Die Frauenordination ist ebenso eine späte Errungenschaft aus reformatorischen Einsichten wie die gleichberechtigte Gemeinschaft von Ordinierten und Nichtordinierten auf allen Leitungsebenen.“

Einmal wieder wird hier zusammengewürfelt, was nicht zusammen gehört. Was soll Gal 3,28, wo es um das Heil geht, um das neue Leben in Christus, mit den Ämtern und deren Trägern zu tun haben? Und wie soll das protestantische Amtsverständnis den modernen Egalitarismus begründen? In welcher Weise soll die Geschlechtergerechtigkeit ein „genuin evangeliumsgemäßer Wert“ sein? Ich kann hier keinerlei Argument erkennen. Der Hinweis auf die Emanzipationsbewegungen zeigt ja vielmehr, dass man sich hier in vielen evangelischen Kirchen dem massiven gesellschaftlichen Druck angepasst hat.

Irreführend ist hier außerdem, dass die „gleichberechtigte Gemeinschaft von Ordinierten und Nichtordinierten“ mit der Geschlechterfrage vermengt wird. Denn dies war nun keineswegs eine „späte Errungenschaft“. Von reformatorischen Überzeugungen führt keine direkte Linie zum Frauenpfarramt, aber die Aufwertung der Laien ist tatsächlich urprotestantisch. Schon in der Ziegenhainer Zuchtordnung von 1539 ist von der „Aufsicht“ der Ältesten über die Prediger, konkret deren „Lehre und Leben“ die Rede. Auch im Zweiten Helveticum wird im Kapitel über die „Diener der Kirche“ gefordert, dass „auf Synoden fleißig Lehre und Lebenswandel der Diener zu prüfen“ sei. Laienälteste waren also schon im 16. Jahrhundert aufgefordert, die Ordinierten zu kontrollieren. In den lutherischen Kirchen fand dies wegen des Kirchenregiments der Landesherren kaum Umsetzung, aber in den reformierten und presbyterianischen Kirchen war diese Gleichberechtigung schon früh Realität.

Prof. Dr. Christoph Markschies ist einer der Autoren des Grundlagentextes. Im Interview mit dem Deutschlandradio definiert er Sünde als den Versuch, so zu leben, „als verdanke ich mir selbst das Leben“, als „vertrackte Tendenz, mir selbst mehr zuzuschreiben, als ich mir eigentlich zuschreiben sollte“. Das ist Sünde light. Darauf ruht die Rechtfertigung light – „der tragende Grund des Gefühls, im Entscheidenden frei zu sein von den problematischen Urteilen und Maßstäben dieser Welt“, so Markschies in seinem Statement bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Textes. Da kann man nur sagen: Zurück zu den Wurzeln. Wer sich vertieft mit der Rechtfertigungslehre beschäftigen will, dem seien neben den Bekenntnistexten die schon zitierten Werke von Kettling und Kaiser sowie James I. Packers Klassiker Gott erkennen (dort z.B. das Kapitel “Das Zentrum des Evangeliums”) empfohlen (s. hier und hier).

Ein Kommentar von Professor Reinhard Slenczka aus Erlangen, “Das Unverständnis von Rechtfertigung in der Kirche der Reformation“, ist hier zu finden.