Der Obrigkeit widerstehen?

Der Obrigkeit widerstehen?

Wie soll der Christ zum Staat stehen? Darf er sich ihm widersetzen? Muss man der Obrigkeit immer gehorsam sein? Wann ist Widerstand geboten? Und welche politischen Mittel sind uns gegeben – Protest, Reform, Revolution?

Gottes Dienerin

Um diese wichtigen Fragen zu beantworten, ist zuerst das Wesen und die Aufgabe der Obrigkeit zu klären. Nach biblischem Verständnis sind hier drei Punkte zu nennen:

1. Die Obrigkeit unter Gott. Gott ist der Bundesgott Israels, gab dem auserwählten Volk das Gesetz und ist sein König (Jes 33, 22). Aber Er ist auch Herr über alle. Gott ist nicht nur der König Israels, sondern der aller Völker und aller Menschen (Ex 15, 18), damit auch der Richter über alle (Ps 9, 20). Dieses Prinzip wird im Neuen Testamen­t wiederholt. Christus ist der König der Könige und der Herr der Herren (Kol 1, 16; Off 19, 16), ihm ist alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben (Mt 28, 18).

Deshalb ist jede Herrschaft von Menschen über Menschen unter Gott und von ihm abgeleitet. Alle Herren und Herrscher, Könige und Präsidenten, so mächtig sie sich auch fühlen mögen, haben noch einen Herren und König über sich. So sagt es ja auch Paulus in dem wichtigen Abschnitt in Römer 13: „Alle staatliche Gewalt kommt von Gott, und jede Regierung ist von Gott eingesetzt“ (V. 1, NGÜ). Obrigkeit kommt von Gott, untersteht und dient Ihm. Daher nennt der Apostel sie in Vers 4 auch „Gottes Dienerin“. Der Staat ist daher nicht selbst Gott, die Herrschenden sind nicht Götter, Gottessöhne, alleinige Ebenbilder Gottes, göttliche Inkarnationen, vergöttlichte Menschen usw. Die Obrigkeit und die Mächtigen sind nicht mehr als Gottes „Diakone“ wie es wörtlich heißt.

Dies bedeutet aber auch, dass die Obrigkeit als von Gott eingesetzt, von Ihm gewollt und mit Autorität ausgestattet ist und von den Untergebenen, den Bürgern, als solch eine geachtet werden soll. Denn der Staat ist ja nicht die Dienerin irgendeines Herren, sondern Gottes selbst. Herrschaft ist zwar unter Gott, aber auch über den Menschen. Daher wird im Neuen Testament grundsätzlich der Gehorsam der Christen gegenüber der Obrigkeit als göttlicher Ordnung verlangt wie in Röm 13,1, Tit 3,1 oder auch 1 Pt 2,13.

2. Die Obrigkeit unter dem Gesetz. Menschliche Autorität und Macht, in welchem Bereich auch immer, ist grundsätzlich begrenzt, und diese Grenzen werden konkret durch das Recht gesetzt. Aus dem Königsgesetz Israels:

„Und wenn er nun sitzen wird auf dem Thron seines Königreichs, soll er eine Abschrift dieses Gesetzes, wie es den levitischen Priestern vorliegt, in ein Buch schreiben lassen. Das soll bei ihm sein und er soll darin lesen sein Leben lang, damit er den HERRN, seinen Gott, fürchten lernt, dass er halte alle Worte dieses Gesetzes und diese Rechte und danach tue.  Sein Herz soll sich nicht erheben über seine Brüder und soll nicht weichen von dem Gebot weder zur Rechten noch zur Linken, auf dass er verlängere die Tage seiner Herrschaft, er und seine Söhne, in Israel.“ (Dt 17, 18–20)

Dass staatliche Herrschaft sich im Rahmen des Rechts, also unter diesem bewegen muss, ist alles andere als selbstverständlich. Denn in der Menschheitsgeschichte wollten die Herrschenden ihre Macht fast immer uneingeschränkt ausüben. Unter den Nachbarvölkern in der Antike müssen diese Forderungen sehr seltsam geklungen haben, ja sie waren in gewisser Weise revolutionär. Selbst der König ist an das Gesetz gebunden, steht unter ihm und muss ein Beispiel des Gehorsams geben! Alle Vertreter der Obrigkeit stehen unter der Autorität des offenbarten Wortes Gottes. Und der König auf dem Thron bleibt der Bruder seiner Untertanen!

Auch andere Stellen in dem Mose-Büchern wie Dt 4,1–8 machen deutlich: Die Grundlage des Bundes des Volkes mit Gott ist das Gesetz. Mose war der Führer des Volkes, aber tatsächlich herrschte nicht eine Person, sondern das Recht. Daher schmückt nicht Macht und Gewalt ein Volk, sondern das Gesetz und Recht.

3. Die Obrigkeit neben den anderen Mandaten. Es gibt vier voneinander unabhängige, von Gott eingesetzte Ordnungen (hier werden in der Theologiegeschichte auch andere Begriffe gebraucht wie Stände, Bünde oder Regimenter) nämlich Ehe, Arbeit, Kirche sowie Obrigkeit oder Staat. Jeder Christ ist in diese Ordnungen hineingestellt. Sie sind der Ort der Verantwortung, wo der Glaube auszuleben ist. Dietrich Bonhoeffer:

„Gottes in Jesus Christus geoffenbartes Gebot… begegnet uns in vier verschiedenen… Gestalten: in der Kirche, in Ehe und Familie, in der Kultur, in der Obrigkeit… Unter Mandat verstehen wir den… durch die Schrift bezeugten göttlichen Auftrag,… die Verleihung göttlicher Autorität an eine irdische Instanz…. Der Träger des Mandats handelt in Stellvertretung, als Platzhalter des Auftraggebers [d.h. Gottes]… Die göttlichen Mandate hängen alle an Gottes einem Gebot, wie es in Christus offenbart ist. Sie sind von oben her in die Welt hineingesenkt als Gliederungen – ‘Ordnungen’ –, der Christuswirklichkeit… Sie sind also keinesfalls aus der Geschichte herausgewachsen, sie sind nicht irdische Mächte, sondern göttliche Aufträge.“ (Ethik)

Gott hat den Mandaten diese unterschiedlichen Aufgaben übertragen. Der Familie sind Fortpflanzung und Erziehung geboten, der Kirche Predigt, Evangelisation, Seelsorge usw., der Wirtschaft Produktion und Wohlstandsmehrung. Die spezielle Aufgabe des Staates ist das „Schwert“ (Röm 13,4), und zwar das sichtbare Schwert. Damit ist die Wahrung der  Ordnung, Gerechtigkeit und Sicherheit gemeint. Wir persönlich dürfen uns nicht rächen, Böses mit Bösem vergelten (Röm 12,17.19), der Staat dagegen muss die Verbrecher bestrafen (1 Pt 2,14). Wir sind zum Frieden „mit allen Menschen“ (Röm 12,18) berufen, doch die Obrigkeit soll „Trägerin der richterlichen Gewalt“ sein (NGÜ), in seinem Namen das „Strafgericht“ (Luther) an den Übeltätern vollziehen (Röm 13,4). Hauptaufgabe des Staates ist daher die innere und äußere Sicherheit, daneben vor allem auch die gerechte Gerichtsbarkeit.

Der Staat hat also von Gott vorgegebene Aufgaben, die aber recht eng begrenzt sind. Er steht eben in einer Reihe mit den anderen göttlichen Ordnungen und darf nicht deren Aufgaben an sich reißen. So darf er vor allem der „Seele kein Gesetz geben“ (Luther), d.h. in das Gewissen hineinregieren. Eine Entmündigung von Familie, Kirche und Wirtschaft durch den Staat ist hochgefährlich. Ergeht sich die Obrigkeit in Allmachtsphantasien, vernachlässigt sie absurderweise meist ihre Pflicht, die Guten zu schützen und die Bösen zu bestrafen.

Der schuldige Gehorsam – und Ungehorsam

Die Reformatoren hatten eine recht hohe Sicht der bürgerlichen Gewalt, Reformator Calvin nennt sie sogar „heilig“ und „im ganzen Leben der Sterblichen von allen die bei weitem ehrenvollste“ (Inst. IV,20,4). Man solle sich hüten, die Obrigkeit „zu verachten oder zu schänden – selbst wenn sie bei ganz unwürdigen Menschen liegt und bei solchen, die sie durch ihre Bosheit… mit Schmutz bewerfen“ (Inst. IV,20,31).

Auch Amtsträger im Staat sind Sünder, denen zu gehorchen ist. Nichtgläubigen in der Kirche ist keineswegs zu folgen, doch im Staat gilt dies nicht. Das Westminster-Bekenntnis von 1647 folgt Calvin: „Unglaube und Verschiedenheit der Religion machen die gerechte und gesetzliche Autorität der Obrigkeiten nicht ungültig, noch befreien sie das Volk von seinem schuldigen Gehorsam gegen sie, wovon auch kirchliche Personen nicht ausgenommen sind…“ (23.4) Ähnlich unterstreicht auch das Niederländische Bekenntnis (1561): Auch Christen und alle Geistlichen müssen sich „den gesetzmäßigen Obrigkeiten unterwerfen, ihnen Zoll und Abgaben bezahlen und ihnen in allem folgen und gehorchen, was dem Worte Gottes nicht widerstreitet“ (36).

Kein Pastor hat daher einen Freibrief, geschmugelten Diesel in seinen Tank zu füllen. Kein Missionar hat das Recht, seine Kinder einfach nicht zur öffentlichen Schule zu schicken, obwohl rechtmäßige Gesetze des Staates wie in Litauen dies fordern. Kein gläubiger Unternehmer darf Steuern und Abgaben hinterziehen, um mehr Geld für Spenden an die Gemeinde zu haben. Die Grenze ist überschritten und unser Gehorsam erst dann nicht mehr geboten, wenn – wie das Niederländische Bekenntnis sagt – der Staat etwas verlangt, was dem Wort Gottes widerspricht. Genauer formuliert: Ungehorsam ist gegenüber Gesetzen und Verordnungen erlaubt, die uns zwingen, Böses zu tun bzw. ein Gebot Gottes zu übertreten.

Weil der Staat Gott und dem Recht untersteht und keinesfalls absolut ist, finden wir in der Bibel nicht wenige Beispiele solch zivilen Ungehorsams. Sieben bekannte seien hier genannt: Die Weigerung, unschuldige Babys zu töten (Ex 1, 15–21); der Schutz der hebräischen Kundschafter durch die Hure Rahab (Jos 2, 1–14); der Schutz von Propheten vor der Königen Isebel durch Obadja (1 Kön 18,4); die Zurechtweisung des jüdischen Königs Usija durch die Priester (2 Chr 26,16–18); Daniels Weigerung, einen Götzen und den König anzubeten (Dan 3 und 6); die Weigerung der Apostel, die Verkündigung des Evangeliums zu beenden (Apg 4,18–19); die Weigerung, den Antichristen anzubeten (Off 2,11; 12,11; 13,4).

In allen Beispielen finden wir jeweils das gleiche Muster: Eine Obrigkeit befiehlt etwas, das die Hebräer, Juden bzw. Christen zwingt, entgegen ihrem Glauben und gegen den offenbarten Willen Gottes zu handeln. Gott hat in seinem Wort befohlen, dass wir nur Ihn und nicht Götzen anbeten sollen; dass wir nicht unschuldige Menschen töten dürfen; und dass wir die Pflicht haben, das Evangelium zu verkündigen. Dem widergöttlichen Befehl folgt ein konkreter Akt des Ungehorsams. Und schließlich stimmt Gott dem Ungehorsam zu und billigt das Verhalten der Gläubigen (zum Teil direkt, zum Teil aus dem Kontext zu folgern).

In der Praxis des Lebens kann es mitunter sehr schwierig sein, das oben genannte Prinzip umzusetzen. Die Jesuiten rangen im 18. Jhdt. in China mit der Frage, wie weit sie bei der Demonstration von Achtung für den gottgleichen Kaiser des Landes gehen konnten. Wo ist die genaue Grenzlinie zwischen Respekt, den die Kultur verlangt, und Götzendienst, den der Glaube verbietet? Manche Christen in der Sowjetunion weigerten sich, ihre Gemeinden registrieren zu lassen, andere sprachen sich für mehr Kooperation mit dem Staat aus. Diese Konflikte spalteten ganze Kirchen, wer aber hatte nun Recht? Um der Wahrheit willen und um Verbrechen des Staates zu verhindern oder offenzulegen, haben auch Christen immer wieder Geheimnisverrat begangen. Wenn aber dadurch andere unschuldige Menschen gefährdet werden? – Immer ist in all diesen komplizierten Fragen weises Abwägen nötig!

Die Bibel gibt uns kein Beispiel für eine Revolte gegen eine tatsächlich oder vermeintlich böse Regierung. Ihr allgemeines Muster heißt: keinen Gesetzen gehorchen, die uns zu eindeutig Bösem zwingen; Aufruf zu gewaltsamem Widerstand, Revolte und Revolution kennt die Bibel nicht (s. z.B. Spr 24,21). Wir sollen vielmehr die Strafen für zivilen Ungehorsam auf uns nehmen (Daniel, Apostel). Daneben besteht noch die Möglichkeit, vor bösen Herrschern zu fliehen, wie das Beispiel des Volkes Israel (Flucht aus Ägypten) und mancher Propheten (Obadja, Elia) zeigt. Auch der Protest ist natürlich möglich (s. z.B. 1 Sam 14,43–46; 1 Kön 12,9–19).

Christen sind – wie ihr Herr – zum leidenden Erdulden berufen, müssen aber nicht immer passiv bleiben. Neben Ungehorsam, Flucht und Aushalten haben wir folgende Möglichkeiten wie das Tun des Guten (Jer 29,7; 1 Pt 2,15; Gal 6,10; Tit 3,1), das Gebet für böse Regierungen (1 Tim 2,1–2) und die Teilnahme an Wahlen und dem politischen Geschehen. Zur Zeit des NT konnten die Christen kaum etwas an den politischen Umständen ändern. Wir können heute aber nicht nur für den Kaiser beten, wir können ihn, nämlich die Staatsspitze, wählen! Wir können und sollen gegen politische Ungerechtigkeiten öffentlich protestieren und sind frei, Böses aktiv im Rahmen der Gesetze zu bekämpfen.

Tyrannen – erdulden oder beseitigen?

Gibt es also überhaupt keine legitimen Revolutionen? Was ist mit Tyrannen? Sind sie nicht unter Umständen vom Thron zu stoßen? Und von wem?

Diese Fragen wurden von den Konfessionen durchaus unterschiedlich beantwortet. Luther betonte in Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können (1526), dass eine tyrannische Herrschaft erlitten werden soll, „denn wenn es gebilligt wird, Tyrannen zu ermorden oder zu verjagen, es bald einreißt und ein allgemeiner Mutwille daraus wird, dass man Tyrannen schilt, die nicht Tyrannen sind, und sie auch ermordet, wie es dem Pöbel in den Sinn kommt“. Luther hatte hier natürlich den Bauernkrieg im Jahr zuvor vor Augen. Er glaubte einfach nicht an irgendeine Besserung durch den Sturz von Tyrannen, denn „in einem jeden stecken mehr als fünf Tyrannen“, und: „ein böser Tyrann ist erträglicher als ein böser Krieg“. Die einzige Möglichkeit eines Machtwechsels sah er in dem Eingreifen einer „fremden Obrigkeit“ von Außen.

Auch Calvin hatte einen Horror vor Anarchie, aber er sah die Tyrannei deutlich negativer als Luther. Ein Tyrann ist, so Calvin, ein Herrscher außer Kontrolle; Tyrannei ist eine Perversion der Ordnung, eine Verletzung der Menschwürde. „Wenn in der Tyrannei das Streben nach Gerechtigkeit verloren gegangen ist, sind ihrer Bosheit keine Grenzen gesetzt;… und Schmeichler stacheln sie noch an, indem sie behaupten, der einfachste Weg die Untertanen zu kontrollieren und still zu halten sei es, diese zu unterdrücken, so dass sie es nicht einmal wagen, den Mund zu öffnen; und wenn sie sich beschweren oder murren, dann sollen sie streng behandelt werden und zur Knechtschaft gehärtet werden…“ (Comm. Ex. 5,9)

Calvin greift dies Thema auch ganz am Schluss seiner Institutio auf (IV, 20, 31). Der einfache Bürger solle sich vor Verachtung der Obrigkeit hüten; er hat „keine andere Weisung, als zu gehorchen und zu leiden“. Das gemeine Volk – der Pöbel in Luthers Worten – darf keinen Tyrannen stürzen. Ganz anders die Amtsträger im Staat oder Volksvertreter: Sie haben sogar die Pflicht, der „Willkür der Könige“ und deren „Ungebundenheit“ ein Ende zu setzen: „Wenn sie Königen, die maßlos wüten und das niedrige Volk quälen, durch die Finger sehen, so ist solch ihr absichtliches Übersehen immerhin nicht frei von schändlicher Treulosigkeit; denn sie verraten ja in schnödem Betrug die Freiheit des Volkes, zu deren Hütern sie, wie sie wohl wissen, durch Gottes Anordnung eingesetzt sind!“

In diesen Sätzen spiegelt sich natürlich die Erfahrung der Unterdrückung der Evangelischen in Calvins Heimat Frankreich wieder. Die Protestanten in Deutschland genossen meist den Schutz der ihnen wohlgesonnen Fürsten. Die Hugenotten waren jedoch direkt mit einer feindlichen Obrigkeit konfrontiert. So wundert es nicht, dass aus der Feder von Franzosen wichtige Werke der Widerstandstheorie stammen: Calvins Nachfolger Theodor von Beza verfasste 1574 Du droit des magistrats (Vom Recht der Obrigkeit); ein anonymer hugenottischer Autor Vindiciae contra tyrannos (Verteidigung [der Freiheit] gegen die Tyrannen), das erstmals 1579 in Basel erschien. Hier seien auch die Werke der Flüchtlinge vor der Herrschaft der Katholikin Maria I in England (1553–58) genannt: John Ponets Short Treatise on Politique Power (1556) oder Christopher Goodmans How Superior Powers Ought to be Obeyed (1558).

Mitte des folgenden Jahrhunderts gelangten diese Fragen erneut auf die Tagesordnung, als König Charles I (1625–1642) sich immer absolutistischer gebärdete. Das englische Parlament widerstand ihm und den Monarchisten; der Konflikt führte schließlich zum Bürgerkrieg. Auf diesem Hintergrund schrieb der schottische Calvinist Samuel Rutherford (1600–1661), einer der Delegierten bei der Westminster Assembly 1643–1647, eine der wichtigsten Schriften der politischen Ethik überhaupt: Lex, Rex: The Law and the Prince (s.o. das Titelblatt der Erstausgabe). Der lateinische Titel ist Programm – das Gesetz ist König und nicht umgekehrt der König das lebende Gesetz (wie Charles dies sah); das Gesetz steht über dem König und nicht anders herum.

Lex, Rex ist in 44 „Questions“ (Fragen) mit zahlreichen Untergliederungen aufgeteilt,  in denen Rutherford die Argumente der Royalisten im Detail analysiert. Dabei greift er auf klassische Autoren, das Naturrecht und die Bibel zurück. Rutherford betonte, dass sich die Macht der Könige vom Volk herleitet: „Diejenigen, die den König einsetzen und so auch die Macht haben, ihm im Fall der Tyrannei abzusetzen, stehen im Hinblick auf die Regierungsgewalt über dem König” (Q 21, Arg 9). Die Macht der Herrschenden ist eine geliehene: „Die Gewalt des Königs ist eine treuhänderische, auf Vertrauen hin in seine Hand gelegt; daher ist sie eine dienende und geliehen…“ (Arg 11). Absolute Gewalt eines Menschen, um die Bürger zu tyrannisieren und zu unterdrücken, ist nicht von Gott (Q 22, Arg 3); sie ist als solche Tyrannei (Q 22) und ein „Werk des Satans“ (Q 9). Zwar sind Christen zur Geduld unter bösen Herrschern aufgerufen, aber anders als Luther sieht Rutherford nicht, dass uns die Bibel immer zur Hinnahme einer Tyrannei – bis hin zum physischen Tod – auffordert (Q 28, Arg 2), im Gegenteil: „Wenn ein Gesetz oder König für das Volk zerstörerisch sind, sind sie abzuschaffen“ (Q 25).

Rutherfords Werk war im angelsächsischen Raum sehr einflussreich. Sein Echo ist noch in der Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 zu hören. Der Schöpfer, Gott, hat alle Menschen mit „unveräußerlichen Rechten“ ausgestattet: „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“, so die berühmte Formulierung. Regierungen sollen diese Rechte schützen. Wie schon Rutherford schreibt Autor Thomas Jefferson, dass die Regierungen „ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten“ herleiten. Wenn eine Regierung sich im Hinblick auf diese Zwecke als zerstörerisch erweist, ist es das Recht der Bürger, „sie zu verändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen“. Natürlich, so die Präambel, sollen Regierungen nicht voreilig wegen leichter Vergehen abgesetzt werden. Erst wenn eine „lange Reihe von Misshandlungen und gewaltsamen Eingriffen“ vorliegt und „unumschränkte Herrschaft“ droht, dann ist es der Bürger „Recht, ja ihre Pflicht, solche Regierung abzuwerfen“.

In der Traditionslinie von Rutherford steht auch Francis Schaeffer (1912–1984), der in A Christian Manifesto, einem seiner letzten Bücher, auf die Frage des zivilen Ungehorsams eingeht und auch auf den Schotten und Lex, Rex zurückgreift. Schaeffer ist wie schon die Reformatoren und Rutherford überzeugt, dass sich der Staat und dessen Gesetze dem moralischen Gesetz Gottes unterordnen müssen. Wenn der Staat jedoch entschlossen dieses ethische Fundament angreift und zerstört, dann ist Protest und Widerstand geboten. Wie in der Unabhängigkeitserklärung, die Schaeffer auch zitiert, hält Schaeffer ein Eingreifen erst dann für geboten, wenn die „grundlegende“ oder „ganze Struktur“ der Gesellschaft bzw. des Staates gefährdet ist. So auch schon Rutherford: Tyrann ist der derjenige, der sich geradezu „gewohnheitsmäßig am allgemeinen Wohl seiner Untertanen versündigt und das Recht auf den Kopf stellt“ (Q 23).

Dem Rad in die Speichen fallen

Mit diesen Fragen hatte schließlich auch der schon zitierte Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) zu ringen, einer der bekanntesten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Wegen seiner Beteiligung am Widerstand gegen Hitler saß dieser ab 1943 im Gefängnis und wurde nur wenige Wochen vor Kriegsende hingerichtet. Bonhoeffer wusste um die Attentatspläne gegen die Nazi-Führung, seine Aufgabe war aber die internationale Widerstands-‘Diplomatie’. Indirekt war der deutsche Pfarrer so in den Versuch des Tyrannenmordes eingebunden.

Wie kam Bonhoeffer zu der Erkenntnis, dass ein aktives Eingreifen gegen den Diktator und seine Clique nötig ist? Er hatte, wie das Zitat oben zeigt, eine sehr hohe Sicht der Obrigkeit. Er sah diese als solche keineswegs als satanisch an. „Die Welt ist nicht zwischen Christus und dem Teufel aufgeteilt, sondern sie ist ganz und gar die Welt Christi, ob sie es erkennt oder nicht“, so in der Ethik (während des Krieges geschrieben und unvollendet geblieben). Bonhoeffer lehnte das Trennen desweltlichen von einem christlichen Raum ab, es gibt nur „den einen Raum der Christuswirklichkeit“ und „kein wirkliches Christsein außerhalb der Wirklichkeit der Welt“. Damit verbietet sich der Rückzug ins Ghetto der Kirche. „Jeder Versuch der Welt auszuweichen, muss früher oder später mit einem sündigen Verfall an die Welt bezahlt werden“, so Bonhoeffer warnend.

Der Staat als solcher ist nicht Instrument des Satans, seine Gewaltmittel sind keineswegs teuflisch. Doch er kann leider zum Handlanger des Widersachers werden! Bonhoeffer sah schon früh in der Ideologie der Nationalsozialisten den Aufbruch aus der Tiefe, den Aufstand der Massen, des Kollektivs, die völlige Zucht- und Gesetzlosigkeit oder mit anderen Worten: das Dämonische. Wenn dem Kollektiv (dem Volk) als Gott der Einzelne geopfert wird, „wird das Leben ausgelöscht“ (Ethik).

1941 schrieb Bonhoeffer: „Das Sein der Obrigkeit ist verbunden mit ihrem göttlichen Auftrag. Nur in der Erfüllung des Auftrags erfüllt sich ihr Sein.“ Ein „völliger Abfall von ihrem Auftrag“ stellt dann aber auch das Sein der Obrigkeit in Frage, d.h. ein Staat, der seinen Auftrag ins Gegenteil verkehrt, verliert seinen Status als von Gott gewollte Obrigkeit.

An sich, so Bonhoeffer, ist die Gehorsamsforderung der Obrigkeit unbedingt. Doch er sah, wie das Leben zerstört wurde, massenweise Unschuldige in Gefängnisse und Konzentrationslager wanderten, ja kaltblütig ermordet wurden und sich an der Staatsspitze Verbrecher tummelten. Er sah den „totalen Vernichtungskrieg, in dem alles – auch das Verbrechen – gerechtfertigt wird.“ Wenn die Obrigkeit so offenkundig und radikal ihren göttlichen Auftrag verleugnet, dann wird sie „ihres Anspruchs auf Gehorsam verlustig“. Und dann kann es nötig werden, so schon im Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“ Jahre vor dem Krieg, „dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“, d.h. mit gewaltsamen Mittel aktiv zu werden.

„Dieser völlige Abfall ist durch Gottes Vorsehung nur als endgeschichtliches Geschehen möglich“, so Bonhoeffer, also in der Geschichte äußerst selten. Hitler war für ihn eine „Verkörperung des Antichrist“, wenn auch nicht der Antichrist selbst. Dieses Recht, dämonische Tyrannen zu beseitigen, ist also das letzte Mittel und in seltenen Grenzfällen erlaubt. Hauptverantwortlich für Widerstand gegen ein mörderisches Regime sind dann aber vor allem Träger von staatlicher Autorität in Armee und Staatsapparat. Diese können im Namen der Allgemeinheit handeln und vor allem mit viel höherer Wahrscheinlichkeit einen erfolgreichen Aufstand durchführen. Im Fall Hitlers war ja auch ein Attentat mit einem Staatsstreich verbunden (leider scheiterte dieser am 20. Juli 1944); die bloße Ermordung des Diktators hätte nur einen anderen Nazi an seine Stelle rücken lassen.

Da das Gebot Jesu Christi der ganzen Welt gilt und Gottes Wort über allen Herrschaften steht, so hat die Kirche auch staatliche Obrigkeit an das Recht und die Freiheit unter Gott zu erinnern. In einem der eindrücklichsten Abschnitte der Ethik schreibt Bonhoeffer jedoch, und hier hat er natürlich auch seine Kirche zur Zeit des Nationalsozialismus im Blick:

„Die Kirche bekennt, ihre Verkündigung von dem einen Gott, der sich in Christus für alle Zeiten offenbart hat und der keine anderen Götter neben sich leidet, nicht offen und deutlich genug ausgerichtet zu haben. Sie bekennt ihre Furchtsamkeit, ihr Abweichen, ihre gefährlichen Zugeständnisse. Sie hat ihr Wächteramt und ihr Trostamt oftmals verleugnet… Sie war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie… Sie hat es mitangesehen, dass unter dem Deckmantel des Namens Christi Gewalttat und Unrecht geschah… Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß, Mord, gesehen zu haben ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen.“

Bonhoeffer sah dagegen in der Welt seinen „Bereich der konkreten Verantwortung“, sah sich von Gott „zu gehorsamer und verantwortlicher Tat gerufen“, und er fand seinen Weg „im Glauben und in alleiniger Bindung an Gott“ (Widerstand und Ergebung) – auch wenn er nicht mit Erfolg gekrönt wurde.

Eine kürzere litauische Version des Beitrags erschien in diesem Journal und ist hier zu finden.