Gandhi in der Hölle?

Gandhi in der Hölle?

Gibt es Rettung außerhalb der Kirche?

„Und wenn es keine Hölle gibt?“ titelte „Time“ im April 2011. Das US-Magazin widmete die Titelstory Rob Bell und seinem damals druckfrischen Buch Love Wins (die Liebe wird siegen; Titel der dt. Ausgabe: Das letzte Wort hat die Liebe), das noch vor seinem Erscheinen Ende März eine stürmische Debatte unter Christen ausgelöst hatte – in den USA und weit darüber hinaus.

Der heute 43jährige Autor und Pastor, Gründer und bis Ende 2011 Leiter der Mars Hill Bible Church in Grandville (Michigan, USA), sagt in dem Buch „über Himmel, Hölle und das Schicksal jedes Menschen, der je gelebt hat“ (so der Untertitel) eigentlich nichts, was man nicht schon irgendwann gehört und gelesen hätte. Neu ist die Art der Präsentation. So bombardiert Bell seine Leser z.B. mit einer Masse von Fragen (etwa 350 insg.) im Stil von „kann ein liebender Gott jemanden für immer in der Hölle quälen?“

Bell bekennt sich zum „historischen, orthodoxen, christlichen Glauben“, wie er sonst schon mehrfach behauptete, will also theologisch kein liberaler Modernist sein. Er rechnet sich der evangelikalen Tradition zu. Neu ist außerdem aber die scharfe Kritik, mit der er die traditionelle Lehre über Himmel und Hölle überzieht. Im Vorwort über die Hauptbotschaft des Buches (übersetzt aus der US-Ausgabe vom Autor, HL):

„Dies Liebe drängt uns einige der dominierenden Jesus-Geschichten, die uns heute erzählt werden, zu hinterfragen. Einer unglaublich großen Zahl von Menschen wurde gelehrt, dass eine ausgewählte kleine Zahl von Christen die Ewigkeit an einem friedlichen, freudevollen Ort verbringen werde, der Himmel genannt wird, und der Rest der Menschheit verbringt die Ewigkeit in Qual und Strafe in der Hölle – ohne Aussicht auf Änderung. Es wurde vielen eindeutig zu verstehen gegeben, dass dies eine zentrale Wahrheit des christlichen Glaubens sei; wer dies ablehne, lehne Jesus ab. Doch dies ist irrig und vergiftend [!] und unterhöhlt letztlich die Ausbreitung von Jesu ansteckender Botschaft von Liebe, Frieden, Vergebung und Freude, die unsere Welt so verzweifelt hören muss.“

Im ersten Kapitel erzählt Bell von einer Ausstellung in seiner Kirche zum Thema Frieden Schaffen. Ein Zitat von Mahatma Gandhi wurde von einem Besucher auf einer Klebenotiz so kommentiert: „Realitätstest: Er ist in der Hölle“. Bell fragt nun: „Wirklich? Gandhi in der Hölle? Ist er das? Haben wir dafür eine Bestätigung? Weiß dies jemand? Ohne Zweifel?“ Und wieder: werden nur einige wenige gerettet und…

„jeder andere leidet für immer unter Qual und Strafe? Ist das für Gott akzeptabel? Hat Gott Millionen Menschen über zigtausende Jahre hinweg dazu geschaffen, die Ewigkeit in Verderbnis zu verbringen? Kann Gott dies tun oder es zulassen und immer noch behaupten, ein liebender Gott zu sein? Straft Gott Menschen für tausende Jahre mit unendlicher, nicht endender Qual für Dinge, die sie in ihren wenigen begrenzten Jahren des Lebens taten?“

In diesem Stil geht es im ganzen Buch weiter: eine Reihe manipulativer Fragen, aber wenig fundierte Auseinandersetzung in der Sache. Es scheint geradezu selbstverständlich, dass Gandhi den Himmel verdient hat – ein Gedanke, der einem übrigens schnell abhanden kommt, würde man sich einmal etwas näher mit dessen Leben beschäftigen und z.B. Joseph Lelyvelds neue Gandhi-Biografie studieren (Great Soul: Mahatma Gandhi And His Struggle With India).

Doch solide Argumentation (und auch Exegese) ist nicht Bells Sache. Er ist ein begnadeter Kommunikator, und das heißt leider auch: er beherrscht die Kunst, seine Theologie auf unterschwellige Weise durchzudrücken wie in Fragen dieser Art: „Werden alle Menschen gerettet oder wird Gott am Ende nicht bekommen, was Gott will? Kann dieser großartige, mächtige und prächtige Gott schließlich scheitern?“ Nein, sicher nicht, „Gott ist nicht impotent“. „Dieser Gott gibt niemals auf. Niemals.“ Und das gilt auch für das Jenseits, auch dort wird seine Liebe „schließlich auch das härteste Herz erweichen.“

Es sind sehr häufig falsche Alternativen, die Bell aufbaut: „Ist Gott unser Versorger, unser Beschützer, unser Vater – oder ist Gott solch ein Richter, der am Ende erklärt, dass wir es verdient haben, für immer von unserem Vater getrennt zu sein?“ Sehr häufig wird die traditionelle christliche Position in einer Weise dargestellt, dass man nur widersprechen kann: „Wird Gott am Ende sagen: ‘Na schön, ich hab’s versucht, mein Bestes gegeben, und manchmal muss man eben mit seinem Versagen zurecht kommen’.“

Hier ist nicht der Ort Bells Thesen im Einzelnen zu untersuchen (s. dazu eine Kritik von Tim Challies auf TheoBlog). Es sei nur seine Sicht der Kirche und ihrer Aufgabe herausgegriffen.

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Wie vielfach heutzutage unterschiedet Bell scharf zwischen Jesus und dem Christentum: Jesus rettet, nicht das Christentum. In typisch postmoderner Unbestimmtheit schreibt er: „Er [Jesus] kam nicht, um eine neue Religion zu beginnen… Er wird immer alle möglichen bisher geschaffenen Käfige und Etiketten übersteigen, die ihn einschließen und ihm einen Namen geben sollen, und dies gilt vor allem für den als ‘Christentum’ bezeichneten.“ Jesus Stellung über allen menschlichen Systemen wird betont – wer würde dem widersprechen? Wie so oft beginnt Bell auch in den folgenden Sätzen mit allgemein Anerkanntem, verläuft sich dann jedoch in seltsame Schlussfolgerungen:

„Jesus ist überkulturell. Er ist in allen Kulturen gegenwärtig und dennoch außerhalb von ihnen. Er ist für alle Menschen da, und dennoch weigert er sich von einer einzelnen Kultur allein vereinnahmt und besessen zu werden. Das schließt die christliche Kultur ein. Jede Denomination. Jede Kirche. Jedes theologische System.“

Es immer dasselbe bei solchen postmodern geprägten Autoren: Es ist letztlich fast unmöglich genau zu sagen, was sie denn nun aussagen wollen und ‘wirklich’ damit meinen. Bei jedem biblisch orientierten Christen sollten aber in jedem Fall die Alarmglocken laut schlagen, wenn Bell gleich anschließend folgende These vertritt: Die „anderen Schafe“, d.h. Nachfolger Jesu, aus Johannes 10 seien Menschen in anderen Religionen. Kein, aber auch nicht ein namhafter Exeget und Bibelkommentator, der noch in irgendeiner Weise dem Wort Gottes treu sein will, vertritt diese Interpretation (Jesus meinte hier tatsächlich Heidenchristen).

Danach schildert Bell im Hinblick auf die Möglichkeit der Errettung die „exklusivistische“ (gerettet werden nur die, die Jesus als den Herrn bekennen) und die „inklusivistische“ Position (obwohl er bei letzterer tatsächlich die meist pluralistische genannte Auffassung wiedergibt): es gibt verschiedene Wege zum Heil, also nicht nur durch Jesus. Was er als dritten Weg dazwischen empfiehlt, ist die klassische inklusivistische Position: Allein Jesus rettet, aber in sein erlösendes Handeln werden auch die eingeschlossen, die sich zu Lebzeiten nicht ausdrücklich zu ihm bekennen.

Daher ist die Kirche für ihn natürlich nicht das große Rettungsboot außerhalb dessen man verloren ist. Sie ist für ihn eine Gemeinschaft von Gläubigen, die ihre Erfahrung in Riten, Sprache und Symbolen Ausdruck geben; die dem Mysterium, das in aller Welt gegenwärtig ist, einen sprachlichen Ausdruck geben. Die Kirche ist also der Ort, an dem auf „das Evangelium, das schon aller Kreatur unter dem Himmel angekündigt ist“, in besonderer Weise reagiert wird. Noch einmal: Die Botschaft vom Heil, das Evangelium, ist schon präsent in der Welt. Es ist also nicht mehr die primäre Aufgabe der Kirche und ihrer Glieder, dieses Evangelium einer Welt, die es nicht kennt, bekannt zu machen. Die Gute Nachricht wirkt auch so außerhalb der Kirche und der Reichweite ihrer Verkündigung, schafft Nachfolger Jesu, und „manchmal benutzen Menschen seinen Namen, manchmal nicht“.

Viele Fragen bleiben bei Bell (bewußt?!) offen. Studiert man jedoch weitere Vertreter der „emerging church“, ergibt sich ein fatales Muster der Verachtung organisierter Religiosität, ja der Kirche. So sucht auch Brian McLaren in A Generous Orthodoxy im Hinblick auf das Heil nach einem Mittelweg zwischen dem „wir sind drin und ihr seid draußen“ (Exklusivismus) und dem „alle sind drin“ (Universalismus). Er grenzt sich ab vom „alle Religionen sind gleich“; verneint, dass es egal sei, was man glaubt, die Wahrheit relativ sei usw. Ganz ähnlich wie bei Bell heißt es aber auch bei ihm:

„Missionaler christlicher Glaube bekräftigt, dass Jesus nicht kam, um einige Menschen zu retten und andere zu verdammen. Jesus kam nicht, um einige auf den rechten Weg zu bringen und alle anderen auf dem falschen zu belassen. Jesus kam nicht, um eine weitere exklusive Religion zu schaffen – erst das Judentum, das auf Herkunft beruht, und nun das Christentum, das durch den Glauben ausschließt.“

McLaren hält sich im Herzen für einen Evangelisten, denn dies sei seine Hauptaufgabe. Doch auf derselben Seite (!) stößt man erstaunlicherweise auch auf solche Sätze:

„Ich glaube nicht, dass das zu Jüngern Machen auch gleichzeitig bedeutet, dass man jemanden zu einem Anhänger der christlichen Religion macht. Es mag in vielen (aber nicht allen!) Fällen ratsam sein, Menschen zu helfen, Nachfolger Jesu zu werden und in ihrem buddhistischen, hinduistischen oder jüdischen Kontext zu bleiben.“

Bei liberalen Theologen und Vertretern eines pluralistischen Heilsverständnisses wie John Hick kann man so etwas schon lange lesen. Doch bei einem „Evangelisten“?! Ein paar Seiten weiter spricht er ausdrücklich von Nachfolgern Jesu in anderen Religionen; er hofft, dass „Buddhisten, Muslime, Christen und jedermann sonst das Leben in der Fülle auf dem Weg Jesu erfahren“. Die christliche Religion wird auch im folgenden Abschnitt in eine Reihe mit anderen gestellt:

„Obwohl ich nicht hoffe, dass alle Buddhisten (kulturelle) Christen werden, so hoffe ich, dass alle, die sich dazu berufen fühlen, buddhistische Nachfolger Jesu werden. Ich glaube, ihnen sollte die Möglichkeit dazu gegeben und sie sollten dazu eingeladen werden. Ich hoffe nicht, dass alle Juden oder Hindus Mitglied der christlichen Religion werden. Aber ich hoffe, dass alle so Berufenen jüdische oder hinduistische Nachfolger Jesu werden. Letztlich hoffe ich, dass Jesus den Buddhismus, den Islam und jede andere Religion rettet, das Christentum eingeschlossen, das die Errettung meist genau so nötig hat wie jede andere Religion auch.“

Die christliche Religion, die Kirche oder auch Christen (Bells Buch Jesus Wants to Save Christians) seien nun zu retten – das kann man nun öfter hören, und es klingt erstmal ganz christlich-demütig. Aber was soll man von all dem halten? Ist McLaren wirklich ein neuer großer Reformator der Christenheit à la Martin Luther wie Phyllis Tickle im Vorwort seines Buches zu verstehen gibt? Ich glaube nicht. Folgt die Kirche dem von ihm und Bell gewiesenen Pfad, wird sie sich schlicht überflüssig machen und auflösen. Hier nur vier Bemerkungen zur Kritik.

Bell, McLaren und andere selbsterklärten Retter des Christentums hacken herum auf ihrer Religion, sind aber erschreckend naiv im Hinblick auf nichtchristliche Religionen. So kann man bei dem belgischen Theologen J. Hansum im Artikel „Jesus-Muslime – eine (Un)Möglichkeit für Evangelikale?“ lesen: „Könnte es sein, dass Jesus möchte, dass diejenigen, die Jesus kennen, als wohlgefälliger Duft innerhalb ihrer Kultur bleiben, einschließlich der Religion ihrer Geburt, bis die Anzahl der Anhänger schließlich so groß wird, dass eine Reformbewegung innerhalb jener Religion geboren wird?“ („evangelikale missiologie“, 2008/3; hier wäre auch noch Miroslav Volfs Allah: A Christian Response zu nennen; der bekannte Theologe meint, man könne Christ und ‘praktizierender’ Muslime sein, d.h. in den äußeren Strukturen des Islam bleiben, zumindest einige Praktiken weiterführen.) Eine christliche Reformbewegung im Islam oder Hinduismus? Wie sieht denn die Jesus-Nachfolge in den anderen Religionen konkret aus? Was würden wohl Ex-Hindus und Ex-Muslime dazu sagen? Man mag über all so etwas spekulieren, sozial- oder religionswissenschaftliche Grundlagen dafür gibt es keinerlei (von den theologischen ganz zu schweigen).

Zweitens fällt auf, dass trotz allen Neuartigkeiten doch kaum wirklich Neues präsentiert wird. Man trifft die alten Häresien im Gefolge des Pelagius und die Allversöhnungslehre, die die Kirche meist als Versuchung begleitet hat. Viele Thesen des klassischen Liberalismus werden neu aufgekocht und nun unter neuer Verpackung verkauft. Die Saat, die unter den Evangelikalen vor allem Clark Pinnock (1937–2010) säte, geht nun auf. Der kanadische Theologe machte das Tor der Gnade weit auf und sah in A Wideness in God’s Mercy (1992) die Möglichkeit, dass Massen auch ohne Jesusbekenntnis gerettet werden können – schließlich werden „Menschen durch den Glauben gerettet, nicht durch den Inhalt ihrer Theologie“. Doch Glaube an was eigentlich? Rettet etwa Glaube als solcher? Hat der biblische Glaube nicht auch einen konkreten Inhalt? Schon bei Pinnock finden sich seltsame Umpolungen klassischer protestantischer Lehren: „Erwählung hat nichts [!] mit dem ewigen Heil von Individuen zu tun, sondern bezieht sich vielmehr auf Gottes Weg zur Rettung der Nationen.“

Wenn sich Bell in der Kontinuität des „historischen, orthodoxen“ Christentums sieht, dann ist dies nichts anderes als Augenwischerei. Dieser historische, orthodoxe Glaube bekennt mit Cyprian (3. Jhdt.): extra ecclesiam nulla salus  – außerhalb der Kirche gibt es kein Heil. Bell und Co. brechen also, drittens, mit dem Erbe des Christentums.

Die großen konfessionellen Gruppen, römische Katholiken, Orthodoxe und Protestanten, deuten den Satz des Kirchenvaters durchaus unterschiedlich. So betonen die Evangelischen, dass nicht die Kirche an sich und auch nicht Kirchenmitgliedschaft rettet. Doch der Grundgedanke wird auch von ihnen geteilt. Martin Luther: „Denn außer der christlichen Kirche ist keine Wahrheit, kein Christus, keine Seligkeit.“ In seinem Großen Katechismus schreibt der Reformator im Abschnitt „Von dem Glauben“ über den dritten Artikel des Apostolischen Bekenntnisses: „wo man nicht von Christus predigt, da ist kein heiliger Geist, welcher die christliche Kirche machet, berufet und zusammenbringet, außerhalb welcher niemand zu dem Herrn Christus kommen kann.“ (II,45) Und weiter:

„Darum scheiden und sondern diese Artikel des Glaubens uns Christen von allen andern Menschen auf Erden. Denn was außerhalb der Christenheit ist, es seien Heiden, Türken [d.h. Muslime], Juden oder falsche Christen und Heuchler, ob sie gleich nur einen wahrhaftigen Gott glauben und anbeten, so wissen sie doch nicht, wie er gegen sie gesinnet ist, können sich auch keiner Liebe noch Guten zu ihm versehen, darum sie in ewigem Zorn und Verdammnis bleiben. Denn sie haben den HERRN Christus nicht, sind dazu mit keinen Gaben durch den heiligen Geist erleuchtet und begnadet.“ (II,66)

Die reformierte Tradition sieht dies genauso. Im Niederländischen Bekenntnis wird die Kirche definiert als die „heilige Vereinigung oder Gemeinschaft aller gläubigen Christen, welche ihr ganzes Heil von dem einen Jesus Christus erwarten, gereinigt durch sein Blut und durch seinen Geist geheiligt und versiegelt“ (27 Art.). Im folgenden Artikel wird dann ausgeführt:

„Wir glauben, dass, da diese heilige Gemeinschaft aus denen besteht, die gerettet werden sollen und außer ihr kein Heil ist, keiner (welche Würde oder welchen Namen er auch haben mag) sich ihr entziehen oder von ihr trennen darf, um, nur mit seinem eignen Umgange zufrieden, allein und abgesondert zu leben, sondern dass alle und jeder verpflichtet sind, sich mit dieser Gemeinschaft zu verbinden und zu vereinigen…“

Das Zweite Helveticum, Bekenntnistext auch in der litauischen reformierten Kirche, vertritt dieselbe Lehre:

„Die Gemeinschaft mit der wahren Kirche schätzen wir aber so hoch, dass wir behaupten, niemand könne vor Gott leben, der mit der wahren Kirche Gottes keine Gemeinschaft pflege, sondern sich von ihr absondere. Denn wie außerhalb der Arche Noahs keine Rettung war, als die Menschheit in der Sintflut umkam, so glauben wir, dass außerhalb Christus, der sich den Erwählten in der Kirche zum Genusse darbietet, kein gewisses Heil vorhanden sei. Deshalb lehren wir, dass, wer leben will, sich von der wahren Kirche nicht absondern dürfe.“ (XVII,13)

Bullinger vergleicht hier die Kirche mit der Arche, einem Schiff. Das rettende Schiff war damals ein beliebtes Symbol der Kirche, gerade unter Reformierten, aber auch bei den Katholiken. Auch heute befindet sich im Logo des Weltrats der Kirchen ein Kreuz in einem Boot. Die Implikation dieses Bildes ist natürlich eindeutig: außerhalb des Schiffes ist man im tosenden Meer dem Untergang geweiht.

Schließlich sei auch noch das Westminster-Bekenntnis genannt. In 25,1 heißt es dort, die unsichtbare Kirche „besteht aus der gesamten Zahl der Erwählten“. Und in 25,2 über die sichtbare Kirche: Sie „besteht aus allen denen in der ganzen Welt, die die wahre Religion bekennen… Außerhalb von ihr gibt es keine ordentliche Möglichkeit der Errettung.“ Das Wort „ordentlich“ oder normal ist hier natürlich bewusst hinzugefügt. Denn sicher ist die Mitgliedschaft in einer sichtbaren Gemeinde keine absolute Notwendigkeit. Es lassen sich ja Fälle denken, dass eine Art Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel eine Bibel entdeckt, zum Glauben kommt und dann sicher auch ohne Kirche – eben auf außergewöhnliche Weise – errettet ist.

Natürlich ist Gott in seinem Handeln nicht absolut an die Kirche gebunden. Er könnte durchaus einem Menschen den Glauben direkt ohne jeder Verkündigung durch ein ‘menschliches Sprachrohr’ ins Herz hauchen. Doch er hat dies nicht verheißen und tut es allermeist nicht. Die Reformatoren haben auf der einen Seite den persönlichen Herzensglauben wiederentdeckt, den Gott selbst in uns schafft. Für sie ist die Kirche keine sakramentale Heilsanstalt, die nach eigenem Ermessen Gnade wie eine medizinische Substanz austeilen oder auch verweigern kann. Die Gnade Gottes, das Heil, bleibt grundsätzlich für die Kirche unverfügbar. Denn Gott bleibt eben frei und souverän in seiner gnädigen Zuwendung. Auf der anderen Seite haben sie aber betont, dass Gott Mittel gebraucht, um zu diesem Glauben zu rufen und im Glauben zu erhalten; dass der Heilige Geist durch das verkündigte Wort wirkt und nicht ohne es. Und diese Verkündigung findet vor allem im Rahmen (nicht unbedingt in den Mauern) der Kirche statt.

Diese Einsicht der Reformatoren wurde dann allerdings von manchen aus dem radikalen Flügel der Reformation missverstanden. Sie folgerten daraus, dass die Kirche samt ihrer „Gnadenmittel“ (das verkündigte Wort und die sichtbaren Zeichen des Wortes wie Taufe und Abendmahl) mehr oder weniger überflüssig sei. Mehr noch: Sie lehnten einen „vermittelten Glauben“ ab: Wenn Gott frei ist, durch seinen Geist zu wirken, dann sei er auch frei, direkt und ohne Mittel zu wirken.

Die Reformatoren widersprachen streng. Nicht zufällig gab Johannes Calvin dem Buch IV über die Kirche seiner Institutio die Überschrift „Von den äußeren Mitteln oder Beihilfen, mit denen uns Gott zu der Gemeinschaft mit Christus einlädt und in ihr erhält“ – Gott benutzt „äußere Mittel“, um das Heil auszuteilen. Das erste Kapitel ist überschrieben „Von der wahren Kirche, mit der wir die Einheit halten müssen, weil sie die Mutter aller Frommen ist“. Der Genfer Reformator: „Gewiss, Gott gibt uns den Glauben ins Herz – aber durch das Werkzeug seines Evangeliums.“ Gott hat die Macht selig zu machen, aber diese Macht entfaltet er „in der Predigt des Evangeliums“ (IV,1,5). Dort findet sich auch ein Satz, den so auch schon Cyprian formulierte: „Wer also Gott zum Vater hat, der muss auch die Kirche zur Mutter haben.“ (IV,1,1) Die Kirche, so Calvin, trägt den „Ehrennamen ‘Mutter’“:

„Denn es gibt für uns keinen anderen Weg ins Leben hinein, als dass sie uns in ihrem Schoß empfängt, uns gebiert, an ihrer Brust nährt und schließlich unter ihrer Hut und Leitung in Schutz nimmt, bis wir das sterbliche Fleisch von uns gelegt haben und den Engeln gleich sein werden (Mt 22,30). Denn unsere Schwachheit erträgt es auch nicht, daß wir von der Schule entlassen werden, ehe wir im ganzen Lauf unseres Lebens Schüler gewesen sind.“ (IV,1,4)

Das Bild der Kirche als Mutter ist sehr hilfreich. Es betont unsere Abhängigkeit und Schwachheit, Heranwachsen und Erziehung. Gott hätte – theoretisch – die Seinen „in einem einzigen Augenblick zur Vollendung kommen lassen können“, doch dies tat er nicht. Er wollte vielmehr, dass die Christen „allein durch die Erziehung der Kirche zum Mannesalter heranwachsen“. Gott erzieht in der Kirche zur Demut und stellt den Gehorsam auf die Probe. Vor allem aber kommt Gott „unserer Schwachheit zu Hilfe“, ernährt uns durch die Kirche. Es gilt, „dass alle, die diese geistliche Seelenspeise verschmähen, die ihnen von Gott durch die Hand der Kirche dargereicht wird, wert sind, dass sie an Hunger und Mangel zugrunde gehen.“ (IV,1,5)

Es sollte inzwischen deutlich geworden sein, dass Bell und McLaren keineswegs in der Tradition des historischen Protestantismus stehen. Viel mehr Seelenverwandtschaft in all diesen Fragen gibt es dagegen mit der heutigen römisch-katholischen Lehre. Das extra ecclesiam nulla salus wird bis heute meist als katholisches Prinzip empfunden. Und tatsächlich bekennt man sich in der Kirche Roms dazu wie Abschnitt 846 (unter der Überschrift „Außerhalb der Kirche kein Heil“) im Katholischen Katechismus deutlich macht. Dort wird aus dem Dokument „Lumen gentium“ des II Vaticanum (1962–65) zitiert. Die Kirche lehrt, „dass diese pilgernde Kirche zum Heile notwendig sei.“

Die große Wende dieses Konzils war jedoch, dass der Kirchenbegriff ungeheuer ausgedehnt und das Tor des Heils für Anhänger nichtchristlicher Religionen weit aufgestoßen wurde. Der Katechismus zitiert in 847 aus „Lumen gentium“ (16):

„Der Heilswille umfaßt aber auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslim, die sich zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott anbeten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten wird. Aber auch den anderen, die in Schatten und Bildern den unbekannten Gott suchen, auch solchen ist Gott nicht ferne, da er allen Leben und Atem und alles gibt (vgl. Apg 17,25-28) und als Erlöser will, daß alle Menschen gerettet werden (vgl. 1 Tim 2,4). Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluß der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen. Die göttliche Vorsehung verweigert auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch, nicht ohne die göttliche Gnade, ein rechtes Leben zu führen sich bemühen.“

Das II Vaticanum stellt nur die Möglichkeit des Heils für Anhänger nichtchristlicher Religionen fest, sagt noch nichts darüber, ob auch tatsächlich viele jenseits der Kirchen Erlösung finden werden. Aber natürlich ist es in diese Richtung gedeutet worden. So ist auch Pinnock geradezu begeistert über den „Geist der Weite“ in den Texten des Konzils. Seitdem ist in katholischen Dokumenten immer wieder zu lesen, dass in gewisser Weise die ganze Welt errettet ist. So heißt es in „Redemptor hominis“, der ersten Enzyklika von Johannes Paul II:

„Der Mensch – und zwar jeder Mensch ohne jede Ausnahme – ist von Christus erlöst worden. Christus ist mit jedem Menschen, ohne Ausnahme, in irgendeiner Weise verbunden, auch wenn sich der Mensch dessen nicht bewußt ist: ‘Christus, der für alle gestorben und auferstanden ist, schenkt dem Menschen’ – jedem einzelnen und allen zusammen – ‘fortwährend Licht und Kraft durch seinen Geist, damit er seiner höchsten Berufung entsprechen kann’  [Gaudium et spes, 10, zitierend].“ (14)

Drei Mal heißt es, dass jeder Mensch mit Christus verbunden ist – eindeutiger geht es nicht. Gerade der rerfomierte Roger Schutz, Gründer von Taizé, hat diese Sicht verbreitet („die Kirche im Herzen Gottes ist so weit wie die ganze Menschheit“). In W.P. Youngs Hütte wird sie ebenfalls propagiert („[Gott-Vater:] Durch Jesus habe ich allen Menschen die Sünden vergeben, die sie mir angetan haben…“).  Dallas Willard, Philosoph und einflussreicher Autor zum Thema Jüngerschaft, schreibt in Knowing Christ Today, dass viele, die nicht getauft oder Kirchenmitglieder sind oder die sich sonst wie nicht äußerlich zum Christentum bekennen, von Gott angenommen werden, „wenn sie das innerliche Herz haben, nach dem Gott sucht“. Und  nun bekräftigt Rob Bell: „Jesus vergibt allen, ohne dass sie darum bitten…. Vergebung ist einseitig.“ Das angeblich bessere, weil weitere Evangelium bringt er griffig auf den Punkt: „Jeder ist schon auf der Party“. Gandhi sicher auch.

Wer diesem Optimismus widerspricht, erscheint als liebloser Miesepeter, der die Gnade Gottes in die Kirchenmauern einschließt. Sei’s drum. Doch was soll das eigentlich für ein Optimismus sein? Es ist doch letztlich nur eine äußerst vage Hoffnung, dass das Heil auch außerhalb der Kirchen zu finden sei. Sollten nicht gerade Evangelische daran festhalten, dass die Kirche unsere einzige Mutter und Nahrung nur bei ihr zu finden ist? Warum sollte man dieses begründete Wissen eintauschen gegen einen Pseudooptimismus? Und warum sollten sich Evangelische ihr historisches Erbe der Lehre von der Kirche durch Import aus dem II Vaticanum verwässern lassen? Es gilt erneut darin zu erinnern: die Kirche ist das Schiff des Heils, durch sie wirkt Gott zur Rettung der Menschen. An dieser Gewissheit gilt es festzuhalten.