Recht, Gerechtigkeit und der Heidelberger Katechismus

Recht, Gerechtigkeit und der Heidelberger Katechismus

Beitrag zur Konsultation der reformierten Kirchen aus Litauen, Polen und Lippe, 19.09.2013 [dort gekürzt und auf Englisch]

Wie können sündige Menschen gerettet werden? Wie erlöst Gott den Menschen? Wie kommt Sein Heil zu uns? Fragen, die ganz im Zentrum des christlichen Glaubens stehen, denn schließlich geht es darum, wie man Christ wird. Fragen, auf die man eigentlich glasklare Antworten erwarten sollte. Doch die Theologie hat eine Krise des Rechts erreicht, so dass sie selbst mit den Kernbegriffen der Heilslehre kaum noch etwas anfangen kann. Darüber kann auch nicht der geradezu inflationäre Gebrauch des Begriffs Gerechtigkeit hinwegtäuschen, denn auch dieser wurde verwässert und entstellt. Eingangs einige Beispiele und ein Ausweg aus der Krise.

Frieden statt Gerechtigkeit?

Selbst die theologisch eher konservativen Evangelikalen denken inzwischen weitgehend jenseits aller Kategorien des Rechts. Auf www.jesus.de, immerhin eines der wichtigsten evangelikalen Portale in Deutschland mit prominentem Namen, wird unter „Geheimnisse des Glaubens“ in mehreren Schritten Nichtgläubigen das Wesen des Christentums erläutert (s. Ron Kubschs TheoBlog: „Die Armut sühneloser Theologie“). Unter der Überschrift „Gott ist ungerecht – und das ist gut so“ heißt es:

„‘Du bekommst, was du verdienst’, sagt der Volksmund. Aber würde Gott Schuld mit Strafe bezahlen lassen, wären wir alle verloren. Gott müsste um der Gerechtigkeit willen uns alle zur Rechenschaft ziehen. Was ist die gerechte Konsequenz für eine Lüge? Für eine Verleumdung? Für eine Vergewaltigung? Für einen Mord? Der Preis der Schuld ist der Tod, treibt es der Apostel Paulus auf die Spitze. Wäre Gott gerecht, wie wir Gerechtigkeit verstehen, müssten wir alle sterben.“

In diesen Sätzen wird natürlich manches Wahre ausgesagt. Schließlich gibt der Autor den Inhalt von Röm 6,23 wieder („der Sünde Sold ist der Tod“). Er gibt jedoch zu verstehen, dass dies Vergeltungsprinzip allein unser menschliches Handeln bestimme, Gott jedoch sich gerade anders verhält. Daher die Konjunktive „würde“, „müsste“, „wäre“. Weiter heißt es:

„Wenn Gott stattdessen unser reuiges Herz erhört, wenn er uns die Schuld vergibt (im Angesicht dessen, dem wir geschadet haben), dann handelt er im Grunde ungerecht – aber er handelt erlösend! Gott gleicht nicht die Schuld aus, sondern er schließt Frieden. Nur Vergebung kann den Teufelskreis aus Freiheit, Schuld und Gerechtigkeit aufbrechen. Deswegen schreibt Paulus: Die Menschen halten Gottes Gerechtigkeit für unlogisch. Gottes Gerechtigkeit ist nicht juristisch. Sie sorgt nicht für einen Ausgleich der Interessen, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Sie durchbricht die Spirale aus Gewalt und Gegengewalt. Sie schafft Frieden.“

In diesen attraktiv klingenden Sätzen bricht nun die Verachtung des Rechts und der Gerechtigkeit durch. Vergebung, Erlösung und Frieden werden in einen krassen Gegensatz zum Recht gestellt. Gottes Gerechtigkeit sei völlig anders, jenseits unserer Logik, „nicht juristisch“; Gott verhält sich „im Grunde“ nicht im Rahmen von rechtlichen Kategorien;  das Vergeltungsprinzip wird verworfen. All das ist nur insoweit richtig, dass Gott in allen Eigenschaften uns und unser Vorstellungsvermögen übersteigt. Seine Liebe ist höher als alle menschliche Liebe, und seine Gerechtigkeit natürlich nicht mit unseren Kategorien gleichzusetzen.

Auch wenn hier keine exakt ausformulierte Theologie vorliegt, ist der Tenor doch eindeutig: Erlösung geschieht an der Gerechtigkeit vorbei; Vergeltung, Strafe, Recht müssen zur Seite geschoben oder übergangen werden. Zum Leiden Christ am Kreuz:

„Als der Sohn Gottes sich um unserer Schuld willen unter uns Menschen demütigte, da passierte genau dies: Gott schloss Frieden mit uns. Frieden, der nicht durch erneute Schuld infrage gestellt wird. Frieden, der stärker ist als Ungerechtigkeit. Gott verzichtete auf die ihm zustehende Gerechtigkeit. Er brach den Teufelskreis auf. Und besiegt damit das Böse. Jesu Tod ist Gottes Angebot des Friedens an die Menschheit. Eines Friedens, aus dem neue, dauerhafte Gerechtigkeit erwächst.“

Natürlich erniedrigte sich Christus auf Erden und besonders am Kreuz (Phil 2,8). Doch hier wird gar nicht gesagt, wie genau es „passierte“, dass Gott Frieden mit uns schloss. Wie und warum rettet denn das Kreuz? Gott hätte auf seine Gerechtigkeit verzichtet – das ist die einzig substantielle Antwort. Um es klar zu sagen: Solch ein Satz zerstört das Herz der Erlösungslehre! Denn wie sollte eine biblische Begründung aussehen? An dieser entscheidenden Stelle wird implizit ausgesagt: Gott schaut über die Sünde hinweg.

Die Zusammenfassung des ganzen Abschnittes lautet dann so: „Gott sitzt zwischen den Stühlen: Will er gerecht sein, könnten wir nicht leben. Deshalb geht Gott nicht den Weg der Gerechtigkeit, sondern den Weg des Friedens.“ Der Friede siegt über die Gerechtigkeit. Das klingt ganz wie in The Shack / Die Hütte, wo es heißt: „Er [Christus] wählte den Weg des Kreuzes, wo um der Liebe willen die Barmherzigkeit und nicht die Gerechtigkeit triumphierte“.

„Allen das Gute“ und nicht „Jedem das Seine“?

Dass all dies auf www.jesus.de kein Ausrutscher war, zeigt folgendes Zitat auf der persönlichen Seite des Redakteurs Rolf Krüger (rolfkrueger.net) über die neue Konzeption von Gerechtigkeit:

„Unter ‘Gerechtigkeit’ verstehen wir, dass jeder das bekommt, was ihm zusteht und was er verdient: Der Dieb eine Geldstrafe, der Mörder lebenslänglich, der Ingenieur viel Gehalt, die Putzfrau wenig. Der Hebräer (und damit auch Jesus und die biblischen Schriften) verstehen unter Gerechtigkeit, wenn allen Gutes widerfährt. Der Weinbauer, der allen Tagelöhnern einen Denar gibt – egal ob sie Morgens oder Mittags angefangen haben – handelt in unserer Denke ungerecht. In der Denke Jesu handelt er gerecht. ‘Jedem das Seine’ vs. ‘allen das Gute’ – diesen  Unterschied müssen wir mitbedenken, wann immer wir über Gottes Gerechtigkeit sprechen.“

Krüger spielt an das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg im Mt 20 an. Sicher ist gleicher Lohn für unterschiedliche Arbeitszeit am selben Arbeitsplatz ungerecht – aber das ist ja gerade das Provozierende an der Geschichte. Doch in ihr geht es eben nicht um irdische Arbeitsverhältnisse, sondern um das „Himmelreich“ (V. 1). In diesem gelten natürlich nicht die genau gleichen Prinzipien wie in Wirtschaft, Familie oder Politik. Die Botschaft hier: Egal, wann wir mit dem Glauben beginnen, ob als Kind oder kurz vor dem Tod wie der Schächer am Kreuz – alle gelangen mit Jesus ins Paradies. Aber damit ist die Gerechtigkeit Gottes noch nicht eine völlig andere!  V. 13 weist ja eindeutig den Vorwurf des Unrechts zurück, und das auch noch mit den Worten „bist du nicht mit mir einig geworden…“, d.h. jeder bekommt das Seine.

Gottes Gerechtigkeit ist zweifellos eine andere als unsere – weil er Gott ist! Aber seine Gerechtigkeit steht nicht in einem diametralen Gegensatz zu unserer, sondern, wie schon gesagt, übersteigt oder transzendiert sie. Allen Gutes widerfahren lassen („Allen das Gute“) klingt nett, ist jedoch eine völlig unzureichende Definition von biblischer Gerechtigkeit, und im Aufwerfen von Gegensätzen sind Krügers Aussagen auch grundlegend falsch. Welch großen Bruch mit der Tradition die Sätze Krügers darstellen, wird deutlich, wenn man Eduard Böhls, Professor der reformierten Theologie in Wien, Sätze aus seiner Dogmatik (1887) liest: „Die Forderung, dass man den Bösen verurteilen soll, Deut. 25,1, und dass Gott denselben nicht gerecht sprechen werde, Exod. 23,7, zeigt, wie sehr Gott das suum cuique [lat. jedem das Seine] liebt.“

Doch an diese einseitige Sicht hat man sich schon gewöhnt, so dass auch im Just People?-Kurs der Micha-Initiative (1. Auflage) – obwohl der Gerechtigkeit als Hauptthema gewidmet! – nur eine einzige, aber ebenfalls mangelhafte Definition von Gerechtigkeit gegeben wird. Theologe Dietrich Walter wird aus dessen Werk Der rote Faden im Alten Testament zitiert:

„Gerechtigkeit ist die Wahrung oder Wiederherstellung ausgeglichener, wohltuend geordneter, lebensfreundlicher Verhältnisse – im menschlichen Zusammenleben wie in der Gottesbeziehung. Gottes Gerechtigkeit ist immer ‘parteiisch’: Sie umfasst ein Eintreten für jemanden und dabei insbesondere für die Schwachen, Unterdrückten, Armen.“

Diese Zitate verdeutlichen, welche gefährliche Verschiebung stattgefunden hat: Natürlich ist die göttliche Gerechtigkeit, die den Gläubigen geschenkt wird, eine wiederherstellende, natürlich ist sie das Gute schaffende und für manche ein Segen. Aber bezeichnet Wiederherstellung das Wesen der Gerechtigkeit? Ist Gerechtigkeit Wiederherstellung? Wie kann sich dann die Bibel so oft auf das Prinzip des Jedem-das-Seine beziehen (s. z.B. Ps 94,2; Spr 24,12; Jer 50,29; Obd 15; Hab 2,8; Mt 16,27; Röm 2,6; Gal 6,7–8)? Ähnliches wäre zu Georg Plasger zu bemerken, der in Glauben heute mit dem Heidelberger Katechismus Gerechtigkeit als „Gemeinschaftstreue“ definiert. Widerum ist das nicht abwegig (s. z.B. Neh 9,8), doch die etwa zwei Dutzend Vorkommen des hbr. zedekah, worauf sich Plasger bezieht, wollen zu dieser Deutung nicht so recht passen.

Problematisch bei Walter wie Plasger ist, dass die Gerechtigkeit in die Güte hinein aufgelöst wird. Natürlich sind die Eigenschaften Gottes miteinander verbunden, ja eng verbunden (man denke an das Bild vom Kuss der Gerechtigkeit und des Friedens, Ps 85,11); sie erklären sich gegenseitig, s. z.B. Ps 145,17: „Der Herr ist gerecht in allen seinen Wegen und gnädig in allen seinen Werken“. Doch diese richtige Erkenntnis darf nicht dazu führen, dass sie einfach gleichgesetzt werden – Gerechtigkeit ist nicht dasselbe wie Frieden oder Gnade. Der große niederländische Theologe Herman Bavinck (1854–1921):

„Obwohl Gerechtigkeit und Erlösung eng miteinander zusammenhängen, ist es falsch, sie austauschbar zu benutzen. Gerechtigkeit ist nicht das gleiche wie Zuneigung, Barmherzigkeit oder Gnade; und sie ist auch nicht mit Bundestreue gleichzusetzen… Gerechtigkeit ist und bleibt ein forensischer [rechtlicher] Begriff.“ (Reformed Dogmatics II: God and Creation)

Es ist wie so meist bei Irrlehren: etwas Wahres wird bekräftigt, aber zu viel und das Falsche wird geleugnet. Frieden, Wiederherstellung, Gemeinschaftstreue, Erlösung – all das ist von Gottes Gerechtigkeit nicht zu trennen. Wer wäre dagegen? Problematisch wird es, wenn Dinge geleugnet werden wie hier vor allem bei Krüger: keine Vergeltung, keine Strafe und kein Opfer, nicht juristisch, nicht das Recht und nicht Jedem-das-Seine.

(Diese neue Auffassung der Gerechtigkeit als Gemeinschafts- oder Bundestreue wird heute vor allem durch die Vertreter der “Neuen Paulusperspektive” wie N.T. Wright propagiert. Diese knüpfen widerum an E. Käsemanns und H. Cremers Neudefinitionen an. Zur Gerechtigkeit s. auch der entsprechende Abschnitt in diesem Beitrag. S. z.B. auch John Pipers Kritik in The Future of Justification: “God`s righteousness and love and faithfulness and goodness are not all synonyms.”)

Annahme jenseits des Gesetzes?

Welche gefährlichen Folgen die Verachtung des Rechts und die Aufweichung des Gerechtigkeitsbegriff haben, kann schließlich in Klaus Nürnbergers Beitrag „Neuer Wein in alten Schläuchen“ (Deutsches Pfarrerblatt, 5/2007) betrachtet werden. Der in Südafrika tätige deutsche Theologe formuliert dort noch schärfer: „Nicht das Recht Gottes, sondern sein Heilswille bestimmt unser Verhältnis zu Gott und zueinander.“ Und wieder: der Heilswille wird zurecht bekräftigt, aber warum wird das Recht verworfen? Obwohl selbst evangelisch verwirft er die protestantische Rechtfertigungslehre grundsätzlich:

„Rechtfertigung ist Gerechtsprechung eines Angeklagten vor Gericht, also Freispruch. Wenn ein Schuldiger gerecht gesprochen wird, ist das ein Fehlurteil, ein Justizirrtum. Ein Schuldiger kann auch nicht auf Grund der Unschuld eines anderen, etwa seiner unbescholtenen Frau, gerecht gesprochen werden. Dieser andere kann auch nicht den Schuldspruch anstelle des Schuldigen auf sich nehmen und die Strafe erleiden.“

Damit wischt Nürnberger die Lehre von der Stellvertretung Christi einfach vom Tisch – und dies gegen klares biblisches Zeugnis (Jes 53,4–6; Gal 3,13; 1 Pt 3,18; 1 Joh 3,16). „Das Evangelium von Gottes bedingungsloser Annahme des Unannehmbaren passt jedoch nicht in den Rahmen der Rechtsprechung“, so Nürnberger weiter. Rechtskategorien müssten in Gemeinschaftskategorien übersetzt werden. „Das Evangelium verkündet Gottes leidende, befreiende, verwandelnde, ermächtigende Annahme des Unannehmbaren in seine Gemeinschaft“. Diese bedingungslose Annahme des Unannehmbaren würde am besten durch das Gleichnis von den beiden verlorenen Söhnen gezeigt werden (Lk 15,11f). Hier sei die Pointe der Geschichte, dass sich der Vater über Recht hinwegsetzt.

Wie geschieht dann aber Errettung? Diffus heißt es: „Eine Annahme geschieht konkret, wo die Gemeinde zusammenkommt und alle annimmt, die angenommen werden wollen.“ So einfach geht das. Nürnberger wiederholt damit, was wir seit dem 19. Jahrhundert aus dem Munde liberaler Theologen hören: Weg mit dem Richtergott; wir halten uns lieber an den Vatergott, den liebenden Vater aller Menschen, der jeden annimmt wie er ist. Von „allen das Gute“ ist es eben nicht weit zu „alles wird gut“ und „für alle wird alles gut“…

Christus – unsere Gerechtigkeit

Recht ist jedoch eine Grundkategorie in der Beziehung zwischen Gott und Mensch (Bernhard Kaiser hat dies in Christus allein wieder neu betont; manche seiner Gedanken gebe ich hier wieder). So hat er in der Heilsgeschichte zahlreiche Bünde mit den Menschen geschlossen, die der Beziehung einen Rahmen geben. Diese Bünde sind vergleichbar mit Verträgen, die einen Rechtscharakter haben. So ist es auch kein Zufall, dass in der Vielfalt der biblischen Bildbegriffe für das Sühnegeschehen fast immer rechtliche Konzepte im Hintergrund stehen.

Das Heil kann also gar nicht im Gegensatz zum Recht stehen. Und genau dies ist ja auch das Bild, das die Bibel zeichnet. Gottes Gerechtigkeit wird seiner Liebe nicht entgegengesetzt, sondern zusammen gesehen (s. Ps 33,5; 35,27–28; 51,14–16; 89,15; 145,7; Hos 2,21). Er ist der „gerechte und rettende Gott“ (Jes 45,21, EÜ). Erlösung wird sogar mit Gottes Gerechtigkeit begründet, so dass David rufen kann: „Errette mich durch deine Gerechtigkeit!“ (Ps 31,2; s. auch Ps 51,16; Jes 30,18; 1 Joh 1,9 u.a.). In Ps 103,8f wird Gottes Barmherzigkeit gerühmt: „er vergilt uns nicht nach unserer Missetat“ (V. 10), aber dies widerspricht gar nicht seiner Gerechtigkeit, denn schon vor diesem Abschnitt heißt es in V. 6 zur Einleitung: „Der Herr schafft Gerechtigkeit und Recht…“ Gottes Gerechtigkeit ist, mit Tim Keller gesprochen, großzügig (s. sein Buch Generous Justice): er macht Menschen gerecht, d.h. erlöst.

Im AT ist aber noch nicht klar erkennbar, wie genau Gottes erlösendes Handeln und seine Gerechtigkeit zueinander passen. Wie kann ein vollkommen gerechter Gott ein Gottlosen gerechtsprechen?? Im NT vervollständigt sich dies Bild. Das von Gott offenbarte Gesetz verlangt Erfüllung. Um diesem Rechtsanspruch zu genügen, hat Gott seinen eigenen Sohn als „Sühneopfer“ gesandt (s. Röm 3,25; 8,3). Die Strafe, die uns Sünder hätte treffen müssen, hat Jesus Christus am Kreuz getragen. Nur weil er die Glaubenden mit seiner Gerechtigkeit schmückt, können sie vor Gott bestehen (s. das Bild des Hochzeitgewands in Mt 22,1–14). „Den, der ohne jede Sünde war, hat Gott für uns zur Sünde gemacht, damit wir durch die Verbindung mit ihm die Gerechtigkeit bekommen, mit der wie vor Gott bestehen können“, so Paulus in 2 Kor 5,21 (NGÜ).

„Gott will zu seinem Recht kommen“

All dies ist weitgehend traditionelle Lehre der gesamten Kirche. Auch die klassischen protestantischen Bekenntnisse sehen gar keinen Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Frieden mit Gott, im Gegenteil. Schließlich sieht ihn die Bibel ja nicht! Die Vernachlässigung dieser Bekenntnistradition hat mit zu der heutigen Krise des Rechts in der Theologie beigetragen.

Wenden wir uns nun endlich dem Heidelberger Katechismus zu. In seinem zweiten Abschnitt zur Erlösung steht die Gerechtigkeit Gottes im Zentrum.

Im Neuen Testament finden wir die wohl ausführlichste und schlüssigste Erläuterung des Evangeliums in den ersten Kapiteln des Briefes an die Römer. Paulus betont dort zuerst, dass die Menschen Gott verantwortlich sind und ihr Grundproblem in der Rebellion gegen den Schöpfer besteht. Auch der Heidelberger Katechismus folgt diesem Schema und erläutert (nach den Einleitungsfragen 1 und 2) ab Frage 3 die Sünde und Verlorenheit des Menschen. Dieser Abschnitt gipfelt in der Antwort auf Frage 10: Gott „zürnt schrecklich über die sündige Art des Menschen und seine sündigen Taten. Beides will er nach seinem gerechten Urteil schon jetzt und ewig strafen…“

Dies ist strenge Rede, die aber unerlässlich ist. Denn nur wer klar erkennt, „wie groß meine Sünde und Elend ist“ (Fr. 2), nur wer den ganzen Ernst unserer Gottesferne begreift, nur der kann überhaupt das Gute des Evangeliums erfassen.

Frage 11 gibt nun sogleich unsere Rückfrage wieder: „Ist Gott denn nicht auch barmherzig?“ In der Antwort, an der Nahtstelle zwischen Gesetz (das die Sünde aufdeckt) und Evangelium (das die Lösung unseres Sündenproblems ist), lenkt Ursinus den Blick auf Gott selbst, nämlich auf seinen Charakter: „Gott ist wohl barmherzig, er ist aber auch gerecht. Deshalb fordert seine Gerechtigkeit, dass die Sünde, die Gottes Ehre und Hoheit antastet, mit der höchsten, nämlich der ewigen Strafe an Leib und Seele gestraft wird.“

Gott ist beides: barmherzig und gerecht; beide Eigenschaften sind natürlich nicht zu trennen, aber sie sind auch nicht identisch (was durch das „…aber auch…“ ja deutlich gemacht wird; anders als heute formulierte Ursinus eben nicht „gerecht, d.h. barmherzig“). Unsere Sünde ist Aufstand gegen Gott selbst, gegen seinen heiligen Charakter, der sich im Gesetz ausdrückt. Aber dank seiner Barmherzigkeit werden wir „ohne Verdienst gerecht aus reiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist“ (Röm 3,24).

Der Abschnitt zur Erlösungslehre beginnt dann mit Frage 12, deren Antwort so lautet: „Gott will zu seinem Recht kommen, darum müssen wir für unsere Schuld entweder selbst oder durch einen anderen vollkommen bezahlen“. Hier wird der heutigen leichten Lösung direkt widersprochen: der Standard der Gerechtigkeit bleibt voll bestehen! Einer muss bezahlen. Der Gerechtigkeit muss genüge getan werden. Und genau deshalb können wir uns nicht selbst erlösen, denn wir haben nichts zum Zahlen.

Der nötige Erlöser muss jedoch ein Mensch sein, denn „die Sünde wird von den Menschen begangen“, und daher „verlangt Gottes Gerechtigkeit, dass ein Mensch für die Sünde bezahlt“ (16). Genauso muss er aber auch Gott sein, denn kein Mensch kann „die Last des Zornes Gottes ertragen und uns die Gerechtigkeit und das Leben erwerben…“ (17). Höhepunkt ist dann Frage 18: „Wer ist denn dieser Mittler, der zugleich wahrer Gott und ein wahrer, gerechter Mensch ist? Unser Herr Jesus Christus, der uns zur vollkommenen Erlösung und Gerechtigkeit geschenkt ist.“

In den Fragen 37–40 wird klipp und klar formuliert: Christus hat durch sein Leiden „den Zorn Gottes über die Sünde des ganzen Menschengeschlechts getragen“; es ist die Rede vom „einmaligen Sühnopfer“: dies hat uns „von der ewigen Verdammnis erlöst“ (37). Christi unschuldiges Leiden hat uns „von Gottes strengem Urteil… befreit“ (38). Er hat den Fluch, der auf uns Menschen lag, auf sich genommen (39). Christus musste den Tod erleiden: „Um der Gerechtigkeit und Wahrheit Gottes willen konnte für unsere Sünde nicht anders bezahlt werden als durch den Tod des Sohnes Gottes“ (40).

Ab Frage 59 werden Gerechtigkeit und Glaube noch einmal aufgegriffen und der Sack gleichsam zugebunden. In Frage 62 wird klargestellt, dass „die Gerechtigkeit, die vor Gottes Gericht bestehen soll, vollkommen sein und dem göttlichen Gesetz ganz und gar entsprechen [muss]“. Die Gerechtigkeit Gottes bleibt völlig gewahrt! Aber durch den Glauben werden wir „vor Gott gerecht“ (59), und zwar dadurch, dass Gott uns „die vollkommene Genugtuung, Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi“ (60) anrechnet und damit schenkt. Auf diese Weise und nur auf diese geschieht also Wiederherstellung und Erlösung.

Dies ist die klassische Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer Christi, bekannt auch unter dem englischen Begriff penal substitution (vom lat. poena – Strafe) oder substitutionary atonement: Gott gab sich selbst in der Gestalt seines Sohnes, damit dieser an unserer Statt den Tod und den Fluch, die Strafe für die Sünde, auf sich nahm.

Recht und Gerechtigkeit bestimmen also auch die Logik der Erlösungslehre im Heidelberger Katechismus. Gottes Forderungen nach vollkommenem Gehorsam und das Lösegeld für die Sünden werden von ihm selbst, nämlich von seinem Sohn erfüllt bzw. gezahlt. Dessen Gerechtigkeit wird denen, die glauben (20), geschenkt. „Es war Gott selbst, der Seinen Zorn löschte gegen jene, die Er – trotz allem – liebte und retten wollte“, wie es der Anglikaner und Calvinist J.I. Packer formuliert (Gott erkennen). Das ist der Kern des Evangeliums, und davon erfahren wir „aus dem heiligen Evangelium“ (19), d.h. in allen Verheißungen der Bibel zu unserem Heil.

Im Heidelberger wird so das Wie der Erlösung klar und präzise geschildert, und im Zentrum steht das Recht, denn man beachte die rechtlichen Begriffe wie „Gericht“. Gott schüttet eben nicht einfach so seinen Schalom über allen Menschen aus. Die hier erläuterte Gerechtigkeit Gottes führt keineswegs zu einem Fehlurteil (Nürnberger), und sie ist ‘parteiisch’ (Walter), aber nicht für irgendwelche sozialen Gruppen, sondern für die Gläubigen. Kaiser hat all dies sehr gut zusammengefasst: „Rechtfertigung ist der von Gott vollzogene gerichtliche Zuspruch der Vergebung“, denn Christus hat durch sein Sühneopfer Gerechtigkeit für uns gewirkt.

Vollkommen gerecht und unendlich barmherzig

Der Heidelberger Katechismus steht mit dieser Darstellung natürlich nicht allein. Die gesamte reformatorische Tradition spricht hier mit einer Stimme. In der Dordrechter Lehrregel heißt es zu Beginn des Abschnitts über die Erlösung: „Gott ist nicht nur im höchsten Grade barmherzig, sondern auch im höchsten Grade gerecht.“ (II/1) Die Gerechtigkeit fordert Bestrafung der Sünden; aus seiner Barmherzigkeit heraus schafft Gott die Rettung durch seinen Sohn. Außerdem sind das Westminster-Bekenntnis (XI,3), das Zweite Helveticum (XV,2–3) und neben diesen Dokumenten aus der reformierten Tradition auch die Schmalkaldischen Artikel Luthers zu nennen (II,1). Aus dem 19. Jhdt. sei der baptistische Prediger C.H. Spurgeon zitiert:

„Hast du schon begriffen, wie Gott durchaus gerecht sein kann, so dass er weder die Strafe erlässt noch die Scheide des Schwertes abstumpft, und dennoch unendlich  barmherzig ist und die Gottlosen gerecht macht, die sich an ihn wenden? Gott kann von meinen Sünden absehen, weil sein herrlicher und unübertrefflicher Sohn dem Gesetz Genüge getan hat, indem er meine Strafe auf sich nahm.“ (Ganz aus Gnaden)

Diese Linie führt bis zum reformierten Theologen Karl Barth:

„Das ist die Versöhnung: Gott, der an die Stelle des Menschen tritt… Gott hat im Tode Jesu Christi sein Recht vollstreckt. Er hat im Tode Jesu Christi als Richter dem Menschen gegenüber gehandelt. Der Mensch hat sich an den Ort begeben, wo ein Urteil Gottes über ihn gesprochen und unvermeidlich zu vollziehen ist… Er, Gott selber, tritt in seinem Sohn an die Stelle des verurteilten Menschen. Gottes Urteil wird ausgeführt, Gottes Recht nimmt seinen Lauf. Aber es nimmt seinen Lauf in der Weise, dass das, was der Mensch erleiden musste, erlitten wird von diesem Einen, der als Gottes Sohn für alle Anderen steht… Er in seinem Sohn ist es, welcher in der Person dieses gekreuzigten Menschen auf Golgatha alles trägt, was uns aufgeladen sein müsste. Und so macht er dem Fluch ein Ende…“ (Dogmatik im Grundriss)

„Er macht es uns nicht immer leicht, ihm zu folgen“

Die Rechtfertigung stand im Zentrum der Lehre der Reformatoren, Recht und Gerechtigkeit waren wichtige Koordinaten ihres Denkens – eine Tradition, die sich bis ins 19. Jhdt. fest hielt. Heute jedoch haben viele mit diesem Denken große Schwierigkeiten, und so geraten auch die Bekenntnistexte in die Kritik. Sie sollen Teil des kirchlichen und theologischen Erbes bleiben, werden aber seltsam umgedeutet.

So zeichnet sich der Heidelberger Katechismus durch seine Klarheit und Präzision aus. Plasger schafft es in seinem einführenden Buch über den Katechismus (s.o.) jedoch, die eindeutigen Aussagen von Ursinus an wichtigen Stellen zu zerreden – leider muss man es so streng formulieren.

Kapitel V über die Gerechtigkeit und „Gottes Weg der Erlösung“ stimmt eingangs optimistisch. Der Theologe aus Siegen verteidigt zurecht Anselm von Canterbury, scholastischer Theologe aus dem 11 Jhdt., dem oft vorgeworfen wird, „eine Verrechtlichung des Kreuzesgeschehen vorgenommen zu haben“. Und im Hinblick auf Luther: „In der Tat ist das Verhältnis zwischen Mensch und Gott auch im Neuen Testament nicht selten gerade in der Sprache des Rechts geführt worden.“

Plasger wendet sich also nicht blind von der Tradition ab, scheint auf der richtigen Fährte zu sein. Er zeigt jedoch sehr großes Verständnis für die modernen Leser des Heidelbergers, die bei nicht wenigen Formulierungen des Bekenntnisses Bauchschmerzen bekommen. Nach vielen Ausführungen wartet man darauf, dass die Erlösungslehre in ihrem Kern nun klar formuliert wird. Dann aber heißt es:

„Wieso ist gerade der Tod Jesu am Kreuz notwendig für das Heil der Menschen? Auf diese Frage verweigert der Katechismus eine klare Antwort. Er sieht nur, dass Gott zu seinem Recht kommen will – und kommt… Wie aber kommt Gott im Kreuz zu seinem Recht? Indem er irgendeine Strafe als Ausgleich für seine durch den Menschen geschehene Ehrverletzung erhält? Nein, so gerade nicht. Gott bekommt Recht, indem der Mensch wieder gemeinschaftsfähig wird. Gott bekommt Recht, weil sein Geschöpf, der Mensch, Bundespartner bleibt – aber nicht aus eigenen Stücken! Gott verhilft ihm selber dazu, es zu sein… Hier steht im Fokus, dass Gott Recht bekommt, indem er den Menschen gerecht und das heißt gemeinschaftsfähig macht.“

Die Stellvertretung Christi wird dann noch genannt, aber auch sie macht ja vielen heute „Verstehensmühe“, so Plasger. Er will sie nicht verwerfen, sagt aber nur, dass Jesus Christus bzw. Gott „dies“ tat – als Mensch brachte Christus uns in die Gottesbeziehung. Doch widerum bleibt er hier eine Antwort auf das Wie schuldig! Abschließend: „Der nicht beziehungsfähige Mensch wird beziehungsfähig gemacht – und so kommt Gott zu seinem Recht.“

Man liest diese gut zwölf Seiten bei Plasger, und am Ende ist die Klarheit, die der Katechismus doch zeigt, ganz verschwunden! Natürlich sagt er auch manches Wahre, aber wer könnte nach der Lektüre die Erlösungslehre in wenigen Sätzen korrekt zusammenfassen?

Das verschwurbelte Gerede enthält eine brisante Akzentverschiebung. „Gott bekommt Recht, indem der Mensch wieder gemeinschaftsfähig wird“; der Mensch „wird beziehungsfähig gemacht – und so kommt Gott zu seinem Recht“ (Hvhbg. HL). Nein! Christus nahm den Fluch über die Sünde auf sich, damit wir wieder gemeinschaftsfähig werden. In dem Abschnitt über das stellvertretende Leiden des Gottesknechts in Jesaja: „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass [oder damit] wir Frieden hätten“ (Jes 53,5). Diese Gemeinschaftsfähigkeit ist das Resultat, das Ergebnis des Heilshandelns Jesu. Das „indem“ oder „so“ löst die Strafe elegant auf, aber der Aspekt des Rechts geht damit auch verloren.

Plasger behauptet, der Heidelberger verweigere eine klare Antwort, verwerfe „irgendeine Strafe als Ausgleich“. Unsinn! Man denke nur an die Fragen 37–40 (s.o.), die er interessanterweise nirgendwo erwähnt oder zitiert.

Kein Wort des Trostes mehr

Diese Lehre stellvertretenden Sühneopfer kam jedoch im Zuge der Aufklärung unter massiven Beschuss. Schon Kant schüttete seinen Spott über sie aus. Im 20. Jhdt. sparte dann Rudolf Bultmann nicht mit Kritik: „Wie kann meine Schuld durch den Tod eines Schuldlosen (wenn man von einem solchen überhaupt reden darf) gesühnt werden? Welche primitiven Begriffe von Schuld und Gerechtigkeit liegen solcher Vorstellung zugrunde? Welch primitiver Gottesbegriff?“ (Neues Testament und Mythologie)

C.H. Spurgeon sah dies schon prophetisch vorher. In einer Predigt: „Wenn einmal der elende Tag kommt sollte, an dem all unsere Kanzeln voll von modernem Geist sein werden und die alte Lehre des stellvertretenden Opfers zerstört sein wird, dann wird kein Wort des Trostes für die Schuldigen und keine Hoffnung für die Verzweifelten mehr da sein.“

Kein Wort des Trostes mehr! Der in der Antwort auf Fr. 1 des Heidelbergers zugesagte Trost geht verloren, wenn die Lehre vom Opfer Christi, der unsere Strafe trägt, verwässert wird oder ganz verschwindet. Wer auf den Trost des Heidelbergers stolz ist, aber andere Teile gerne ignoriert, sei daran erinnert: der Heidelberger ist ein Gesamtpaket, aus dem man sich nicht nach Gutdünken Passendes herausnehmen kann; er ist wie eine Perlenkette, in der sich Gedanken logisch wie eine Perle an die anderen reihen. Nimmt man eine heraus, wird die ganze Kette zerstört.

Solchen Warnungen zum Trotz ist diese verheerende Kritik aber dennoch auch bis in die evangelikale Schicht durchgesickert, wie die Beispiele eingangs zeigten. Von den heutigen Kritikern mit evangelikalem Hintergrund seien hier nur drei genannt: Steve Chalke (The Lost Message of Jesus), Brian McLaren (The Story We Find Ourselves In) und C. Baxter Kruger (The Shack Revisited).

So weit wie dieser drei wollen viele nicht gehen. Aber heute stockt keiner mehr, wenn man im beliebten evangelikalen Biblischen Wörterbuch aus dem Brockhaus-Verlag unter „Gerechtigkeit/Recht“ liest: „Hier wird nicht jedem das Seine zuteil, das er verdient hätte, sondern hier wird der Sünder aus freien Stücken maßlos beschenkt. Gott rechnet nicht ab nach dem Motto ‘Auge um Auge, Zahn um Zahn’, sondern seine Gerechtigkeit ist ganz umfangen von seiner Liebe und Barmherzigkeit“.

Auch Philip Yancey, vielgelesener Autor von Bestsellern wie What’s So Amazing About Grace?, schreibt auf seiner Internetseite: „Gnade ist unfair. Wir verdienen Gottes Zorn und bekommen Gottes Liebe, verdienen Bestrafung und erhalten Vergebung. Wir bekommen nicht, was wir verdienen…“ Yancey geht im genannten Buch auch auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn in Lk 15 ein. Der Vater nimmt den zurückkehrenden Sohn auf ohne eine direkte Gegenleistung zu verlangen. Die meisten heutigen Autoren wie auch Rob Bell in seinem populären Love Wins sehen in der Geschichte aber immer einzig „profound unfairness“ – der verlorene Sohn bekommt eben nicht, was er verdient. Also bekräftigt die Bibel nicht doch die Sicht „Barmherzigkeit statt Gerechtigkeit“?

Tim Keller hat in The Prodigal God ausführlich zu der Geschichte Stellung genommen. Er betont, dass der Vater den verlorenen Sohn nicht ‘einfach so’ aufnimmt. „Vergebung ist für den, der die Vergebung gewährt, immer mit Kosten verbunden“, so der New Yorker Pastor. „Der Vater konnte dem jüngeren Sohn nicht einfach vergeben, jemand mußte zahlen! Der Vater konnte ihn nicht in seine alte Stellung wiedereinsetzen außer auf Kosten des älteren Bruders.“ Lk 15,12 macht deutlich, dass der Vater seinen ganzen Besitz aufgeteilt hatte: der jüngere Sohn erhielt seinen Teil, und der Rest, der väterliche Hof, gehörte rechtlich bereits dem älteren Bruder, auch wenn der Vater natürlich noch Vollmachten besaß (Vers 31 bestätigt ja direkt diese Besitzverhältnisse).

Die Kosten werden in den Versen 22–23 angesprochen, und neue Kleidung und eine üppige Feier waren ja nur der Anfang. Die Tragik der Geschichte ist, dass der ältere Bruder nicht zahlen will. Er hätte zwischen Vater und Bruder vermitteln und eine Brücke schlagen sollen – er tat es nicht. Jesus ist wie der Hirte, der das verlorene Schaf sucht (Lk 15,1f); er ist wie die Frau, die die Münze sucht (15,8f); aber der ältere Bruder suchte eben nicht, holte den jüngeren nicht vom Schweinetrog weg. Jesus dagegen ist der wahre ältere Bruder, der die Kosten unserer Schuld am Kreuz auf sich nahm. Er bekam, was wir verdienen.

Jeder bekommt das Seine!

Halten wir zusammenfassend fest: Biblische Gerechtigkeit steht in keinem diametralen Gegensatz zum alltäglichen Gebrauch; Gottes Gerechtigkeit ist nicht „ganz anders“ als die des antiken griechischen Denkens. Denn es wird abgerechnet werden (Off 20,12!), und – Gott sei Dank! – es wurde für uns abgerechnet, nämlich am Kreuz. Jeder bekommt das Seine – entweder den „feurigen Pfuhl“ (Off 20,15) oder das Neue Jerusalem (Off 21). In dies gelangen diejenigen, die auf Christus zeigen: dieser hat das bekommen, was mir zustand.

Es gibt nur einen Ausweg aus der Krise: Wir müssen den „frischen Wind der  Jahrhunderte“ (C.S. Lewis) durch unsere Köpfe wehen lassen. Das fängt bei Aristoteles an, der in seiner Nikomachischen Ethik die Gerechtigkeit sehr tiefschürfend analysiert hatte. Und wenn wir denn unsere Verstehensmühen und unseren „chronologischen Snobismus“ (Lewis: die Einstellung, wir wüßten heute alles besser) überwinden, dann kann der Heidelberger Katechismus dazu beitragen, ein Führer zu einem erneuerten und wirklich robusten Verständnis der Gerechtigkeit sein.