Das ABC des Evangeliums

Das ABC des Evangeliums

Was bedeutet es, „evangelikal“ zu sein? Werden Evangelikale anhand ihrer Aktivitäten oder ihrer Frömmigkeit definiert oder geht es um Glaubensinhalte? Ein neues Buch von Michael Reeves liefert Antworten und fordert seine Leser auf, zu den Ursprüngen des Begriffs zurückzukehren. [Zuerst erschienen auf evangelium21.net]

Wer sind die Evangelikalen? Was bedeutet es, „evangelikal“ zu sein? Was verbindet die evangelikale Bewegung? Wenn du Mühe hast, diese Fragen zu beantworten, könnte es doch naheliegend sein, auf diese Bezeichnung ganz und gar zu verzichten, oder? Michael Reeves argumentiert in seinem neu erschienen Buch hingegen, dass dies nicht zu empfehlen ist. Bevor wir seine Argumente unter die Lupe nehmen, betrachten wir jedoch, wie andere den Begriff „evangelikal“ zu definieren versuchen:

Einige Antwortversuche

Michael Diener, der damalige Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz, beantwortete die Frage nach dem Identitätskern der Evangelikalen im Herbst 2015 in einem Radiobeitrag, indem er sie als die „intensiv Evangelischen“ bezeichnete. Weiter sagte er, „Evangelische Christen, die ihr Leben grundsätzlich vom christlichen Glauben her denken und leben“, könne man als evangelikal bezeichnen.

In der SWR 2-Sendung kam auch der bekannte Journalist Andreas Malessa zu Wort: „Bei den Evangelikalen sind Bekenntnispapiere und irgendwelche Glaubenssätze in der Dogmatik nix und die Praxis alles.“ Den Evangelikalen geht es um die „praktische Umsetzung der Frömmigkeit“. Der Baptistenpastor sieht das einigende Band der Evangelikalen ganz in der Glaubenspraxis und im Lebensstil.

Vor zwei Jahren erschien aus der Feder von Thorsten Dietz Menschen mit Mission: Eine Landkarte der evangelikalen Welt. Der deutsche Theologieprofessor, der nun für die reformierte Kirche Zürichs tätig ist, bemüht sich darin um eine faire Gesamtdarstellung der evangelikalen Bewegung. Dietz im Interview mit PRO zu der Eingangsfrage: „Auf jeden Fall gehört die ‚Jesus-First‘-Begeisterung dazu, der starke Fokus darauf, dass Jesus das Zentrum meines Glaubens ist – und dass ich darum einen Auftrag habe, diesen Glauben zu bezeugen. Das ist der Kern.“

Ob diese Beschreibungen tatsächlich die Wesensmerkmale der evangelikalen Bewegung treffen, sei dahingestellt. Auf das überraschende Defizit, das all diese und ähnliche Aussagen aufweist, deutete der britische Kirchengeschichtler Carl R. Trueman schon vor über zehn Jahren hin: „Der wahre Skandal des evangelikalen Denkens ist heute nicht, dass das Denken nicht vorhanden ist, sondern dass ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums fehlt.“ (The Real Scandal of the Evangelical Mind)

Wenn aber nicht klar ist, was nun das Evangelium ist, für das die evangelikale Bewegung steht, dann bliebe tatsächlich ein bloßes „einfach nur fromm“. Diese Frömmigkeit mag intensiv sein und in Aktivität münden; ob sie auch evangelisch – dem Evangelium gemäß – ist, wird umso fraglicher.

Eine theologische Definition

In diesem Zusammenhang setzt Michael Reeves mit Menschen des Evangeliums nun einen notwendigen Akzent. Der britische Theologe und Autor erkennt wie Trueman die gegenwärtige Krise im Selbstverständnis des Evangelikalismus. Er bedauert, dass dieser „sowohl von anderen als auch von sich selbst durch andere Dinge definiert [wird] als durch das Evangelium“ (S. 8). Der Präsident der Union School of Theology in Oxford ist überzeugt: „Um wirklich Menschen des Evangeliums zu werden, müssen wir zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren – zu dem Glauben, ‚der ein für alle Mal den Heiligen anvertraut ist‘ [Jud 3]“ (S. 8). Eine bloß soziologische oder „beschreibende Analyse“ genügt nicht; der Evangelikalismus muss laut Reeves in erster Linie „mithilfe des Evangeliums“, also „theologisch definiert werden“ (S. 9).

Reeves hält daran fest, dass den Kern der evangelikalen Identität eben doch „irgendwelche Glaubenssätze“ (Malessa) ausmachen. Damit steht er in der Tradition der großen britischen Evangelikalen wie John Stott oder Martyn Lloyd-Jones, die in Evangelical Truth (1999) bzw. What is an Evangelical? (1992) ebenfalls eine biblisch begründete und theologisch fundierte Definition vorlegten. Reeves zitiert daher auch mehrfach aus beiden Werken.

Drei essentielle Lehren

Anknüpfend an den Beginn des Römerbriefes stellt Reeves eingangs dar, dass für den Apostel Paulus das Evangelium folgende Eigenschaften besitzt: Das Evangelium ist …

„1. trinitarisch: Es ist die Frohe Botschaft des Vaters über den Sohn, der als Sohn Gottes eingesetzt ist in Kraft nach dem Heiligen Geist (vgl. Röm 1, 4).

2. biblisch: Es wird in der Heiligen Schrift verkündet.

3. christuszentriert: Es geht dabei um den Sohn Gottes.

4. Geist-gewirkt: Der Sohn wird durch den Heiligen Geist offenbart.“ (S. 11)

Das Evangelium steht also „im Einklang mit der Heiligen Schrift“, es „dreht sich um Christus und sein Erlösungswerk“ und schafft als „Botschaft des persönlichen Heils“ neues Leben (S. 14). Reeves argumentiert, …

„dass der wahre Evangelikalismus eine klare Theologie hat, in deren Zentrum drei essentielle Lehren verankert sind, aus denen sich alles Weitere ergibt:

1. Die Offenbarung durch den Vater in der Bibel.

2. Die Erlösung durch den Sohn im Evangelium.

3. Die Wiedergeburt durch den Geist in unseren Herzen.“ (S. 16)

9783986650711Eine trinitarische Struktur

Reeves erläutert das Evangelium demnach als ein Werk des dreieinen Gottes. Der Person des Vaters ordnet er die Offenbarung zu und erläutert in Kapitel 2 „Die Vorrangstellung der Heiligen Schrift“, „Die Inspiration der Heiligen Schrift“ und „Die Vertrauenswürdigkeit der Heiligen Schrift“. „Die Erlösung durch den Sohn“ (Kapitel 3) gliedert sich auf in „Die einzigartige Identität Christi“, „Das Werk Jesus“ und „Die Rechtfertigung durch Glauben allein“. In Kapitel 4 behandelt er das Wirken des Heiligen Geistes: „Die Wiedergeburt“, „Das neue Leben“ und „Das neue Volk“.

Auf Seite 17 ist diese Struktur des Buches in einem Kreisdiagramm anschaulich dargestellt. In der Mitte steht „Die Dreieinigkeit“, also Gott selbst. Diese Betonung ist nur zu begrüßen, denn so wird eins klar: Es geht nicht in erster Linie um Menschen, die eine Bekehrung erfahren haben; um Menschen, die in Mission und Diakonie aktiv sind; oder um Menschen und ihre Mission. Vielmehr steht im Mittelpunkt des Evangelikalismus niemand anders als Gott, der durch seinEvangelium Wahrheit mitgeteilt, Erlösung geschenkt und neues Leben geschaffen hat.

Reeves greift sicher bewusst auf diese trinitarische Struktur zurück, denn so kann er deutlich machen, dass die Evangelikalen eben doch ein gemeinsames Credo haben. Außerdem schlägt er auf diese Weise eine Brücke von der alten Kirche über die Reformation bis in unsere Zeit. Schließlich orientieren sich christliche Bekenntnistexte vom Apostolischen Glaubensbekenntnis über den Heidelberger Katechismus bis hin zur Kapstadt-Verpflichtung seit jeher gern an den Personen der Dreieinigkeit.

Zitate im Überfluss

Dass der Evangelikalismus auf einem reichen geschichtlichen Erbe ruht, macht Reeves auch durch zahlreiche Zitate von großen christlichen Denkern deutlich. Kirchenväter wie Augustinus, Tertullian und Irenäus kommen zu Wort, natürlich auch Martin Luther, John Wesley und Puritaner wie Richard Sibbes. Gern zitiert der Autor aus Werken von J.C. Ryle, C.H. Spurgeon oder B.B. Warfield. Die Reihe wird fortgesetzt durch die evangelikalen Leiter des vergangenen Jahrhunderts: neben den genannten Lloyd-Jones und Stott auch Carl F.H. Henry und J.I. Packer.

1. Autorität und Irrtumslosigkeit

Reeves gelingt es auf knappem Raum, die Hauptelemente des Evangeliums prägnant vorzustellen. Hier seien nur drei Akzente herausgegriffen wie, erstens, die Autorität der Bibel. „Evangelikal zu sein heißt, dass die Schrift alles übertrumpft“, so im 2. Kapitel (S. 28). Einen „antiintellektuellen ‚nur ich und meine Bibel‘-Biblizismus“ lehnt er ab (S. 28). Autoritäten wie Traditionen und die Vernunft seien zu achten, sie „sind jedoch nicht unfehlbar und nicht so zuverlässig wie das Wort Gottes. Sie stammen von Menschen. Die Schrift hingegen stammt von Gott. Sie müssen sich der Schrift beugen, nicht umgekehrt“ (S. 32). Allein die Bibel besitzt höchste Autorität.

Dies begründet Reeves mit der Inspirationslehre: „Es sind nicht nur einige Teile der Schrift, die von Gott gehaucht sind – auch nicht nur das große Ganze der Schrift. Nein, alle Schrift, in jedem Teil und in jedem Wort, ist von Gott geatmet“ (S. 33–34). Er betont, „dass die ganze Schrift von Gott eingegeben wurde“ (Plenarinspiration) und „dass jedes einzelne Wort des Urtextes eingeschlossen ist“ (Verbalinspiration; S. 34). Reeves zitiert u.a. Kirchenvater Augustinus, der ebenfalls festhielt, dass die Autoren der Bibel „völlig frei von Irrtümern waren“ (S. 37). Schließlich verweist er auf die „bedachte Art und Weise“, wie die Chicago-Erklärung zur Biblischen Irrtumslosigkeit diese Lehre formuliert, und zitiert den 2. Punkt der Erklärung aus dem Jahr 1978 (S. 40–41).

Im deutschen Umfeld stellt dieses klare und wie selbstverständlich vorgetragene Bekenntnis zur Irrtumslosigkeit eine wichtige Mahnung dar, endlich eine Kurskorrektur vorzunehmen. Denn leider hatte Jürgen Werth, der damalige Allianz-Vorsitzende, wohl recht, als er 2007 im Hessischen Rundfunk sagte, dass die Zahl derjenigen in der deutschen evangelikalen Bewegung, die sagen, „jeder Buchstabe ist verbal von Gott inspiriert, … nicht allzu groß ist“. Reeves hat offensichtlich keine Angst vor der sog. „fundamentalistischen Schmuddelecke“, vor der Werth die Allianz bewahren wollte.

2. Theorie und Praxis

Reeves Buch mangelt es nicht an Dogmatik. Ist daher nicht alles zu „verkopft und theoretisch? Ist Evangelikalismus nicht viel mehr als eine Liste von Lehren?“ (S. 69). Im vierten Kapitel erläutert der Autor, zweitens, die Zuordnung von Theorie und Praxis des Glaubens. Es geht einerseits um das Wissen von „Wahrheiten über Gott“, andererseits auch darum, wie „wir Gott auf persönliche Weise kennenlernen“. Christen sollen sich „unter die Heilige Schrift als unserer höchsten Autorität“ beugen und sich „wahrhaftig an Christus als unserem einzigen Erlöser“ erfreuen (S. 71).

Reeves betont, dass die an das Evangelium Glaubenden „anders lieben, denken und handeln. Angesichts dessen ging es im Evangelikalismus nie allein um Lehre. Evangelikale müssen ihre Theologie auch anwenden und sich daher sowohl um Orthodoxie (rechte Lehre) als auch um Orthopraxie (rechte Praxis) und Orthokardie (rechtes Herz) bemühen“ (S. 85). Evangelikale müssen alle drei Perspektiven im Blick behalten und „sollten sich daher nicht mit Lehren oder religiösem Verhalten allein zufriedengeben, so korrekt es auch scheinen mag“. Zurückzuweisen sind „geistliche Heuchelei und geistliche Leere“ (S. 87). Ähnlich wie zuvor schon Stott betont Reeves im 6. Kapitel: „Ich behaupte, dass das Herzstück evangelikaler Integrität die Demut ist“ (S. 123).

3. Glaube und Einheit

Drittens skizziert Reeves im fünften Kapitel knapp, aber präzise die evangelikale Lehre von der Einheit der Christen. Wie schon die Reformatoren (hier wären Calvin und Bullinger zu nennen) betont Reeves:

„Mit dem Evangelium als unserem Anker können Evangelikale verstehen, dass nicht jede Angelegenheit eine Angelegenheit des Evangeliums und nicht jeder Irrtum (oder jede Abweichung von unserer Sicht oder Praxis) eine Häresie ist, die das Seelenheil gefährdet. Einige Lehren sind wesentlicher und grundlegender als andere.“ (S. 97)

Für Evangelikale ist Einheit nicht in erster Linie institutionell begründet (wie dies die römisch-katholische Kirche lehrt). Einheit beruht vielmehr auf dem Glauben und jenen Lehren, die „höchste Priorität haben und für das Evangelium von grundlegender, primärer Bedeutung sind“ (S. 99). Gerade um diese geht es in Reeves Buch. Als Menschen des Evangeliums sind die Evangelikalen zu „unerschütterliche Treue zum Evangelium“ berufen, müssen es aber genauso ablehnen, „andere Themen auf die Ebene des Evangeliums zu heben“ (S. 99). Dies bleibt eine ständige Gratwanderung, aber rückblickend erkennt Reeves (J.I. Packer und Thomas Oden folgend) einen „beeindruckenden theologischen Konsens“ in der weltweiten evangelikalen Bewegung (S. 111).

Pferde vor die Kutsche spannen

Michael Reeves’ Menschen des Evangeliums ist, so mein Resümee, genau das richtige Buch zur richtigen Zeit. Es ist im Ton – eben ganz dem Evangelium, der Guten Nachricht, entsprechend – positiv und ermutigend. Und es kann dank seines klaren theologischen Aufbaus auch gut in der Gemeindearbeit eingesetzt werden – auch darin ist es typisch evangelikal.

In „Glaube und Denken heute“ (2/2022) schrieb Pfr. Dr. Gerhard Gronauer: „Nach der Lektüre von Dietz’ Buch [Menschen mit Mission] bin ich zu dem Eindruck gekommen: Das Ende der evangelikalen Bewegung in Deutschland, wie wir sie gekannt haben, steht bevor.“ Möglicherweise hat er recht. Vielleicht sollte man aber einfach nur wieder die Pferde (das Evangelium) vor die Kutsche (alle missionarische Aktivität) spannen. Oder anders gesagt: das ABC des Evangeliums des dreieinen Gottes in demütiger Haltung neu lernen. Reeves’ Buch wird dabei eine Hilfe sein.

Buch

Michael Reeves, Menschen des Evangeliums, Bad Oeynhausen: Verbum Medien, 2024, 173 S., 12,90 EUR.