Säuft Litauen ab?
In diesen Monaten wird in Litauen das „Alkoholproblem“ kontrovers diskutiert. 60.000 Unterschriften für ein deutlich verschärftes Gesetz zur Alkoholkontrolle sammelte die Bürgerinitiative „Für Nüchternheit“ (Už Blaivią) und überreichte sie dem Seimas (in Relation zur Gesamtbevölkerung entspräche dies in Deutschland über eineinhalb Millionen Unterzeichnern). Danach soll der Verkauf aller Alkoholika stark eingeschränkt, die Werbung ganz verboten und auch der öffentliche Konsum streng reglementiert werden.
Den Abstinenzanhängern geht es nach eigenen Angaben vor allem auch um den Schutz von Schülern und Minderjährigen. Politiker wetteifern ebenfalls, wer der größere Verteidiger der Volksgesundheit ist. Besonders die „Union der Landwirte und Grünen“ von Agrarmagnat Ramūnas Karbauskis schwimmt auf dieser Welle. In den Umfragen rangiert sie schon auf Platz zwei nach den Sozialdemokraten und kann sich Hoffnung auf eine Regierungsbeteiligung nach den Wahlen im Herbst machen.
In der Petition wird geschildert, dass bei vielen Straftaten wie Körperverletzung und Mord, ebenso bei Selbstmord, Alkohol im Spiel ist. Diese Daten sind kaum umstritten. Natürlich wird auch wieder an die traurige Statistik erinnert, dass Litauen nun schon auf Rang drei des Alkoholkonsums pro Kopf liegt. Oder doch nicht?
Hat die Trunksucht wirklich epidemische Ausmaße angenommen? Säuft Litauen also tatsächlich ab? Einmal wieder zeigt sich, wie sich Statistiken vortrefflich vor eine politische Agenda spannen lassen. Dass bestimmte Phänomene korrelieren, d.h. zusammen auftreten, heißt noch nicht viel über ursächliche Zusammenhänge; und über effektive Gegenmaßnahmen ist damit noch viel weniger gesagt. 70% der 2014 unter Mordverdacht Stehenden waren bei ihrer Tat alkoholisiert. Bedeutet dies aber, dass die große Mehrheit der Morde auf Alkohol zurückzuführen ist? Wären alle nüchtern, läge die Zahl der Morde sicher niedriger – aber um wieviel niedriger?
Würde die Gewaltkriminalität deutlich zurückgehen, wenn Alkoholika ganz verboten wären und man auch an schwarzgebranntes Zeug nicht herankäme? Vielleicht – ein wenig. Denn die Gewaltbereitschaft wird durch Drogen ja mitunter nur verschärft, weil Hemmschwellen herabgesetzt werden. Zu viele werden auch in Zukunft morden, Drogeneinfluss hin oder her. Die Zauberfrage ist, wieviel wirklich auf das Konto des Alkohols geht, aber die Aktivisten der Petition geben zu verstehen, dass dies Problem einfach „zu lösen“ wäre.
Es ist der Umgang mit Zahlen, der angezweifelt werden muss. Und nun geraten auch die Zahlen selbst ins Feuer der Kritik. 2011 und 2012 habe jeder über 15-Jährige Litauer durchschnittlich an die 15 Liter reinen Alkohol konsumiert (14,7l). Ein ‘Spitzenwert’ in der Welt. Wirklich?
Rimvydas Valatka, journalistisches Urgestein im Land, hat die Zahlen des Amtes für Statistik hier unter die Lupe genommen. Sein Hauptkritikpunkt: Der Verkauf von Alkoholika in Litauen wird einfach auf die litauische Wohnbevölkerung umgelegt. Dabei wird ein nicht so geringer Teil von eingereisten Touristen verbraucht, und eine nicht unerhebliche Menge wird von litauischen Arbeitsemigranten und anderen Besuchern außer Landes gebracht. Wer einmal die Finnen in Estland beobachtet hat, die palettenweise Spirituosen aus dem Nachbarland abschleppen, begreift, dass es sich hier um nicht so geringe Zahlen handeln kann.
Man rechnet mit mindestens 300.000 im europäischen Ausland lebenden Litauern, von denen die meisten jährlich oder sogar mehrmals pro Jahr nach Litauen reisen. Vor allem auch deshalb, um dort günstige Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen und um die Dinge einzukaufen, die hier billiger sind. Warum sonst sieht man gerade im Sommer so viele Automobile mit britischen oder skandinavischen Kennzeichen?
Die Esten ziehen daher von 18,58 Liter pro Kopf rund ein Drittel für die Touristen ab – 6,78l. Warum rechnen wir selbst uns schlecht, wo doch andere Länder ‘schönere’ Statistiken zu bieten haben? Valatka sieht ein politisches Interesse dahinter, Litauen als „ein wahres Sodom und Gomorra“ darzustellen. „Litauen säuft ab. Und wenn es absäuft, muss man die Arme retten“, nämlich durch die richtigen Experten und die richtige Partei.
Am 10. Juni gab das Amt für Statistik neue Zahlen bekannt (s. hier), doch die Erwartungen einer besseren Zählweise wurden enttäuscht. Im vergangenen Jahr ging der Pro-Kopf-Verbrach auf 14 Liter zurück. Der Trend der leichten Abnahme setzt sich seit 2013 fort. Abgezogen in der Art der Esten wurden also wohl nicht. Das grundlegende Problem bleibt aber außerdem, dass mit solchen Zahlen nichts darüber ausgesagt wird, wie viele Litauer tatsächlich zu viel, also nicht mehr moderat trinken. Verkaufszahlen geben noch keine Auskunft darüber, wer wieviel konsumiert.
2007 (auch damals betrug der Pro-Kopf-Verbrach etwa 14 Liter) konsumierte ein Drittel der 15–64-Jährigen recht selten Alkohol, d.h. ein bis drei Mal im Monat, 17% einmal pro Woche, 7,3% mehrmals pro Woche und nur 1,8% täglich. Ein problematischer Konsum ist also bei einer kleinen Minderheit anzutreffen.
Die Medizinische Hochschule Litauens (Lietuvos sveikatos mokslų universitetas) befragte 2014 in einer Studie 4000 Erwachsene über ihre Trinkgewohnheiten. Einmal pro Woche trinken demnach die Hälfte der Männer und 11% der Frauen, fast 20% der Männer und über die Hälfe der Frauen leben abstinent. Täglich oder fast täglich nehmen 2,4% der befragten Männer und 0,1% der Frauen Alkohol zu sich, einmal pro Monat 10 bzw. gut 20%.
Von 1994 bis 2014 hat sich der Anteil, der mindestens einmal die Woche Spirituosen zu sich nimmt, unter den Männern nicht verändert. Der Bierkonsum nahm von 1994 bis 2002 deutlich zu, stabilisierte sich aber 2004–2006, und seit 2008 nimmt er leicht ab. Die Untersuchung ergab auch, dass 2014 Männer im Schnitt 13,3 sog. Standarteinheiten (SE, 1 SE beträgt 10g reiner Alkohol) pro Woche, Frauen 5,2 SE verbrauchen. Auf 15 Liter reinen Alkohol im Jahr kommt man so nicht, wohl eher auf 6 Liter, die auch Italien vorweisen kann.
13 SE pro Woche, dies entspricht etwa 2 pro Tag oder 20 Gramm reiner Alkohol oder 200–300ml Wein. Das gilt als moderater Konsum und dürfte gesundheitlich weitgehend unbedenklich sein. Aber sicher ist auch das nur ein Mittelwert, und solche Daten sagen noch nichts darüber, wie hoch der genaue Anteil derjenigen ist, die eindeutig zu viel trinken. Wir sahen nun aber schon, dass die meisten Untersuchungen diesen bei einigen Prozent der Männer sehen – viele, Zigtausende, zu viele; aber eben nicht ein ganzes Land.
Zu beachten ist schließlich, dass selbst über die Frage, was denn zu viel ist, in Europa Uneinigkeit herrscht. In einem guten Beitrag in der „Welt“ hieß es: „Die Empfehlungen für einen gesundheitlich unbedenklichen Alkoholkonsum weichen international in einem geradezu grotesken Ausmaß voneinander ab. Für einen portugiesischen Mann beginnt das gesundheitliche Risiko erst bei 40 Gramm Alkohol pro Tag, während der deutsche Mann bereits nach 20 Gramm täglichen Konsums das Glas absetzen sollte. In Frankreich dürfen sich Frauen und Männer gleichermaßen unbesorgt eine tägliche Menge von 30 Gramm Alkohol genehmigen, in den USA liegen die zugestandenen Mengen für Männer bei 28, bei Frauen nur 14 Gramm pro Tag.“
Die aktuelle Anti-Alkohol-Kampagne in Litauen schert sich um solche Differenzierungen nicht und konzentriert sich ganz auf die dunkle Seite des Alkohols, die viele Drogen eben auch haben. Die Alkoholgegner sehen meist nur den Fluch, wollen von Segen rein gar nichts wissen. Dieses Doppelgesicht der psychoaktiven Substanzen darf aber nicht aus dem Blick verloren werden. Offensichtlich ist dies ja bei vielen Medikamenten, die oft ebenfalls ein hohes Abhängigkeitspotential haben, die aber wegen positiver Wirkung von uns genutzt werden.
Seriöse Untersuchungen zeigen, dass die Dosis, die das geringste Risiko für Herz-Kreislauf-Sterblichkeit anzeigt, im Bereich von 15 bis 30 Gramm Alkohol (entsprechend 200 bis 400 ml Wein) pro Tag liegt. Bei einem Konsum von bis zu 15 Gramm Alkohol pro Tag fand sich darüber hinaus auch eine signifikant gesenkte Gesamtsterblichkeit (um 13 Prozent). Wohlgemerkt: alles gilt nur für einen wirklich moderaten Konsum. Jede Sauferei lässt das Bild sofort kippen.
In Maßen konsumierter Alkohol hat auch eine positive Wirkung und sollte daher nicht pauschal als Übel bezeichnet werden. Es sind Menschen, die unverantwortlich mit ihm umgehen. Nun schlägt aber schon die litauische Wirtschaft Alarm, weil Litauen international als Land der kollektiven Sauferei dargestellt wird. Investoren lädt das nicht unbedingt ein, denn die fragen sich natürlich: Wo sollen wir nüchterne Angestellte in dem Land finden? Dass einige Männer mit äußerst hohem Konsum die ganze Statistik verhunzen, bleibt da außen vor.
Im Herbst stehen, wie gesagt, Wahlen zum Seimas an, und dass eine nüchterne Sicht der Alkoholproblematik die Oberhand gewinnt, ist nicht unbedingt wahrscheinlich – zu groß ist schon die Hysterie um den Dämon Alkohol. Nun ist auch noch der Konzern „MG Baltic“ in einen Korruptionsskandal verwickelt, und zu diesem gehören ausgerechnet führende Schnaps- und Weinhersteller in Litauen. Wurden womöglich Politiker geschmiert, um eine Verschärfung des Alkoholkontrollgesetzes zu verhindern? Wasser auf die Mühlen der radikalen Abstinenzler.