Wo Gary Haugen (un)recht hat
1994 wurde Gary Haugen als UN-Chefermittler nach Ruanda entsandt, um den gerade dort geschehenen Völkermord aufzuklären. „Die Dinge, die ich sehen, fühlen und berühren musste, kann man nicht in Worte fassen“, so der Anwalt aus den USA. Einige Jahre später gründete Haugen die „International Justice Mission“ (IJM), eine Menschenrechtsorganisation, die sich weltweit für die Rechte der Opfer von Sklaverei, Menschenhandel, Zwangsprostitution und anderen Formen gewaltsamer Unterdrückung einsetzt. IJM hat inzwischen mehrere Zweige in anderen Ländern wie z.B. Deutschland.
Haugen trommelt intensiv für sein Thema – Menschenrechte und Gerechtigkeit. Mehrere Bücher aus seiner Feder drehen sich um Armut und Rechtssysteme wie das im Herbst erschienene Gewalt – die Fessel der Armen: Worunter die Ärmsten dieser Erde am meisten leiden – und was wir dagegen tun können. Der evangelikale Christ Haugen spricht auf großen Veranstaltungen wie dem „Willowcreek Leadership Summit“ vor einigen Jahren und erhielt schon einige angesehene Auszeichnungen für die Arbeit des IJM.
Im Frühjahr 2015 hielt Haugen im Rahmen der TED-Konferenzen den Vortrag „The hidden reason for poverty the world needs to address now“ (Der verborgene Grund für Armut, den wir jetzt bekämpfen müssen). TED (Abkürzung für „Technology, Entertainment, Design“) ist mittlerweile – neben der jährlichen 5-tägigen Hauptkonferenz mit mehr als 80 Vortragenden – ein internationales Netz von zum Teil unabhängig organisierten Konferenzen zu einem breiten Themenspektrum. Es finden sich über 1000 „TED Talks“ auf der TED.com-Seite, viele mit deutschen Untertiteln. Das Motto der Vorträge: „Ideas worth spreading“ (Ideen, die es wert sind, verbreitet zu werden).
Sieg über die Armut dank Mitgefühl?
Im TED-Vortrag beginnt Haugen mit seinen Erfahrungen in Ruanda und behauptet dann: „Im Gegensatz hierzu war ich aber auch Zeuge eines der größten Erfolge menschlichen Mitgefühls. Und damit meine ich den Kampf gegen die Armut auf der Welt.“ Er schildert die Geschichte von Venus aus Sambia, deren Sohn an Mangelernährung stirbt, und fährt anschließend fort:
„Über 50 Jahre lang haben uns solche Geschichten berührt – uns, deren Kinder so viel zu essen haben. Und wir sind nicht nur von der Armut berührt, sondern wollen auch mithelfen, dieses Leid zu beenden. Natürlich gibt es viel Kritik, dass wir nicht genug getan haben, und dass das, was wir getan haben, nicht wirksam genug war. Die Wahrheit ist: Der Kampf gegen Armut auf der Welt ist wahrscheinlich der längste und gleichzeitig größte Ausdruck von menschlichem Mitgefühl in der Geschichte unserer Spezies… Vor 35 Jahren, als ich meinen Schulabschuss machte, sagte man uns, dass täglich 40 000 Kinder an den Folgen von Armut sterben. Diese Zahl ist heute auf 17 000 gesunken. Natürlich ist das immer noch zu viel, aber das bedeutet, dass heute jedes Jahr 8 Millionen Menschen weniger an den Folgen von Armut sterben müssen. Außerdem sank die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben müssen, was der Definition nach heißt, von weniger als 1,25 Dollar am Tag, von 50 % auf nur noch 15 %. Dieser Fortschritt ist enorm und überschreitet jede Vorstellung davon, was möglich ist. Ich denke, dass Sie und ich wirklich stolz sein und uns ermutigt fühlen können, zu sehen, dass Mitgefühl die Macht hat, das Leiden von Millionen von Menschen zu beenden.“
Haugen bringt danach den neuen Grenzwert der Weltbank für die Definition von extremer Armut ins Spiel, 1,90 Dollar pro Tag, bei ihm aufgerundet auf 2. Nach diesem Kriterium leben, so Haugen, immer noch 2 Milliarden in bitterer Armut. Die Lage ist also nicht ganz so glänzend wie es scheint – so Haugen an dieser Stelle. Ourworldindata.org (zusammengetragen vom Deutschen Max Roser) schätzt aber, dass nach diesem Kriterium 2015 10% in extremer Armut lebten (1981: 44%).
Haugen kommt nun zu seinem eigentlichen Thema. „Warum stecken immer noch so viele Menschen in dieser grausamen Armut?“ Es muss etwas getan werden, doch was? „Aus Mitgefühl unterstützen meine Frau und ich seit Jahrzehnten finanziell Kinder, Mikrokredite und spenden großzügig für die Entwicklungshilfe.“ Haugen gibt aber zu eindeutig zu verstehen, dass Gewalt bzw. dieser ausgeliefert und ohne Schutz des Rechts zu sein der Knackpunkt sind. Die Armen können sich ihr Recht nicht erkämpfen und bleiben in der Gewalt gefangen. An dieser Stelle setzt auch das IJM an.
Der „Kampf gegen die Armut auf der Welt“ ist tatsächlich eine der großen Erfolgsgeschichten der letzten Jahrzehnte. Auch im Dokumentarfilm „58“ wird sie gegen Ende des Film von Scott C. Todd skizziert (s. dazu auch hier). Der leitende Mitarbeiter des Hilfswerkes „Compassion“ wird auf einer Konferenz gezeigt, wo er so manche Statistik nennt: Seit 1990 haben 600 Millionen Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser bekommen; die Zahl der Toten durch Malaria ist deutlich zurückgegangen. Und vor allem: „Innerhalb einer Generation haben wir den Anteil der Menschen in extremer Armut halbiert“, von 52 auf 26% der Weltbevölkerung (Todd sprach ein paar Jahre vor Haugen, die Zahl ist weiter gesunken). „Wie kommen wir auf 0%?“. Todd im Begleitbuch Fast Living: „Wir müssen den Motor verstehen, der uns von 52 zu 26 gebracht hat“. Die Frage sei nicht, ob wir die Armut ausmerzen können, sondern wie dies geschehen kann.
Todd und „58“ richten sich an Christen: „Es liegt im Verantwortungsbereich christlicher Gemeinden, extreme Armut zu beenden. Wir verfügen über die nötigen Mittel.“ „Gott hat uns das Nötige gegeben, um extreme Armut zu beseitigen.“ Die reichen Christen haben es also in der Hand, wobei Haugen allerdings nicht nur Christen ansprechen will. Und er konzentriert sich auf den Bereich des Rechts, den er für am effektivsten bei der Armutsbekämpfung hält.
Wie ist der erstaunliche Rückgang der extremen Armut im weltweiten Durchschnitt zu erklären? Wer oder was hat den Anteil der Armut halbiert? Welches ist der Motor, der Armut reduziert? An die Adresse der Autoren von „58“ und Fast Living muss man die Frage richten, welchen Anteil die globale Kirche tatsächlich bei dieser Halbierung der Armut hatte. In Film und Buch findet sich allerdings keinerlei Nachweis, dass die christlichen Kirchen der Motor waren, der von 52 zu 26% geführt hat. Sie hat sicherlich mit dazu beigetragen, doch hat wirklich sie Hunderte Millionen aus der Armut befreit? Wenn die Halbierung aber im Wesentlichen nicht auf das Konto der Kirche geht, warum soll sie dann auf einmal den Rest ausmerzen?
Haugen schreibt den Erfolg bei der Armutsbekämpfung dem menschlichen Mitgefühl zu. Dies habe „die Macht“, „das Leiden von Millionen von Menschen zu beenden“. Die Unterstützung von Menschen in Not ist tatsächlich oft ein Ausdruck des Mitgefühls. Genauso ist die soziale Hilfe ein Element der kirchlichen Arbeit. Sind aber Mitleid und Barmherzigkeit die Hauptantriebsfedern des sozialen Wandels auf der Welt? Wurden gewaltige Erfolge auf breiter Front bei der Reduzierung von extremer Armut erzielt, weil Menschen Mitleid und Barmherzigkeit in die Tat umgesetzt haben? Nein. Haugens These ist falsch, zumindest in der pauschalen Weise wie sie im TED talk vorgetragen wurde. Ich denke nicht, dass wir in dieser Weise stolz auf die Macht unseres Mitgefühls sein sollen wie Haugen fordert.
Es ist unbestreitbar, dass sehr viele Christen – aber natürlich auch Nichtchristen – von Mitleid motiviert werden, wenn sie sich für Gerechtigkeit und gegen Armut einsetzen. Doch nur im Einzelfall können dieser Motivation auch tatsächlich direkte Ergebnisse bedeutenden Ausmaßes zugeschrieben werden. So war die Abschaffung des Sklavenhandels und dann der Sklaverei im britischen Imperium in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sicher auch dem Mitleid mit den Sklaven zuzuschreiben. Und gewiss hat christlich motiviertes Mitleid mitunter gravierende langfristige Folgen. Im späten römischen Reich änderte sich z.B. die Einstellung zu Kranken, Behinderten, Armen und un- bzw. neugeborenen Kindern radikal. Der Schwache und Hilflose war nicht mehr Objekt der Verachtung, sondern Empfänger von Taten der Barmherzigkeit. Mitleid wurde zu einer Tugend – in der griechisch-römischen Ethik war sie dies ganz und gar nicht.
Allgemein kann man also durchaus behaupten, dass Mitleid und Barmherzigkeit ‘wirken’. Denn sie führen oft zu Taten, die das Leid lindern. Wie steht es aber konkret um die radikale Reduzierung der Armut, die ab 1800 Fahrt aufgenommen hatte? Wie ist die Erhöhung des verfügbaren Pro-Kopf-Einkommens von (in heutiger Kaufkraft) durchschnittlich 3 US-Dollar am Tag (bis 1800) auf weltweit 30 Dollar heute zu erklären? (In den Industriestaaten stieg der Wohlstand um das Zwanzig- bis Dreißigfache.) Ist die „Große Tatsache“, die die extreme Armut bald zur Geschichte werden lässt, dem großen Mitleid geschuldet?
„Nicht Liebe und Barmherzigkeit haben die Armut zurückgedrängt“
Warum begann dieser einzigartige Prozess ausgerechnet vor etwa zweihundert Jahren? Darüber werden dicke Bücher geschrieben, und Wirtschaftshistorikerin Deidre McCloskey hat in Bourgeois Dignity alle Antworten vorgestellt und analysiert. Dies komplexe Thema soll hier nicht vertieft werden. Doch eins ist klar: Mitleid oder Barmherzigkeit haben diesen Schub nicht ausgelöst. Denn dann hätten wir wohl ewig darauf warten müssen. Die Menschheit war damals eben nicht zu der kollektiven Erkenntnis gekommen: Nun reicht‘s aber mit diesem globalen Elend! Es muss uns allen doch besser gehen! Lasst uns endlich etwas tun und Ströme der Barmherzigkeit über die Welt fließen!
Nichts dergleichen ist geschehen. Wir müssen der Tatsache nüchtern ins Auge blicken, dass es das Eigeninteresse des Menschen war und ist, dass das ungeheure Wohlstandswachstum angetrieben hat und immer noch antreibt. Adam Smith hat den Mechanismus in Der Wohlstand der Nationen (1776) so formuliert:
„Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.“ Genau dadurch, so Smith, durch die Orientierung am Eigeninteresse, ergibt sich eine für die Allgemeinheit vorteilhafte Entwicklung der Wirtschaft. Diese wundersame Transformation ist möglich, weil der Mechanismus auch dann funktioniert, wenn der Mensch nicht durch Mitleid und Barmherzigkeit angetrieben wird – und nach dem Sündenfall ist dies eben eher der Regelfall. Auch wenn der Bäcker in einer kleinen Stadt egoistisch ist und selbstsüchtige Ziele verfolgt, bleibt ihm letztlich nichts anderes übrig, als dauerhaft gute und schmackhafte Backwaren herzustellen. Selbst sein Egoismus ‘zwingt’ ihn, so weit wie möglich die Wünsche seiner Kunden zufriedenzustellen. C. Christian von Weizsäcker: „Wenn durch gesichertes Eigentum Raub und Diebstahl ausgeschlossen oder doch relativ selten sind, dann kann eine Veränderung, die für einen selbst vorteilhaft ist, in der Regel nur darin bestehen, dass man direkt oder indirekt auch anderen zusätzlichen Nutzen verschafft.“ (Die Logik der Globalisierung)
Gesundes Eigeninteresse und Egoismus müssen unterschieden werden; sie dürfen auf keinen Fall in Eins gemischt werden. Aus der Tatsache, dass die Marktmechanismen auch dann wirken, wenn die Beteiligten im Herzen sündigen, darf nicht geschlossen werden, dass die Mechanismen zu verwerfen sind. Kritiker des Kapitalismus beachtet dies meist nicht. Diesem wird vorgeworfen, Egoismus und Geiz würden gutgeheißen und zu Tugenden erklärt. Verteidiger kontern mit dem Prinzip der unvorhergesehenen Folgen: an sich gute Taten können auch ungewünschte, ja schädlichen Folgen haben; und böse Absichten und Motivationen können mitunter Gutes hervorbringen. Was wir sagen können, ist aber, dass der Marktprozess – welcher moralischer Antrieb im einzelnen Fall auch vorliegt – ingesamt zu positiven Ergebnissen führt. Das ist eine gute Nachricht, denn anders ist der ungeheuere Wohlstandszuwachs auf der ganzen Welt nicht zu erklären. Wir wären als Menschheit nie gut genug gewesen, um so etwas direkt anzustreben und zu erreichen. Er ist eine unvorhergesehene, nicht geplante Folge – Gott sei Dank.
In Kapitel 23 von Fast Living kommt Todd dieser Wahrheit nahe, sehr nahe. Adam Smith, der Vater der modernen Volkswirtschaftslehre, wird sogar namentlich genannt. Smith habe mit seiner Betonung des Segens des freien Markts zumindest teilweise recht gehabt, und Todd bemerkt, dies seien „harte Neuigkeiten“ für einige unter den Lesern. Er stellt richtig dar, wie die Wirtschaftsöffnung in China Ende der 70er Jahre zu zahlreichen neuen Jobs führte und viele Chinesen aus der Armut befreite. Er nennt das konkrete Beispiel des „Happy Meal“-Spielzeugs von McDonald‘s, gefertigt natürlich in Asien. Nachfrage in den USA hat in China Jobs und Wohlstand geschaffen – eine „schreckliche Äußerung für viele“ Globalisierungsgegner.
Todd nennt diese Zusammenhänge, ohne aber daraus weitergehende Schlüsse zu ziehen. Deutlicher ist da Patrick Bernau, der zu Weihnachten in faz.net prägnant kommentierte:
„Die Armutsbekämpfung der vergangenen Jahrzehnte gehört zu den größten Erfolgen der Menschheit – und zwar nicht in den Staaten, die seit Jahren mit Entwicklungshilfe und Fair-Trade-Handel gepäppelt werden. Sondern in China, Indonesien oder Vietnam: den Staaten, die sich in die globale Wirtschaft integriert haben. Nicht Liebe und Barmherzigkeit haben die Armut zurückgedrängt, sondern die globale Konsumgesellschaft. Denn hinter der Konsumgesellschaft steht ein Antrieb, der Menschen immer wieder zu großen Leistungen inspiriert hat: Immer mehr und immer höhere Qualität zu bekommen, und das immer billiger. Was könnte besser sein? Die Armen profitieren am meisten davon, wenn es immer bessere Qualität immer billiger gibt. Die Umwelt freut sich auch. Denn ‘immer billiger’ heißt auch: mit immer weniger Ressourcen.“
Lena Schipper, eine weitere FAZ-Redakteurin für Wirtschaft, berührte im Herbst diese Fragen in „Kann man Armut einfach abschaffen?“. „Die Anzahl derjenigen, die mehr als vier Dollar am Tag zur Verfügung haben und damit nach den Kriterien der Weltbank zur Mittelschicht zählen, hat sich in den letzten 25 Jahren verdreifacht“, so Schipper. Und dies liegt vor allem an der Entwicklung in den asiatischen Ländern wie China. „Dort waren im Jahr 1990 nach den Kriterien noch fast zwei Drittel der Bevölkerung extrem arm, heute sind es nur noch vier Prozent. Vielen vormals Armen gelang der Aufstieg in die Mittelschicht. Von einem der ärmsten Länder der Welt ist China damit zu einem Land geworden, das die Armut beinahe besiegt hat. Von den Menschen, die in den vergangenen 25 Jahren der Armut entronnen sind, war jeder Zweite Chinese. Warum?“
Noch einmal: In China fiel die Armutsquote seit 1990 von 61 Prozent auf sage und schreibe vier Prozent. Schipper über die Gründe für dieses Wunder:
„China ist etwas gelungen, was vielen anderen Entwicklungsländern, vor allem in Afrika südlich der Sahara, aus unterschiedlichsten Gründen bisher nicht vergönnt war: die Integration in die globale Wirtschaft. Bodenreformen in den achtziger Jahren machten die chinesische Landwirtschaft international wettbewerbsfähig. Die Umwandlung kollektiver Betriebe in marktwirtschaftlich arbeitende Staatsunternehmen sowie Investitionen in die Produktion arbeitsintensiver Güter für den Weltmarkt und in die Infrastruktur förderten den Aufbau einer erfolgreichen Industrie. Finanziert wurde das auch durch Unmengen ausländischen Kapitals, die nach der Öffnung des Landes durch Deng Xiaoping und der Einrichtung spezieller Sonderwirtschaftszonen von Ende der siebziger Jahre an ins Land strömten, um das Potential des chinesischen Binnenmarkts zu erschließen. Dank dieser Maßnahmen gehören Chinas Wachstumsraten seit Jahrzehnten zu den höchsten der Welt. Und das hilft auch den armen Chinesen. ‘Wirtschaftswachstum ist langfristig die wichtigste Voraussetzung der Armutsbekämpfung’, sagt der Ökonom Markus Loewe vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik.“
Die „globale Konsumgesellschaft“ drängt die extreme Armut zurück – wahrlich eine „schreckliche Äußerung für viele“ Christen, die gerade in der Weihnachtszeit mit Vorliebe diese Konsumgesellschaft als solche geradezu verteufeln.
„Die wettbewerbliche Wirtschaft ist die Kraft der Veränderung“, so von Weizsäcker. Der Volkswirtschaftler, der lange an der Universität Köln lehrte, setzt sogar noch einen darauf: „Die Weltprobleme werden dadurch gelöst, dass man der Wirtschaft die Führungsrolle vor der Politik überlässt.“ Stärke dieser Sichtweise ist, dass der Mensch realistisch betrachtet wird. „Die Wirtschaft“ steht natürlich für das Produzieren von Waren durch Menschen und das Handeln von diesen Produkten und Dienstleistungen durch Menschen. Im Zentrum der Ökonomie steht der handelnde Mensch (weshalb Ludwig von Mises sein volkswirtschaftliches Hauptwerk auch sehr treffend Human Action nannte). Dieser Aspekt adelt die Menschen gleichsam. Demütigend ist hingegen, dass die Endresultate des wirtschaftlichen Prozesses nicht unserer Kontrolle unterliegen. Menschen können und müssen allgemeine Regeln für den Ablauf der Wirtschaft aufstellen, doch was konkret am Ende von Angebot, Nachfrage, Wettbewerb, Innovation und „schöpferischer Zerstörung“ (Schumpeter) stehen wird, kann nicht vorhergesagt und im Einzelnen gesteuert werden. Was wir jedoch, wie schon gesagt, inzwischen aus Erfahrung wissen, ist die Tatsache, dass intensive Arbeitsteilung, Innovationsfreudigkeit und globaler Handel, geschützt von einem rechtlichen Rahmen, zur mehr Wohlstand auf breiter Front führt; dass Länder bzw. Gesellschaften, die den „bourgeois deal“ (Deidre McCloskey) akzeptiert haben – lasst uns, die bürgerlichen Unternehmer, in Freiheit produzieren und handeln, und wir sorgen für breiten Wohlstand – tatsächlich langfristig ungeheuer erfolgreich waren und sind.
Der Samariter hatte auch Geld
Sollen wir „wirklich stolz sein“, wie Haugen meint, dass „wir“ die extreme Armut schon in so großem Maße besiegt haben? Es gibt hier aber tatsächlich nichts, worauf wir stolz sein könnten. „Wir“ haben „die“ Armut nicht besiegt. Der Ingenieur eines Autobauers kann berechtigt stolz darauf sein, dass er an der Konstruktion eines sehr effektiven Motors mitgewirkt hat; der chinesische Arbeiter kann stolz darauf sein, dass er seine Familie dank fleißiger Fabrikarbeit viel besser versorgen kann, als dies seine bäuerlichen Vorfahren je tun konnten; der osteuropäische Unternehmer kann stolz darauf sein, dass es ihm in wenigen Jahren geglückt ist, attraktive Produkte für den umkämpften europäischen Markt zu produzieren. – Wir können mehr oder weniger berechtigt stolz auf persönliche Leistungen sein.
Dies gilt dann auch für Taten der Barmherzigkeit. So kann auch der Leiter eines christlichen Hilfswerks stolz darauf sein, dass Spenden sinnvoll in gute Projekten eingesetzt werden und vor Ort Veränderung bewirken, die einzelnen Menschen wirklich hilft. „Stolz“ ist hier vielleicht nicht ganz das richtige Wort; eine innere Zufriedenheit beim guten Handeln, ein Wissen um die Richtigkeit des eigenen Tuns sind Umschreibungen dieses in sich Ruhens in moralischer Hinsicht. So können wir auch davon ausgehen, dass der barmherzige Samariter in Lukas 10 innerlich sicher war: diesem Ausgeraubten muss ich nun helfen, und das ist gut so.
Margaret Thatcher wieß gerne darauf hin, dass der barmherzige Samariter die finanziellen Mittel besitzen musste, um helfen zu können. Die in V. 35 konkret genannten Denare mussten zuvor erwirtschaftet werden, und in seinem Fall geschah dies höchstwahrscheinlich durch Handel. Und dort herrscht wie in jedem Bereich der Wirtschaft das Eigeninteresse. Ein ökonomischer Tausch kommt zustande, wenn beide Seiten davon einen subjektiven Vorteil haben, d.h. entsprechend ihres eigenen Interesses handeln.
Der in wirtschaftlichen Prozessen gewonnene Wohlstand schafft also die Grundlage für unser mildtätiges und barmherziges Handeln. Bill Gates kann heute über seine Stiftung Milliarden verteilen und Armut und Krankheit auf der ganzen Welt bekämpfen, weil sein Microsoft-Imperium zuvor Milliarden an Gewinnen hervorgebracht hat. Eigeninteresse und Gewinnorientierung sind der Motor, der Armut auf breiter Front reduziert und der dann auch genug Mittel für großzügiges Retten aus Not und Elend bereitstellt. Menschen sind heute nicht wesentlich barmherziger als früher (und sie sind auch nicht wesentlich gieriger als früher), aber nun stehen ihnen mehr Mittel zur Verfügung, um Not zu lindern.
In England nahm im 19. Jahrhundert die Industrialisierung Fahrt auf; Bevölkerungszahl und Lebensdauer stiegen, der allgemeine Wohlstand nahm zu. Massen strömten vom elenden Leben auf dem Land in die Städte mit ihren Fabriken. Dort lebten die Arbeiter besser, aber sicherlich nicht gut – und auch heutiger Sicht immer noch elendig genug. Erstmals in der Geschichte wurde Armut in sehr deutlichem Maße sichtbar und auch dokumentiert – man denke an die Romane von Charles Dickens. Die vielen neuen Zeitungen berichteten über soziale Skandale und das Leid der Arbeiter. In Großbritannien bildeten sich viele Tausende Wohlfahrtsvereine, um die Not in den Städten zu verringern. Das Muster ist klar: Durch Fortschritte in Technologie und Wirtschaft steigt der allgemeine Wohlstand; eine breitere bürgerliche Mittelschicht bildet sich; in den städtischen Ballungsräumen viel dichter beieinander lebend steigt die Sensibilität für soziale Probleme; und vor allem sind nun die Ressourcen da, um diese Probleme anzugehen und Reformen umzusetzen.
Um 1900 waren die USA zur weltweit größten Industrienation geworden. Nach dem I Weltkrieg lagen weite Teile Europas am Boden. In vielen Ländern wie selbst Deutschland und Österreich wurde gehungert. Noch schlimmer aber traf es Russland, wo der verlustreiche Krieg auch noch in eine Revolution und einen blutigen Bürgerkrieg überging. Aber damit nicht genug: Im Bereich der mittleren Wolga brach 1921–22 eine schreckliche Hungersnot aus, der etwa 6 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Aber noch viel mehr wären gestorben, wenn nicht internationale Organisationen wie vor allem die American Relief Administrationen, getragen von Spenden der US-Bürger, viele Millionen Russen über viele Monate hinweg versorgt hätte – Hunderttausende, ja Millionen wurden vor dem Tod bewahrt.
Der Kampf gegen den Hunger an der Wolga vor fast einhundert Jahren war nun tatsächlich einer der großen Erfolge des Mitleids! Hier kam Mitleid über die Gegensätze der Ideologien hinweg zum Tragen, denn Russland war ja seit ein paar Jahren kommunistisch beherrscht, und es waren auch die Maßnahmen der Bolschewiki, die das Massensterben auslösten. Die Amerikaner konnten helfen, weil sie die Möglichkeiten und Ressourcen besaßen. Und sie setzten die Hilfe sogar fort, als bekannt wurde, dass die Sowjetführung parallel zum Hunger im eigenen Land Getreide ins Ausland verkauft, um die eigene Industrie aufzubauen.
Hat die Not bedrohliches Ausmaß ausreicht, droht z.B. Millionen der akute Hungertod oder bricht eine andere Katastrophe über ganze Länder herein, kommt tatsächlich kollektives Mitleid, das Mitfühlen von Millionen, besonders zum Tragen. Insofern hat „Mitgefühl die Macht, das Leiden von Millionen von Menschen zu beenden“. Das Mitgefühl spielt gerade in der akuten Nothilfe eine führende Rolle. Aber diese Rolle ist eben auch eine begrenzte. Mitgefühl ist schlicht und einfach nicht das Allheilmittel für die Probleme der Welt. Es ist eben nicht so, dass in erster Linie deswegen noch so viele Menschen in grausamer Armut stecken, weil die wohlhabenden Menschen nicht mitleidig genug sind.
Freiheit oder Pflicht
Gegen Ende seines Vortrages betont Haugen noch einmal, dass hinter den „unentschuldbarsten Dingen“ meist „mangelndes Mitgefühl“ steht. „Unsere Enkel werden uns über Vergangenes zur Rede stellen. Und sie werden uns fragen: ‘Oma, Opa, wo wart ihr? Wo warst du, Opa, als die Juden aus Nazideutschland geflohen sind und an unserer Küste abgewiesen wurden? Wo warst du?’“ Haugen nennt noch weitere solcher Beispiele und schlägt anschließend die Brücke zur Gegenwart: „Genauso werden uns unsere Enkel fragen: ‘Oma, Opa, wo wart ihr, als zwei Milliarden der ärmsten Menschen der Welt im Chaos alltäglicher Gewalt untergingen?’ Ich hoffe, wir können sagen, wir hatten Mitgefühl, erhoben unsere Stimme und schlossen uns als Generation zusammen, um die Gewalt zu beenden.“
Haugen zeigt sich hier als begabter Redner, doch seinem Argument ist keineswegs zu folgen, ja er überschreitet sogar die Grenze zur Manipulation – und das macht die Sache sehr ernst.
Wer vor achtzig Jahren die Möglichkeit hatte, Juden zu schützen, sich für sie einzusetzen oder sie in einem anderen Land aufzunehmen, der hatte die Pflicht, dies auch zu tun. Dies war direkt moralisch geboten – jeder hätte sich für die Verfolgten einsetzen müssen; unterlassene Hilfe ist in diesem Fall ethisch verwerflich. Anschaulich ist dies wieder im Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Levit und Priester konnten helfen, taten es jedoch nicht; der Samariter erkannte seine Pflicht und handelte entsprechend.
Auf einer ganz anderen Ebene liegt das globale Phänomen der extremen Armut. Hier steht einer konkreten Not eben nicht eine konkrete Handlungsoption gegenüber. Hier betreten wir nicht das Feld der moralischen Verpflichtung, sondern das der Freiheit. Ich kann ganz frei eine Hilfsmaßnahme von IJM, Compassion, World Vision oder wem auch immer unterstützen, muss es aber nicht. Ich kann auch meinen örtlichen Pastor, eine Bibelgesellschaft, eine Studentenmission, einen Tierschutzverein usw. finanziell fördern. Es gibt keinerlei moralisches Gebot, gemeinsam mit anderen die globale Armut oder Gewalt auszumerzen. Wir sollen die Armut im Bereich unserer direkten Verantwortung beenden – in der Familie und der Gemeinde und den Kirchen. Hier gibt es genug zu tun. Da wir dank unseres Wohlstands aber noch mehr Mittel haben, können wir auch Initiativen wie der Haugens unter die Arme greifen. Damit werden jedoch nicht globale Probleme „gelöst“ – damit wird konkreten Menschen geholfen. Warum beläßt es Haugen nicht dabei?
Mitgefühl ist ein großes Gut. Dass man mit leidenden Menschen auch aus anderen Völkern und anderer Religion mitfühlen soll, ist eine der wichtigsten Lehren des Christentums. Man tut dem Mitgefühl jedoch kein Gefallen, wenn man es überfrachtet und für die Lösung der globalen Probleme verantwortlich macht. Der weltweite radikale Rückgang der Armut ist nicht Verdienst einer globalen, kollektiven Mitleidswelle. Wer dies behauptet, sagt nicht die Wahrheit. Es ist vielmehr das vielgescholtene kapitalistische System, das Wohlstand schafft und so auch mehr und mehr Taten der Barmherzigkeit möglich macht. Wir brauchen nicht stolz auf dieses Wirtschaftssystem zu sein, denn wir haben es nicht geschaffen, d.h. es wurde nicht bewußt geplant. Aber wir sollten mit mehr Respekt und Achtung darüber reden. Es sind fast nie weltweite Initiativen und Werke und Aktionen und Pläne, die globale Probleme „lösen“. (Eigentlich sehe ich nur im Bereich der Medizin – Beispiel der Pockenausrottung vor einigen Jahrzehnten – die Möglichkeit zu wirklich erfolgreichen globalen Aktionen; zur Sklaverei in einem nächsten Post.)
In Taten mündendes Mitleid war schon immer gut und richtig und hat seine kleinen und großen Früchte hervorgebracht. Das änderte aber nichts oder wenig daran, dass über Jahrtauende das Pro-Kopf-Einkommen 1 bis 7 Dollar betrug. Ist dies so, weil die Menschen so lange nicht mitleidig genug waren? Nein. Noch einmal: die große soziale Transformation der vergangenen Jahrhunderte – neben der Christianisierung die Transformation schlechthin – war nicht geplant, gesteuert und in dem Sinne noch nicht einmal gewollt. Gott hat in seiner Vorsehung der Welt um 1800 einen Mechanismus geschenkt, in dem jeder Einzelne viel mehr erreichen kann als früher. Dieser Mechanismus gibt uns ungeheure Freiheiten und ermöglicht auch große Taten der Barmherzigkeit. Wenn man denn schon stolz über das menschliche Mitleid sein will, sollte man umso dankbarer für die Quelle unseres Wohlstands sein, aus dem dieses Mitleid schöpfen kann.