In die Zukunft und gen Himmel blicken

In die Zukunft und gen Himmel blicken

In diesem Semester unterrichtet Holger am EBI Sozialethik. In der letzten Vorlesung im Mai wird es um die Regierungsformen, konkret die Demokratie gehen. Zu diesem Thema muss eine der wichtigsten Stimmen der Vergangenheit gehört werden: Alexis de Tocqueville. (Ein Beitrag, der im Litauischen hier zu finden ist.) 

Der große Prophet

Mit einem Freund bereiste Alexis de Tocqueville vor gut 180 Jahren im Auftrag des französischen Staates die USA. Seine anschließend verfasste Analyse von Politik, Gesellschaft und Kultur des Landes, Über die Demokratie in Amerika (1835/40), machte ihn auf einen Schlag berühmt. Das umfangreiche zweibändige Werk setzte neue Maßstäbe in der politischen Wissenschaft und besticht bis heute wegen seiner präzisen Vorhersagen.

Als französischer Außenminister hatte Tocqueville jedoch keine Erfolge, blieb 1849 nur fünf Monate lang im Amt. Er war kein guter Redner, und das Schreiben bereitete ihm Schwierigkeiten. Seine Gesundheit war nicht die beste, ein Leben lang rang er mit Glaubenszweifeln. Die Ehe mit einer Engländerin blieb kinderlos. Gleichsam zum Unglücklichsein sah er sich berufen und meinte: „Ich lebe nicht in Übereinstimmung mit mir selbst“. Trotz aller tiefen Einsichten war bei ihm von intellektueller Hybris keine Spur. „Wohin gehen wir also? Niemand vermag es zu sagen…“, so nüchtern in der Einleitung des Buches. Eines sah Tocqueville jedoch ganz klar: die demokratische Staatsform wird sich durchsetzen.

Tocqueville war ein geradezu fanatischer Freund der Freiheit. „Liebe zur menschlichen Freiheit und zur menschlichen Würde“ seien seine einzigen „Leidenschaften“. Dem Triumph der Demokratie blickte er aber keineswegs enthusiastisch entgegen. Der adelige Aristokrat sah die Stärken der Demokratie, machte gleichzeitig schon früh auf ihre inneren Widersprüche aufmerksam – Widersprüche, mit denen wir noch heute fertig werden müssen und weswegen er gegen Ende seines Werkes schreibt: „ich bin voller Besorgnis und voller Hoffnung“.

Man muss „die Demokratie belehren“, so Tocquevilles Grundüberzeugung. Eine Demokratie ist zu ihrem Überleben darauf angewiesen ist, dass der Einzelne nicht nur seine Rechte einfordert, sondern auch bereit ist, Pflichten nachzukommen. Sie braucht Bürger mit Bildung, Kultur, vor allem Sitte und Moral. Eine entscheidende Aufgabe hat dabei auch die Religion. Einer der großen Liberalen des 19. Jhdt. meinte überraschend kategorisch: der freie Mensch „muss ein Glaubender sein“. Sein großes Ziel: „Versöhnung der liberalen Gesinnung mit der religiösen.“

Tocqueville erkannte die Wichtigkeit der Zivilgesellschaft und der Pressefreiheit, er sagte schon lange vor kaum zu bändigenden Finanzmärkten die Herrschaft der Ökonomie und des Geldes vorher. Tocqueville sah die ungeheure Macht der öffentlichen Meinung voraus, die gleichsam zu einer Religion wird. Er warnte schon vor erdrückender Konzentration der staatlichen Macht. Scharfe Kritik übte er am aufkommenden egoistischen Individualismus und Materialismus: „Die Liebe zum Wohlstand… ist gleichsam das hervorstechende und unaustilgbare Merkmal der demokratischen Zeitalter“. Die Demokratie „weckt in ihnen eine unmäßige Liebe zu materiellen Genüssen.“ Materialismus ist besonders in demokratischen Ländern eine „geistige Krankheit“. Alle, denen die Zukunft der demokratischen Gesellschaft am Herzen liegt, müssen sich darum bemühen, dass die Bürger den Blick zum Himmel wenden und ein „Gefühl für die Ewigkeit“ entwickeln. Gerade die christliche Religion lehrt den richtigen Blick in die Zukunft, nämlich „die Seelen auf den Himmel gerichtet zu halten“.

Einen besonderen Horror hatte Tocqueville vor der „Allmacht der Mehrheit“, ja ihrer „Tyrannei“, die in demokratischen Staaten droht. „Sobald über eine Frage die Mehrheit erst einmal zustande gekommen ist, gibt es sozusagen nichts, was ihren Gang hemmen, geschweige denn zum Stilstand bringen könnte, nichts, was ihr Zeit ließe, die Klagen derer anzuhören, die sie auf ihrem Wege zermalmt. Die Folgen diese Sachverhaltes für die Zukunft sind unheilvoll und gefährlich.“ Nur Gott könne „gefahrlos allmächtig sein“. Für alle menschliche Autorität gilt: „Es gibt auf Erden keine an sich selbst so ehrwürdige, keine mit so geheiligtem Recht ausgestattete Macht, dass ich sie unkontrolliert handeln und ungehindert herrschen lassen wollte.“ Kaum weniger streng: „Ich halte den Grundsatz, dass im Bereich der Regierung die Mehrheit eines Volkes das Recht habe, schlechthin alles zu tun, für gottlos und abscheulich…“ Das Recht der Mehrheit müsse sich daher unbedingt an der Gerechtigkeit orientieren.

In den letzten Kapiteln von Über die Demokratie in Amerika warnte Tocqueville hellsichtig vor einer neuen Art von Despotismus. „Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber“, so seine dunkle Vision. Tocqueville fürchtet, ja er zittert davor, dass die Menschen schließlich „so sehr in den Bann einer feigen Liebe zu Gegenwartsgenüssen geraten, dass sie sich weder um ihre eignen Zukunft noch die ihrer Nachkommen kümmern und dass sie lieber weichlich dem Lauf ihres Schicksals folgen, als dass sie nötigenfalls eine rasche und entschlossene Anstrengung zu seiner Besserung unternehmen.“

Die Selbstentmachtung des Individuums geht einher mit einer fürsorglichen, aber die Freiheit erstickenden Obrigkeit:

„Über diesen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild…. Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens mit jedem Tag wertloser und seltener; sie beschränkt die Betätigung des Willens auf einen kleinen Raum, und schließlich entzieht sie jedem Bürger sogar die Verfügung über sich selbst.“ Die Folgen: „Er [der Souverän] bricht ihren Willen nicht, aber er weicht ihn auf und beugt und lenkt ihn; er zwingt selten zu einem Tun, aber er wendet sich fortwährend dagegen, dass man etwas tue; er zerstört nicht, er hindert, dass etwas entstehe; er tyrannisiert nicht, er hemmt, er drückt nieder, er zermürbt, er löscht aus, er stumpft ab, und schließlich bringt er jedes Volk so weit herunter, dass es nur noch eine Herde ängstlicher und arbeitsamer Tiere bildet, deren Hirte die Regierung ist.“

Trotz manchem düsterem Ausblick war Tocqueville kein Pessimist wie sein Zeitgenosse Arthur Schopenhauer. Wir sollen den Blick auf ein Ziel „in der Ferne“, d.h. in der Zukunft richten, außerdem – wie gesagt – gen Himmel blicken, so der Franzose. Dazu Auszüge aus drei Kapiteln von Über die Demokratie in Amerika (Band II, Teil 2 – diese zweibändige Gesamtausgabe aus dem Manesse-Verlag ist leider vergriffen; nun ist im Handel nur die Reclam-Ausgabe mit Auszügen erhältlich), die bis heute kaum etwas von ihrer Aktualität verloren haben:

Tocqueville