„Lasst alle Hoffnung fahren …“
In Litauen klettert Dan Browns neuer Roman Inferno gerade die Bestsellerlisten ganz nach oben. In Deutschland rutscht das Werk schon wieder nach untern. Hier ein Gastbeitrag von Olaf Lahayne – eine fundierte und veheerende Kritik:
Vom Autor Dan Brown kannte ich vorher nur „Sakrileg“ („The Da Vinci Code“). Etwas ähnliches habe ich mir auch für „Inferno“ erwartet: Einen flott geschriebenen Thriller, der uns an einige malerische Schauplätze führt, geführt von Robert Langdon, Dan Browns Alter Ego und Held wider Willen. Die Plot-Idee in „Sakrileg“ mag haarsträubend und unhistorisch gewesen sein, doch wenn man sie als solche akzeptierte, funktionierte das Buch als Thriller – mit gewissen Einschränkungen, auf die ich hier nicht eingehen werde.
Schon die kostenlose Leseprobe wirkte auf mich teils wie ein schlechtes Dan-Brown-Imitat. Kurioserweise hatte der Kritiker der New York Times einen ähnlichen Eindruck: „The early sections of “Inferno” come so close to self-parody that Mr. Brown seems to have lost his bearings“ (NY Times, 12. Mai 2013).
Dieser Eindruck besserte sich bei mir im Laufe des Buches nicht; im Gegenteil. Eines hat „Inferno“ freilich gemein mit „The Da Vinci Code“: Nämlich den unpassenden Titel! Letzteres Buch hätte korrekterweise „The Leonardo Code“ heißen sollen: „Da Vinci“ ist einfach eine Herkunftsangabe, kein Nachname. Man spricht ja beispielsweise auch nicht vom „Von Nazareth-Evangelium“, sondern vom Jesus-Evangelium, und der neue Papst nennt sich nicht „Von Assisi“, sondern Franziskus.
„Inferno“ müsste nun eigentlich „Purgatorio“ heißen (siehe dazu unten), aber entweder war das Autor und Verlag nicht griffig genug, oder Dan Brown hat die „Göttliche Komödie“ von Dante Alighieri schlichtweg nicht gelesen oder nicht verstanden. Denn wie sich der Plot von „Sakrileg“ an den Werken von Leonardo da Vinci entlang hangelt, so dient in „Inferno“ Dantes episches Gedicht als ‚Aufhänger’ für Langdons kulturhistorische Schnitzeljagd.
(Von hier an seien alle vorgewarnt, die das Buch noch nicht kennen und sich die erhoffte Spannung nicht nehmen lassen wollen; ich werde nun auf Details des Plots eingehen!)
Zur Handlung: Mit Kapitel 1 wacht Robert Langdon in Florenz im Krankenhaus auf. Er leidet unter Amnesie; wie bzw. warum er von Harvard nach Florenz gekommen ist, weiß er nicht mehr. Somit muss er innerhalb der nächsten 24 Stunden nicht nur seine eigenen Schritte rekonstruieren, sondern auch ein grauenvolles Komplott entschlüsseln, das ein mysteriöses Superhirn gesponnen hat. Und damit Langdon trotz seiner Amnesie weiß, dass „die Zeit drängt“, beginnt das Ganze mit einem unheilverheißenden Alptraum des Protagonisten.
Indem Langdon nach und nach dahinter kommt, was er an dem „lost Weekend“ gemacht hat und was eigentlich vor sich geht, wird die Geschichte der eigentlichen Verschwörung hauptsächlich von hinten nach vorne erzählt. Das ist recht geschickt gemacht von Dan Brown: Einerseits dient dies natürlich dem Spannungsaufbau und -erhalt; andererseits werden damit auch klaffende Lücken in der Logik des Plots verschleiert. Daher hier ein knapper Abriss des Plots in chronologischer Folge: Der Schweizer Bertrand Zobrist – reich, exzentrisch und genial – plant, die (vermeintliche) Überbevölkerung der Menschheit zu reduzieren. Um ein Mittel dafür zu entwickeln, taucht er für ein Jahr unter. Dies ermöglicht ihm – gegen Bezahlung – das „Konsortium“, eine kriminelle Organisation unter der Leitung des „Provost“. Als eine Art Leibwächterin fungiert eine Killerin namens Vayentha. Unbemerkt vom Rest der Welt, entwickelt Zobrist ein Virus, das ein Drittel der Menschheit unfruchtbar macht. Darüber schreibt er einen Brief an Sienna Brooks, eine Anhängerin und einstige Geliebte. Diese will die Freisetzung des Virus verhindern, weiß aber nicht, dass diese in Istanbul erfolgen soll. Dies verschweigt auch das Bekenner-Video, welches das Konsortium für Zobrist verbreiten soll.
Noch vor seinem Abtauchen hatte Zobrist versucht, die WHO-Chefin Elizabeth Sinskey von seinen Zielen zu überzeugen. Diese hat stattdessen eine weltweite Fahndung nach Zobrist in Gang gesetzt. Kurz vor der geplanten Ausstrahlung des Videos, aber bereits nach der Freisetzung des Virus kommen die Agenten der WHO Zobrist auf die Spur. Dieser begeht Selbstmord. Von dem Virus weiß noch niemand, und als Hinweis, um Zobrists Plänen auf die Spur zu kommen, haben Sinskey und ihre Agenten nur eine Art Projektor in der Hand, der eine Darstellung von Dantes „Inferno“ zeigt.
Um diese Spur zu deuten, fliegt Sinskey in die USA, um Langdon um Rat zu fragen. Der löst dieses erste Rätsel rasch, und zusammen fliegt man zurück nach Florenz. Dort führen die nächsten Spuren Langdon zur ‚Totenmaske’ von Dante, die er aus dem Museum entwendet. Dies entgeht dem Konsortium nicht. Es schickt Vayentha aus, um zu verhindern, dass Langdon und die WHO Zobrist auf die Spur kommen. Als Langdon sich weigert, die Seiten zu wechseln, wird ihm ein Mittel verabreicht, das die Amnesie auslöst. Um sein Vertrauen zu gewinnen bzw. Langdon unwissentlich fürs Konsortium anstatt für Sinskey arbeiten zu lassen, wird ihm vorgespielt, dass er eine Schusswunde erlitten haben und die Agenten der WHO für das Konsortium arbeiten. Vor allem aber soll ihm Sienna zur Seite stehen. Infolge seines Verschwindens glaubt Sinskey wiederum, Langdon habe tatsächlich die Seiten gewechselt.
All diese Informationen werden erst im letzten Drittel des Romans enthüllt; erst an dieser Stelle setzt die eigentliche Handlung von „Inferno“ ein, die dann innerhalb von gut 24 Stunden abgewickelt wird. Es folgt also die kulturhistorische Schnitzeljagd nach bewährten Brown’schen Muster, die Langdon und Sienna – samt Verfolger – von Florenz nach Venedig und Istanbul führt. Diese setze ich hier als bekannt voraus. Aber, wie obige Zusammenfassung zeigt: Diese ganze Schnitzeljagd ist völlig sinnlos! Ja, mehr noch: Das war von Anfang an so gedacht! Denn Zobrist will seine Tat nicht anlässlich der Freisetzung des Virus verkünden, sondern zu einem Zeitpunkt, an dem sich dieses bereits über die ganze Welt ausgebreitet haben wird!
Spätestens an dieser Stelle des Romans hatte ich den Eindruck, vom Autor schlichtweg veräppelt zu werden. Denn, um dies nochmals zu unterstreichen: Die Hinweise für jene Schnitzeljagd werden ja von Zobrist selbst ausgestreut! Wozu!? Warum will er Sinskey jenen Projektor zu einem Zeitpunkt zukommen lassen, zu dem sich das Virus bereits weltweit verbreitet hat? Zobrist steht ja zu seiner Tat, ja, er ist sogar stolz darauf! Warum sagt er nicht einfach: ‚Ich habe einen Virus freigesetzt, der jeden Dritten von euch unfruchtbar macht. Wenn ihr mir nicht glaubt: Seht einfach nach, in Istanbul, in der antiken Zisterne!’ Aber nein; stattdessen eine Reihe dunkler Hinweise. Selbst Sienna, obwohl Anhängerin von Zobrist, verliert irgendwann die Geduld: „“Das macht keinen Sinn!“, sagt sie unruhig. „Nehmen wir an, Zobrist hat tatsächlich heimlich etwas auf die Rückseite der Totenmaske [Dantes] geschrieben. Und dann hat er sich die Mühe gemacht, den kleinen Projektor zu bauen, um damit auf die Maske hinzuweisen … warum hat er dann nicht eine deutlichere Botschaft hinterlassen? […]“ (Kapitel 56. Ich beziehe mich auf die eBook-Ausgabe und führe daher die Kapitelnummern als Belege an.)
Eine gute Frage! In Kapitel 17 erklärt Zobrist gegenüber dem Provost die Rolle des Projektors: „“Mehr ein Dorn in ihrer [d.h. Sinskeys] Seite … Ein kleiner geistreicher Stachel, gefertigt aus einem Knochen. Sie wird feststellen, dass es sich um einen Plan handelt, eine Karte … ihren persönlichen Vergil, den Führer in ihre private Hölle.““
Also ist die ganze Schnitzeljagd ein einziger, elaborierter, sadistischer Scherz? Aber wie soll der wirken, wenn Sinskey ja erst ganz zum Schluss erfährt, was Zobrist eigentlich getan hat? Und wie soll Zobrist all diese Hinweise eigentlich gelegt haben? Ist er quer durch Florenz, Venedig und Istanbul gereist, während er doch angeblich abgetaucht war? Und während er zugleich jenes Virus entwickelte und züchtete, ganz allein, vermutlich in seinem Badezimmer?
Aber der wahre Grund für die Schnitzeljagd ist nur allzu klar: Sie dient als Vorwand, um Robert Langdon in die Geschichte einzubinden und ihn nach bewährtem Muster auf die Reise zu schicken. Und praktischerweise ist er, der Kulturhistoriker, nun plötzlich auch Dante-Experte! Und selbstverständlich findet sich kein besserer Dante-Experte in Florenz selber, ja, nicht einmal in Europa, nein, Robert Langdon muss her, und so eilt man von Florenz nach Harvard und zurück, wohl wissend, dass „die Zeit drängt“!
Und was hat nun eigentlich Dante mit jenem Plot zu tun? Die verblüffende Antwort: GAR NICHTS! Dantes „Göttliche Komödie“ ist nur Zobrists Lieblingswerk, ja, er meint gar: „Dieses Buch wurde für mich geschrieben.“ (Kap. 17) Denn: „Der Weg zum Paradies führt direkt durch die Hölle, wie Dante uns gelehrt hat.“ (Kap. 31) Oder, ebenfalls von Zobrist: „Um das Paradies zu erreichen, muss der Mensch durch das Inferno.“ (Kap. 10)
Hierauf bezieht sich der Titel des Buches. Als Paradies sieht Zobrist offenbar seine ‚schöne neue Welt’, bevölkert von einer Art Übermensch; als Inferno die Reduzierung der Bevölkerung um ein Drittel wie weiland bei der Pest im 14. Jahrhundert.
Diese Zitate zeigen freilich, dass Zobrist (und damit wohl auch Brown) nicht viel Ahnung von der Sache hat: Denn wer im Inferno – also in der Hölle – drin ist, kommt da selbstverständlich nicht mehr raus! Was gemeint sein dürfte, ist das Purgatorio, also das Fegefeuer, das bei Dante eher mit Läuterungsberg übersetzt werden sollte: Durch dieses müssen die Verstorbenen durch, die nicht in der Hölle landen, aber auch nicht sofort ins Paradies kommen. Wie so viele heute, weiß Brown nicht zwischen Hölle und Fegefeuer zu unterscheiden.
Betreibt Brown einfach nur hemmungsloses Name-dropping, oder hat er sich wirklich mit der „Göttlichen Komödie“ auseinandergesetzt? Auf jeden Fall zitiert er nur sehr sparsam aus dem Werk, und das vorangestellte Motto („Die heißesten Orte der Hölle sind reserviert für jene, die in Zeiten moralischer Krisen nicht Partei ergreifen.“) ist nicht von Dante, sondern von Brown selber. (Man beweise mir das Gegenteil! Ich habe es jedenfalls nicht im Text gefunden.) Selbst jener Hinweis, den Zobrist auf Dantes ‚Totenmaske’ hinterlässt, ist ein schwaches Dante-Imitat.
Die Dante-Thematik dient Brown aber sowieso nur als Aufhänger für Langdons kulturhistorische Schnitzeljagd. Wichtig scheint dem Autor die Thematik zu sein, der sich Bertrand Zobrist verschrieben hat: Die sogenannte Überbevölkerung. Weite Teile des Buches sind Debatten und Erörterungen über dieses Thema gewidmet. Auffallend dabei: Es werden nur Argumente aufgelistet, die das Bevölkerungswachstum bzw. -explosion als Gefahr schildern, als Bedrohung, die mit mathematischer Sicherheit auf uns zukomme. Browns Liebslings-Vokabel: Exponentielles Wachstum bzw. geometrische Progression. Dies illustriert Brown bzw. Zobrist in Kapitel 22 mit einem bekannten Bild: Man nehme ein Blatt Papier, zerreiße es, lege beide Hälften aufeinander, zerreiße dies wieder, lege die vier Viertel aufeinander, zerreiße sie, und so fort. Mit jedem Schritt wird der Stapel also doppelt so dick. „Unser Stapel Papier würde [bei einer Papierstärke von 0,1 mm] nach nur fünfzig Verdoppelungen … beinahe bis zur Sonne reichen.“
Rein mathematisch, stimmt das von der Größenordnung her (ca. 110 Millionen Kilometer bei einem Sonnenabstand von 150 Millionen Kilometer). Natürlich wäre dieser ‚Stapel’ dann auch etwa 10-16 m dünn: Das ist ein Millionstel des Durchmesser eines Atoms! Ein unpassendes Bild also, um die Gefahren des Bevölkerungswachstums zu illustrieren; aber dies nur nebenbei.
Als Kronzeuge wird Thomas Robert Malthus zitiert, der bereits vor gut 200 Jahren vor den Gefahren des Bevölkerungswachstums warnte. Freilich verschweigt uns Brown, dass Malthus seinerzeit auf eine maximale Erdbevölkerung von einer Milliarde Menschen kam. Robert Langdon seinerseits, der angebliche Harvard-Professor, könnte zur Widerlegung eine Studie des örtlichen Center for Population Studies zitieren, wonach die Erde bequem 40 Milliarden Menschen (!) ernähren könnte. Er könnte auch erwähnen, dass die Weltbevölkerung gar nicht exponentiell wächst, da die Wachstumsrate kontinuierlich fällt. Er könnte anführen, dass einige Szenarios erwarten, dass die Weltbevölkerung nur bis auf 8 bis 10 Milliarden steigt, um dann sogar zu sinken.
Langdon tut es nicht; stattdessen lässt Brown seine (und Sinskeys) Gegenargumente wie die Ausflüchte von naiven Gutmenschen klingen, die von den brillanten Köpfen Zobrist und Brooks mühelos widerlegt werden.
Sympathisiert Brown also mit den Zielen seines ‚Schurken’ Zobrist? Befürwortet auch er eine Reduzierung der Bevölkerung – wenn auch nicht mehr durch Seuchen und Völkermord, sondern durch schmerzlose Sterilität? So viel Zynismus will ich dem Autor dann doch nicht unterstellen. Eher dürfte er ein Thema gesucht (und gefunden?) haben, das – ähnlich wie seinerzeit bei „Sakrileg“ – gut ist für Kontroversen, für Publicity und somit letztendlich für den Absatz seines Buches.
Man kann diese Message ignorieren oder auch akzeptieren. Ich könnte sie Brown sogar verzeihen, falls sein Buch ansonsten wenigstens handwerklich ordentlich gearbeitet wäre.
Weit davon entfernt!
Ich schätze gut geschriebene Thriller durchaus, habe etwa einiges von John Grisham und Michael Crichton durchaus mit Vergnügen gelesen. Deren Niveau erreicht „Inferno“ nie; selbst hinter „Sakrileg“ bleibt das Buch zurück. Die Gründe dafür sind vielfältig. Wo anfangen … Am besten mit jenem bereits erwähnten großen Twist, bei dem Langdon (und mit ihm der Leser) erfährt, dass er den Großteil des Buches über unbewusst für die falsche Seite gearbeitet hat. Ich weiß es durchaus zu schätzen, wenn der Leser vom Autor in die Irre geführt wird. Meisterin dieser Disziplin war natürlich Agatha Christie; man nehme nur „Zeugin der Anklage“. Aber auch J.K. Rowling gelang es mustergültig, den Leser über 7 Potter-Bände Sand in die Augen zu streuen, was die wahre Rolle von Prof. Snape betrifft.
Ein Handlungs-Twist muss gut konstruiert, glaubhaft und nachvollziehbar sein. Gut konstruiert hat Brown seine große Wendung, doch baut sie auf allzu vielen Zufällen auf, um glaubhaft zu sein: Die scheinbare Narkotisierung von Dr. Sinskey, die nur eine harmlose Medikamentation war; die scheinbare Krankheit von Ferris, die sich als harmloser Bluterguss erweist; das Auftreten von Vayentha und Agent Brüder, die immer gerade noch rechtzeitig unterbrochen werden, ehe sie ihre wahre Rolle enthüllen können; die wahrlich geniale Schauspielerei von Sienna, die immer wieder wider besseres Wissen „erschrickt“, verwundert dreinblickt und sich unwissend stellt. Besonders in letzterem Fall erweist sich die von Brown präferierte Erzählperspektive als problematisch: Stets schreibt er aus der auktorialen Erzählsituation heraus, und dabei hört er den Charakteren auch ab und an beim Denken zu. Aber selbst dabei verraten die Figuren ihre wahre Rolle nicht – bis es dem Autor passt, versteht sich.
Und selbst wenn man all dies akzeptiert, so verheddert sich Brown dennoch ab und an in seinem eigenen Konstrukt. Siehe etwa die Rolle von Vayentha: In Kapitel 82 enthüllt der Provost, dass sie bei jenem (scheinbaren!) Anschlag auf Langdon in Kapitel 2 und 4 nur mit Platzpatronen geschossen habe. Wie sind dann aber folgende Beschreibungen zu verstehen: „Draußen prasselte ein Kugelhagel gegen das Metall der Tür“; „Das Prasseln von schallgedämpften Schüssen […] hielten an“, und noch einmal: „Kugeln prasselten gegen den massiven Türknauf.“ Mal ganz abgesehen von dem dünnen Vokabular klingt das eher, als habe die Angreiferin mit einer Maschinenpistole geschossen – und zwar mit echten Kugeln. Und ähnliches wiederholt sich in Kapitel 48: Hier will Vayentha Langdon wohl beweisen, dass sie nur Platzpatronen in der Waffe hat. Und dennoch: „Noch während sie abdrückte, wandte sie den Kopf … und als sich der Schuss löste, wusste sie, dass sie Langdon verfehlt hatte.“ Kann man jemanden verfehlen, wenn man gar keine Kugeln in der Waffe hat? Nun, bei Brown geht das!
Aber gut, kommen wir jetzt zu Browns vermeintlicher Paradedisziplin, dem Aspekt, der ihn von anderen Thriller-Autoren abhebt: Dem kulturellen Zierrat, dem bildungsbürgerlichen Bombast, um es böse auszudrücken. „Alle Werke der Kunst und Literatur in diesem Roman existieren wirklich. Die wissenschaftlichen und historischen Hintergründe sind wahr.“ So protzt Brown in der kühn mit „Fakten“ betitelten Vorbemerkung. Und wie üblich ist dem Autor dabei das Beste gerade gut genug. Diesmal geht es nach Florenz, Venedig und Istanbul, in den Palazzo Vecchio, den Markusdom und die Hagia Sophia, um nur die prominentesten Stationen zu nennen. (Das hat stets auch den Vorteil, dass jeder von uns da schon ein Bild vor Augen hat, so dass Brown nicht auf seine bescheidenen Beischreibungs-Talente angewiesen ist.) Und was kommt Langdon in den Sinn, als er Florenz’ prächtige Piazza della Signoria betritt? „Zusammen […] sind es mehr als ein Dutzend entblößter Penisse, die den geneigten Besucher des Palazzo willkommen heißen.“ (Kapitel 34) Ich würde das ja für eine Parodie des prüden US-Touristen halten, wenn nicht das Buch ansonsten völlig humorfrei wäre.
Nachgezählt habe ich jedenfalls nicht – und damit zurück zu den „Fakten“. Browns Verkündigung seiner eigenen Unfehlbarkeit wird durch sein eigenes Werk widerlegt. Ein Fehler erschien mir dabei freilich derart krass, dass ich ihn selbst Brown nicht zutrauen mochte: Bei dem bereits erwähnten Bild mit dem 50-fach gefalteten Blatt erklärt Zobrist die Berechnung der ‚Stapeldicke’ wie folgt: „Ein Zehntel Millimeter hoch Fünfzig.“ Und wie um zu unterstreichen, dass dies kein Flüchtigkeitsfehler war, wird dies (wie so vieles) gleich nochmals wörtlich wiederholt. Darauf schlug ich im Original nach, und siehe da, dort war es korrekt: „One-tenth of a millimeter times two to the fiftieth power“. Ein ähnlich krasser Übersetzungsfehler findet sich in Kapitel 69: Dort wird aus „the home church of Antonio Vivaldi“ plötzlich „das Geburtshaus von Antonio Vivaldi“. Ersteres war zwar nicht ganz richtig (die heutige Pietà-Kirche, auf die sich Brown offenbar bezieht, wurde erst nach Vivaldis Tod erbaut), aber zumindest nicht ganz falsch wie die deutsche Version. Derartige Schnitzer dürften auf den Zeitdruck und die skurrilen Umstände zurückzuführen sein, unter denen die Übersetzung zustande kam: Die beiden deutschen und weitere Übersetzer wurden bei Mailand in einer Art Bunker ‚interniert’ und praktisch von der Außenwelt abgeschirmt, während sie zu Beginn dieses Jahres an der Übersetzung arbeiten. Als hätten sie irgendetwas von Wert verraten können …
Ansonsten liste ich im Folgenden nur die krassesten der Irrtümer Browns auf, über die ich auf Anhieb gestolpert bin.
- Kapitel 15: Wagner hat kein Werk geschrieben, das sich auf Dantes Inferno bezieht.
- Kapitel 18: Die Società Dante Alighieri (di) Vienna: Offenbar verwechselt Brown sie mit der deutschen Dante-Gesellschaft. Letztere hat tatsächlich das Ziel, Person und Werk von Dante Alighieri zu erforschen. Erstere widmet sich „der Pflege und Verbreitung der italienischen Sprache und Kultur“ (Zitat Homepage), ähnlich wie die deutschen Goethe-Institute. Die Società Dante Alighieri würde somit auch keine solche Konferenz veranstalten, wie sie Brown schildert. Und selbst wenn: Ich kann nicht nachvollziehen, warum die Zuhörer in Wien den gesamten Vortrag über stehen sollten …
- Kapitel 26: Die allererste Oper wurde nicht im Amphitheater im Park des Palazzo Pitti aufgeführt. Tatsächlich wurde die zweite Oper von Jacopo Peri im Jahre 1600 im Palazzo selber uraufgeführt.
- Kapitel 32: Jener Mord auf dem Ponte Vecchio war sicher nicht die Ursache des Konfliktes zwischen Ghibellinen und Guelfen; bestenfalls der Auslöser.
- Kapitel 37: Die angebliche Totenmaske Dantes gilt den meisten Experten als nicht authentisch. Darauf deutet schon die völlig unübliche Darstellung des Poeten mit halboffenen Augen hin.
- Kapitel 68: Die zweite Erwähnung meiner Heimatstadt Wien; der zweite massive Schnitzer: Langdon behauptet, er habe Klimts Gemälde „Der Kuss“ bei einer Ausstellung im Ca’ Pesaro in Venedig gesehen. Sehen wir einmal davon ab, dass diese Bemerkung nichts zur Handlung beiträgt: Wie Leonardo da Vincis „Mona Lisa“ niemals Paris verlässt, so verlässt „Der Kuss“ niemals Wien. Entweder verwechselt Brown das besagte Gemälde mit Klimts „Judith“, das tatsächlich im Ca’ Pesaro hängt, oder er erinnert sich an die Klimt-Ausstellung des Jahres 2012 im Museo Correr – wo „Der Kuss“ freilich auch nicht zu sehen war.
- Kapitel 69: Die berüchtigten Bleikammern befinden sich nicht im sogenannten neuen Gefängnis Venedigs neben dem Dogenpalast, sondern unter dem Dach des Dogenpalastes selber. Hätten Langdon bzw. Brown Casanovas Bericht von der Flucht aus den Bleikammern, den sie erwähnen, auch gelesen, so wüssten sie das.
- Kapitel 70: Die beiden Säulen auf der Piazzetta Venedigs haben nie ein „Zeremonientor“ oder etwas in der Art gebildet. Tatsächlich gilt es unter Venezianern als unglückbringend, zwischen den Säulen durch zu gehen.
- Kapitel 71: Die Pferderasse der Friesen wurde nicht „erst vor wenigen Jahren“, sondern vor ziemlich genau 100 Jahren vor dem Aussterben bewahrt. „Equus robustus“ ist auch kein anderer Name für die Friesen, sondern die Bezeichnung einer ausgestorbenen Pferdegattung, von denen einige ev. Vorfahren der modernen Pferde (Equus caballus) bzw. der Friesen waren. Wie Brown darauf kommt, dass diese nordeuropäischen Pferde einem antiken griechischen Bildhauer als Modell gedient haben könnten, kann ich nicht nachvollziehen.
- Kapitel 75: Die korrekte lateinisierte Form des Dogennamens „Enrico Dandolo“ ist „Henricus Dandulus“, nicht „Henricus Dandolo“; siehe die Inschriften auf Münzen und Gemälden und der nächste Punkt.
- Die Platte in der Hagia Sophia mit der Aufschrift „Henricus Dandolo“ markiert nicht das Grab des Dogen. Dieser wurde zwar mutmaßlich in der (seinerzeitigen) Kirche bestattet, doch wurde sein Grab später zerstört. Die heutige Gedenkplatte oder Kenotaph stammt erst aus dem 19. Jahrhundert; daher auch die inkorrekte Inschrift.
- Kapitel 90: Liszt Dante-Symphonie sieht zwar im letzten Satz einen Chor vor. Dort wurden aber keine Textpassagen aus der „Göttlichen Komödie“ verwendet, sondern der lateinische Text des Magnificat.
Besonders viele Fehler fielen mir somit in den Venedig-Kapiteln auf. Das mag daran liegen, dass ich mich dort besser auskenne als in Florenz oder Istanbul. Es mag auch eine andere Ursache haben: Ich habe den Verdacht, dass Brown den Abschnitt über Venedig – und vor allem den über Istanbul – relativ spät und dementsprechend schlampig(er) verfasst hat; vermutlich hat er irgendwann gemerkt, dass er mit Florenz allein keinen angemessen dicken Wälzer zustande kriegt. Daher wurde Langdon durch die Inschrift auf der ‚Totenmaske’ über den Hinweis auf Enrico Dandolo völlig unmotiviert erst nach Venedig, dann nach Istanbul gelotst. In seinen Danksagungen erwähnt Brown zwar viele Italiener, aber keine Türken. Das könnte den ziemlich peinlichen Fehler mit dem ‚Grab’ Dandolos erklären, der einem ortskundigen Fremdenführer sicher nicht passiert wäre. Offenbar hat Brown die Informationen über Dandolo direkt Wikipedia entnommen: Dort findet sich auch der von Langdon erwähnte Stich von Gustave Doré, zusammen mit der wortwörtlich zitierten, aber falschen Bild-Unterschrift.
Würde man die Wege der Protagonisten nachvollziehen, so würde man zweifellos noch weitere Fehler finden. Einige Punkte erscheinen mir besonders fragwürdig. So genügt etwa ein Blick auf die Decke des Saales der 500 im Palazzo Vecchio, um zu erahnen, dass jene Flucht von Langdon und Sienna über den Dachboden kaum so nicht funktionieren haben kann, wie sie Brown schildert. Ohne dies vor Ort nachgeprüft zu haben, kann ich dessen seriöserweise aber nicht sicher sein.
Nun behaupte ich nicht, der erste zu sein, der bei Brown auf Unstimmigkeiten gestoßen ist; einige Punkte werden auch auf den Rezensionen auf Amazon erwähnt oder in diversen Zeitungs-Kritiken. (Ich empfehle die köstliche Kritik im Daily Telegraph) Eine übliche Antwort von Kommentatoren war dann: „Es ist doch nur ein Roman! Und was ist mit der künstlerischen Freiheit?“
Ich hätte nichts dagegen, wenn Brown gelegentlich – falls es der Story dient – die Fakten etwas beugt und zurechtbiegt. Aber in der Vorbemerkung leugnet er ja explizit, dies zu tun. Und während er sich bei „Sakrileg“ als Kirchenkritiker gab, so wird Brown nun zum Demographie-Experten: „I talked to a lot of scientists who are also concerned about it and I came to understand that overpopulation is the issue to which all of our other environmental issues are tied.“ (BBC-Interview, 20. Mai 2013)
Also hat Bertrand Zobrist recht mit seiner Lösung? „I always try to choose the grey area and argue both sides,” Brown says. “If I’ve done my job, you close this book saying ‘Oh my God, what an enormous problem, and there is no simple solution, and I kind of see Zobrist’s point.’“
Wie bereits gesagt: Browns Argumentation in dieser Sache ist im Gegenteil einseitig. Weiß er, dass von den Thesen Malthus’ eine direkte Linie zur ‚Lehre’ der Eugenik und der Rassenhygiene führt?
Wie gesagt, vermute ich in der Wahl dieser Thematik eher kommerzielles Kalkül. Dennoch kann jene Ideologie, die Zobrist und Brooks in „Inferno“ vertreten (immerhin zwei vorgebliche Genies!), bei manchen der Millionen Leser auf fruchtbaren Boden fallen. So veröffentlichte 1926 Hans Grimm ein Buch, in dem die (angebliche) Überbevölkerung bzw. Raumnot in Deutschland thematisiert wurde. Es hieß „Volk ohne Raum“, wurde Schullektüre im NS-Staat, und wir wissen ja, wie es weiterging …
Aber die meisten Leser werden „Inferno“ gewiss als reine Unterhaltungslektüre konsumieren. Ich will auch Brown nicht unterstellen, dass er irgendwelche radikalen Ideologien verbreiten will. Gelegentlich (oder eigentlich sehr oft) bricht bei ihm bzw. seinem Alter Ego Robert Langdon zwar der (Ober-)Lehrer durch, aber ich habe den Verdacht, dass seine wichtigsten Inspirationsquellen kulturgeschichtlich eher, sagen wir, umstritten sind. So erwähnt Langdon beiläufig beim Betreten des Markusplatzes eine Szene aus dem Bond-Film „Moonraker“, die dort spielt. Zur Erinnerung: In jenem Film plant Hugo Drax, ein genialer Milliardär (und Schweizer?) die Züchtung einer menschlichen ‚Superrasse’ auf einer Raumstation, während der Rest der Menschheit auf der Erde durch Gift vernichtet werden soll. Gewissermaßen also ein ideologischer, wenn auch radikaler Vorgänger von Bertrand Zobrist.
Eine andere potentielle Quelle kam mir in den Sinn, als ich kürzlich durch die Comic-Abteilung meiner Lieblings-Buchhandlung streifte. Als ich dort die klassischen Donald-Duck-Geschichten von Carl Barks sah, fiel mir ein, dass Brown in „Sakrileg“ ja Walt Disney erwähnt. In Kapitel 61 vergleicht er ihn gar mit Leonardo da Vinci: „Beide Männer waren begnadete Künstler.“ Zwei der wenigen Eigenheiten, die der Leser über Robert Langdon erfährt, haben mit Disney zu tun: Seine Mickymaus-Uhr, deren (verübergehenden) Verlust er in „Inferno“ mehrfach bedauert, und dass „Zeichentrickfilme von Walt Disney [Langdons] erste Begegnung mit der Magie von Form und Farbe gewesen“ seien. Hat womöglich auch Dan Brown in seiner Jugend die Disney-Comics gelesen, in denen Carl Barks und andere Zeichner die Familie Duck gerne auf Abenteuer in die weite Welt schickten? Hat dies womöglich – bewusst oder unbewusst – auch sein Schreiben beeinflusst? Mit Robert Langdon als eine Art Daniel Düsentrieb der Kulturgeschichte? Falls jedenfalls jemand je auf die schräge Idee gekommen wäre, Carl Barks ein Szenario für einen Bond-Film entwerfen zu lassen, es hätte dabei etwas ähnliches herauskommen können wie „Inferno.“ Nur so ein Gedanke …
Soll ich mich noch zum Stil von Brown äußern? Aber ich glaube, diese Kritik ist schon lang genug, und auf dem Fach gibt es kompetentere Kritiker; daher hier nur zwei Links: hier und hier.
Angesichts all dessen muss man vielleicht froh sein, dass Dan Brown nicht mehr als Lehrer für Englisch arbeiten muss. Und glücklicherweise sind seine Bücher meines Wissens nach auch noch nirgends Schullektüre, so dass man sie ja nicht lesen muss …