Ein kleines Lehrbuch der Ethik
Auszug aus der Einleitung zur Neuausgabe des Heidelberger Katechismus in litauischer Sprache:
Wir leben in einer Zeit der moralischen Verunsicherung. Der französische Autor Frédéric Beigbeder nüchtern: „Das grundlegende Problem unserer Zeit ist, dass der Mensch nicht mehr weiß, wie er leben soll.“ Sicherlich sollten die christlichen Kirchen hier Abhilfe schaffen, doch John Stott selbstkritisch in seinem Kommentar der Thessalonicherbriefe:
„Eine der größten Schwächen der heutigen evangelikalen Christenheit ist unsere relative Vernachlässigung der christlichen Ethik – sowohl in unserer Lehre als auch in der Praxis. Als Folge davon sind wir besser bekannt als solche, die das Evangelium predigen, und weniger als die, die es leben und verehren… Einer der Hauptgründe für all dies ist, dass unsere Kirchen im Großen und Ganzen zu wenig Ethik lehren.“ (The Gospel & the End of Time)
Der Heidelberger Katechismus kann Kurfürst Friedrich III, der Auftraggeber des Werks, schrieb in seinem Vorwort, dass das Ziel auch die Erhaltung eines „züchtigen, aufrichtigen, tugendsamen Wandels und Lebens unserer Untertanen“ sei. Das Wort Gottes wirkt den Glauben, ist aber genauso auch „Fundament aller Tugenden und alles Gehorsams“.
Den Evangelischen wurde schon früh vorgeworfen, sie würden die guten Werke vernachlässigen. Schließlich lehren sie ja, dass allein der Glaube rechtfertigt. Die Evangelischen lassen „den Werken keinen Platz“ – so gibt auch Calvin den Vorwurf von Kardinal Sadoleto wider. Dieser versuchte 1539 in einem Brief die Protestanten von Genf für den Katholizismus zurückzugewinnen. Calvin (obwohl im Jahr zuvor von den Genfern aus der Stadt getrieben) antwortete im Namen der Bewohner: „Den guten Werken sprechen wir bei einem Menschen vor seiner Rechtfertigung bei Gott jegliche Bedeutung ab; im Leben der Gerechtfertigten geben wir ihnen die beherrschende Stellung“, so Calvin zum Vorwurf. „Wo Christus ist, da ist auch der Geist der Heiligung… Umgekehrt, wo kein Eifer für heiliges Wesen und Unschuld anzutreffen ist, da ist auch nicht der Geist Christi, noch Christus selbst“.
Diese Linie setzt auch der Heidelberger Katechismus fort. Frage 64 betont, daß der wahrhaft Gläubige gewiß „Frucht der Dankbarkeit“ hervorbringen wird. Dankbarkeit ist die Überschrift des gesamten Teils drei des Katechismus, der die Gebote und das Gebet behandelt und mit Fr. 86 beginnt. Dort wird gleich zu Beginn ausführlich die Frage, „warum sollen wir gute Werke tun?“ beantwortet:
„Wir sollen gute Werke tun, weil Christus, nachdem er uns mit seinem Blut erkauft hat, uns auch durch seinen Hieligen Geist erneuert zu seinem Ebenbild, damit wir mit unserem ganzen Leben uns dankbar gegen Gott für seinen Wohltaten erweisen und er durch uns gepriesen wird. Danach auch, dass wir bei uns selbst unseres Glaubens aus seinen Früchten gewiss werden und mit einem Leben, das Gott gefällt, unserem Nächsten auch für Christus gewinnen.“
Drei Perspektiven werden hier genannt: Gott, wir selbst und die Mitmenschen. Durch unsere Taten sollen wir Gott loben, ihm dankbar sein und Christus ähnlicher werden; sie bestärken unseren Glauben, denn wir können ja auch uns selbst an den Früchtern erfreuen; und sie sind auf die Mitmenschen ausgerichtet, sollen ihnen dienen, das Evangelium bezeugen und sie so für den Glauben gewinnen.
Welches sind nun die guten Werke des Christen? Frage 91 antwortet direkt: „Allein solche, die aus wahrem Glauben nach dem Gesetz Gottes ihm zur Ehre geschehen, und nicht solche, die auf unser Gutdünken oder auf Menschensatzungen gegründet sind.“ In wenigen Worten sind auch hier drei außerordentlich wichtige Dinge gesagt: die Motivation muß stimmen (aus wahrem Glauben und erneuertem Herzen), der Standard muß der richtige sein (die oberste Norm oder Autorität ist das Wort Gottes), und das richtige Ziel muß im Auge behalten werden (letztlich immer Gottes Ehre). (Diesen Dreiklang mit den Begriffen Motivation, Standard und Ziel prägte im 20. Jhdt. der reformierte Theologe Cornelius Van Til.)
Noch etwas wird hier deutlich: Der Christ ist frei von „Menschensatzungen“, d.h. Geboten, die keinerlei biblische Grundlage haben. Die Freiheit von „Menschensatzungen“ war ein Grundthema der Reformation: vielleicht die schönste der frühen Schriften Luthers ist Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520 im März 1522).
Der Begriff der Freiheit selbst fällt in Fr. 91 nicht. Aber das Prinzip Freiheit durchzieht den ganzen Katechismus. Christen sind befreit „aus aller Gewalt des Teufels“, so in Fr. 1, frei vom Fluch der Sünde (39, 52), dem verdammenden Zorn Gottes (17); sie haben freien Zugang zu Gott. Christen haben ein freies Gewissen (32) und sind in diesem nur an Gott und seine Gebote gebunden.
Freiheit wird heute jedoch oftmals verstanden als die Erlaubnis, Gebote abzuschwächen, zu umgehen oder gar ganz zu ignorieren – selbst viele Christen machen das, was sie allein für richtig halten und wollen sich von niemandem in ihre Entscheidungen reinreden lassen. Nichts könnte dem Geist der Reformatoren fremder sein. Die Antwort zu Fr. 90 (Was heißt Auferstehen des neuen Menschen?) überschreibt das Christenleben so: „Herzliche Freude in Gott durch Christus haben und Lust und Liebe, nach dem Willen Gottes in allen guten Werken zu leben.“ Freude, Lust, Liebe, den Geboten Gottes zu folgen – das ist nicht mit Zwang möglich; das läßt sich nicht einfach von Oben verordnen; das erschöpft sich nicht in Regeln und Vorschriften. Christen sind „von Gott in väterlicher Milde gerufen“, Gott will ihre „freudige Bereitwilligkeit“, so Calvin (Inst. III,19,4–5).
Dieser echte Gehorsam von Herzen braucht Freiheit! Gott setzt einen Rahmen, schreibt aber nicht alles im Detail vor. Daher geht es dann ab Fr. 94 in der Erläuterung der 10 Gebote nicht nur um die Verbote. Nicht morden – das kann meist noch mit Zwang verhindert werden. Das Verbot bedeutet aber auch positiv, „dass wir unseren Nächsten lieben wie uns selbst, im Geduld, Frieden, Sanftmut, Barmherzigkeit und Freundlichkeit erweisen, Schaden, so viel uns möglich ist, von ihm abwenden, und auch unseren Feinden Gutes tun“ (107). Auch das Verbot des Diebstahls wird so ‘erweitert’, dass „ich das Wohl meines Nächsten“ fördere, „wo ich nur kann“ (111). Es ist offensichtlich, daß dafür unser Nachdenken, unsere Kreativität und natürlich unsere Freiheit gefragt sind.
Der Heidelberger Katechismus setzt also die ganze Ethik unter positives Vorzeichen: Dankbarkeit, herzliche Liebe, Freiheit. Aber er bleibt dennoch nüchtern. Wachstum in der Heiligung bedeutet eben auch in negativer Hinsicht „sich die Sünden von Herzen leid sein lassen und sie je länger je mehr hassen und fliehen“ (89). Die Verkündigung der Gebote ist auch deshalb geboten, dass „wir unser ganzes Leben lang unsere sündige Art je länger, je mehr erkennen und umso begieriger Vergebung der Sünden und Gerchtigkeit in Christus suchen“ (115). Und streng vor Hochmut warnend heißt es in Fr. 114, daß selbst die Heiligsten „in diesem Leben über einen geringen Anfang [!] dieses Gehorsams“ nicht hinauskommen.
Gemälde oben: „Heidelberg“ von William Turner