
Ein weiterer Schritt in Richtung Allianz
Um 1800 begann ein neuer Abschnitt in der langen christlichen Missionsgeschichte. Bei der weltweiten Verkündigung des Evangeliums wurde immer mehr auf Zusammenarbeit der Kirchen gesetzt. Die Herausforderungen der Weltevangelisation wie z.B. die Verbreitung der Bibel ermutigten Christen, sich zu gemeinsamer Arbeit zusammenzuschließen. Es wurde erkannt, dass die Konkurrenz unter den Evangelischen auf dem Missionsfeld die Ausbreitung des Reiches Gottes eher behinderte. Im Laufe der Jahrzehnte entstand eine ganze Reihe von Organisationen, die Gläubige aus verschiedenen Kirchen für spezifische Aufgaben zusammenbrachten. So wurden 1795 die „London Missionary Society“ und 1804 die „British and Foreign Bible Society“ gegründet.
Der missionarische Geist veranlasste die bei den Briten „Evangelicals“ Genannten (später dann dt. „Evangelikale“) auch dazu, die erste bedeutende internationale überkonfessionelle Vereinigung zu gründen, die „Evangelical Alliance“ (Evangelische Allianz). 922 Vertreter verschiedener protestantischer Kirchen aus Europa und Nordamerika kamen im Spätsommer 1846 in London zusammen, um diesen neuartigen Bund zu gründen. Zu den Gründern der Allianz gehörten Presbyterianer (Reformierte), Kongregationalisten, Methodisten, Baptisten und Anglikaner. Das Ziel war nicht, eine Kirchenunion zu schaffen, sondern die bestehende geistliche Einheit im Glauben zum Ausdruck zu bringen und weiter zu stärken.
Heute vertritt die Weltweite Evangelische Allianz (WEA) über 600 Millionen Gläubige in fast 150 nationalen Organisationen in neun Regionen der Welt. Die Allianzen unterscheiden sich vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK/WCC) und entsprechenden nationalen Räten in zweierlei Hinsicht: Sie sind in theologischer Hinsicht ‘enger’ und stützen sich seit den Anfängen 1846 auf eine gemeinsame Glaubensgrundlage, die die grundlegenden Wahrheiten der evangelischen, reformatorischen Kirchen widerspiegelt: die Autorität der Bibel, die zentrale Stellung Jesu Christi, seines Todes und seiner Auferstehung, den persönlichen Glauben und die Notwendigkeit der Bekehrung, die Evangelisation und die Bedeutung von geistlicher Gemeinschaft und Gebet.
In organisatorischer Hinsicht sind die Allianzen breiter und tiefer aufgestellt als nationale Kirchenräte. Allianzen sind meist eine Art großes Dach, unter dem sich nicht nur Kirchen und Gemeindeverbände, sondern auch Ortgemeinden, christlichen Medien- und Missionswerke oder auch Einzelpersonen als Mitglieder versammeln. Sie sind kein riesiger Kirchenbund mit Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft, sondern eher ein Netzwerk, indem sich gerade auch die Nichtordinierten, die sog. Laien, in Ortsgruppen und Arbeitskreisen vielfältig einbringen.
Co-Generalsekretär der EEA in Litauen
In Litauen ist die Zusammenarbeit der Christen bzw. Kirchen schwach ausgeprägt. Zur Verwunderung ausländischer Besucher gibt es kein Kirchen bzw. Denominationen übergreifendes Netzwerk, keine Organisation wie eine Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen. Die einzige breit aufgestellte ökumenische Vereinigung ist die Bibelgesellschaft des Landes, in der die Zusammenarbeit ganz unterschiedlicher Kirchen – Katholiken, Evangelische und Orthodoxe – tatsächlich gut funktioniert.
Leider sucht man bis heute in Litauen auch eine Evangelische Allianz vergebens. In der Sowjetunion arbeiteten Christen und Geistliche aus verschiedenen Kirchen oft eng zusammen. Im freien Litauen kocht dagegen jeder seit über dreißig Jahren lieber sein eigenes Süppchen. Gerade die ältere Generation von Pastoren und christlichen Leitern hat aus der Sowjetzeit viel Misstrauen im Blut, was die Zusammenarbeit nur erschwert.
Vor über zwanzig Jahren gab es erste Schritte in Richtung auf eine Evangelische Allianz in Litauen. Gordon Showell-Rogers von der Europäischen Allianz (EEA) besuchte 2002 und 2004 das Land und stellte die Bewegung Kirchenleitern vor. Die Glaubensgrundlage der Europäischen Allianz wurde ins Litauische übersetzt. Aus verschiedenen Gründen kam es damals aber nicht zu einer formellen Gründung einer nationalen Vereinigung der Evangelikalen. Der damalige Leiter eines großen freikirchlichen Verbandes und seine Anhänger brachten durch wenig konstruktive Kritik das ganze Projekt zu Fall.
Erst in den letzten Jahren kam wieder Bewegung in den Prozess. Etwas überraschend spielte die Politik dabei eine Rolle. Im März 2021 kam es sogar zu einem in Litauen kirchenhistorisch bisher einmaligen Ereignis: Praktisch alle Kirchen Litauens sprachen sich unisono gegen die Ratifizierung der „Istanbul-Konvention“ im litauischen Parlament aus. Federführend war hierbei natürlich die in Litauen dominierende katholische Kirche, die ein eigenes Dokument herausbrachte. Die Evangelischen verfassten ihrerseits eine Stellungnahme, die ein breites Spektrum an Kirchen und Bünden mittrug. Im Juni 2022 folgte ein Thesenpapier zu Familie und Ehe, da das Parlament über ein neues Gesetz zur zivilen Partnerschaft beriet. Es wurde ebenfalls von zahlreichen evangelikalen Leitern unterzeichnet.
Zu erwähnen ist außerdem der Kurzbesuch einer Delegation der Weltweiten Ev. Allianz (WEA) in Vilnius Ende März 2022. Die 5-köpfige Gruppe um Thomas Schirrmacher, dem damaligen Generalsekretär der WEA, bereiste die drei baltischen Staaten. Erste Station war in der litauischen Hauptstadt, wo Schirrmacher bei einem Treffen von evangelischen Pastoren im Gebäude des Pfingstbundes die Allianz vorstellte.

2022 gab es auch in der Europäischen Evangelischen Allianz (EEA) Neuigkeiten. Der rechtliche Sitz wurde von der Schweiz nach Bad Blankenburg in Thüringen verlagert. Und eine neue Doppelspitze, die sich das Amt des Generalsekretärs teilt, nahm ihre Arbeit auf: Connie Duarte aus Kanada, die seit Jahrzehnten in Portugal lebt, in der Studentenarbeit aktiv war und eine Baptistengemeinde mitleitet; und Jan Wessels, ordinierter Pastor in der „Christlichen reformierten Kirche“ (cgk.nl) der Niederlande und ehemaliger Leiter der Allianz des Landes.
Wessels, der übrigens mit seiner Frau 18 Jahre als Missionar in Botswana lebte und unter den dortigen Buschmännern arbeitete, kam nun Ende April ein erstes Mal zu einer Erkundungsreise nach Litauen. Denn in der EEA vermisst man die Litauer als sichtbaren Teil der evangelikalen Familie Europas. Auf unserem Kontinent hinken nur noch Montenegro, Slowenien, die Ukraine, Belarus und eben Litauen ohne nationale Allianz hinterher.
Zum reformierten Kollegen hatte Holger schon Kontakt. Auf Wessels Anfrage organisierte er dem Holländer ein volles Programm in den vier Tagen: Treffen mit Pastoren aus dem Bund evangelischer Gemeinden, der Freien christlichen Kirche (Mennonitenbrüder), der „City Church“, Heilsarmee und der Baptisten. Wessels reiste auch von Vilnius nach Kaunas und Klaipeda, wo er am örtlichen Pastorenfrühstück teilnahm und die LCC International University besuchte. In der Hauptstadt gab er ein Radiointerview, traf ein evangelikalen Verleger und natürlich auch unseren reformierten Superintendenten.

Strategisch wichtig war schließlich der Besuch beim Bischof der lutherischen Kirche Litauens (s. Foto ganz o.). Mit über 50 Gemeinden und mehr als 20 Pfarrern ist diese 470 Jahre alte Kirche die größte evangelische Denomination im Land. Sie ist konservativ geprägt mit hoher Achtung der biblischen Autorität. Allerdings sind vom pietistischen Erbe der Vergangenheit (gerade im Memelland) nur noch kümmerliche Reste übrig. Hochkirchliche Tendenzen wie die starke Betonung der Sakramente und bewusst gepflegte Beziehungen zur katholischen Kirche sorgen für Zurückhaltung gegenüber der Idee der Allianz. Hinzu kommt Skepsis in der lutherischen Leitung gegenüber dem recht strengen Antikatholizismus mancher charismatischer oder baptistischer Gemeinden.
Auf die „traditionellen“ und vom Staat in gewisser Hinsicht privilegierten Kirchen der Lutheraner und Reformierten richten sich aber viele Augen der anderen evangelischen Bünde und Gemeinden. Von ihnen wird gerade wegen ihres Ansehens und ihres Status auch bei der Allianz Initiative erwartet – gerade von unserer reformierten Kirche.
Nun muss gut beraten werden, wie weiter konkret vorzugehen ist. Eine konkrete Maßnahme ist die Arbeit an der Herausgabe einer litauischen Übersetzung von Michael Reeves Gospel People (dt. Menschen des Evangeliums, Verbum Medien). Denn das sind ja die Evangelikalen oder sollen sie sein: Menschen des Evangeliums. Dieses Buch kann helfen, eine positive Vision für Litauen zu entwickeln, die anziehend und motivierend wirkt und vor allem hilft, Misstrauen weiter zu überwinden. So Gott will werden die Litauer, die letzten Heiden Europas, nicht die letzten mit einer Allianz der Evangelischen sein.