Auf einem rechten Auge blind?

Auf einem rechten Auge blind?

Seit Jahren hängen nun vom Präsidiumssitz im Seimas, dem litauischen Parlament, zwei große Flaggen: die litauische in Gelb, Rot und Grün, und direkt daneben das Blau-Gelb der Ukraine (s.u. Foto). Auch die meisten Sitzplätze der Abgeordneten sind mit zwei kleinen Nationalflaggen geschmückt. Am Präsidentenpalast, vor dem Regierungssitz und am Eingang von Ministerien – überall das gleiche Bild: die Farben zweier Nationen. Wenn, wie im vorvergangenen Jahr, der litauische Staatspräsident vor Kameras auch noch demonstrativ die ukrainische Flagge küsst, dürfte jedem klar sein: die Identifikation der Staatsführung Litauens mit dem Nachbarn im Südosten könnte kaum größer sein. (Nebenbei bemerkt: das recht strenge litauische Flaggengesetz widerspricht eindeutig all diesen Praktiken.)

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Diese demonstrierte Nähe zur sich verteidigenden Ukraine ist einerseits verständlich, da man hier wie dort in einem mächtigen Russland eine Bedrohung sieht. Andererseits ist die Gefahr groß, dass solch eine Parteinahme den Blick auf die Geschichte verzerrt. Die Ausstellung „In Stahlgewittern“ (lit. „Plieno audrose“), die im letzten Jahr durch die Großstädte Litauen wanderte, ist ein Beispiel für die Blindheit auf einem rechten Auge.

Der Titel der Ausstellung war sicher eine Anspielung an das erste Buch gleichen Namens von Ernst Jünger, worin dieser seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg schildert. Das Stahlgewitter der jüngeren Vergangenheit soll die Schlacht um Bachmut aus dem Jahr 2023 sein. Die Ausstellung zeigte Fotos der 3. Sturmbrigade der ukrainischen Streitkräfte. Die Soldaten und Soldatinnen stellten Szenen aus den „Freiheitskämpfen“ der Ukraine ab 1917 bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts genau nach.

Auf mehreren Aufnahmen in Schwarzweiß sind Wehrmachtuniformen und der typische deutsche Helm aus dem letzten Weltkrieg zu erkennen. Man sieht Soldaten der 14. Waffen-Grenadier-Division der SS. Diese Einheit der Waffen-SS wurde 1943 mit ukrainischen Freiwilligen gebildet. Sie erhielt den Beinamen „galizische Nr. 1“, was sich auf die Region Galizien im Westen der Ukraine bezieht. Ein Foto wurde bei der Schlacht um Brody in der Westukraine Mitte Juli 1944 aufgenommen. Die ukrainische SS-Einheit hielt damals unter hohen Verlusten die Rote Armee für mehrere Tage zurück. Doch im Begleittext kein Wort vom Kampf auf der Seite Deutschlands und Hitlers. Und aus der SS-Division wurde einfach die „Division Galizien“ – keinerlei Hinweis auf die SS-Verstrickung. Polen wirft der ukrainischen SS-Einheit bis heute Kriegsverbrechen vor.

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Die 3. Sturmbrigade wurde vor zwei Jahren gegründet und ging aus den „Asow“-Spezialeinheiten (SSO) hervor. Kommandeur der Brigade ist Andriy Biletsky, der auch Gründer und erster Chef des „Asow“-Bataillons war, eine Milizeinheit von Freiwilligen, die sich bei den Kämpfen im Donbas 2014 gebildet hatte. „Asow“-Einheiten wurden vielfach umorganisiert und sind heute in die ukrainischen Streitkräfte integriert. Aber man knüpft weiter gerne an Prinzipien und Geschichte der „Bewegung“ an.

So fehlt in der Selbstdarstellung der Sturmbrigade auch nicht der Hinweis auf den ersten Namen „Asow“. Von „little black men“ ist die Rede, und die Freiwilligen nannten sich anfangs „das Schwarze Korps“. Dass dies auch der Name des Kampf- und Werbeblatts der SS im Dritten Reich war, dürfte kein Zufall sein. Bis heute verwendet die Sturmbrigade wie schon das „Asow“-Bataillon die stilisierte Wolfsangel als Abzeichen. Diese findet sich zwar auch in der Heraldik von Städten, gilt aber heute als Nazi-Symbol. Zum Beispiel führte die 2. SS-Panzer-Division „Das Reich“ die Wolfsangel im Wappen.

Biletsky machte vor vielen Jahren mit rechtsextremen Sprüchen von sich reden. Bis zum russischen Einmarsch im Februar 2022 galt auch „Asow“ als Hort von vielen Neonazis. Heute wird der Ultranationalismus und das rechtsextreme Gedankengut von der Sturmbrigade mit Worten wie „Ukraine-zentriert“, „Traditionalismus“ und „Hierarchie“ gekennzeichnet – letzteres eine euphemistische Bezeichnung für das Führerprinzip, dem bei „Asow“ nie abgeschworen wurde. Dass all dies nicht herbeiphantasiert ist, zeigt das „Sonnenrad“, das auf der Brust eines der Soldaten der Brigade zu erkennen ist (s.u. Fotoswl. Dieses Rad, auch die „Schwarze Sonne“ genannt, war ein gerne von der SS genutztes Symbol.

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Im September des vorletzten Jahres wurde beim Besuch des ukrainischen Präsidenten im kanadischen Parlament ein 98-jähriger Kriegsveteran mit stehendem Applaus geehrt. Er habe für die Unabhängigkeit der Ukraine gegen Russland gekämpft. Dass er als Mitglied der galizischen SS-Division auf der Seite der Nazis stand, wurde geflissentlich übergangen. Nach heftiger Kritik wie durch das Wiesenthal-Center musste Premier Trudeau sich entschuldigen, der Parlamentspräsident Kanadas trat zurück.

Was in Kanada einen Skandal auslöste, juckt in Litauen kaum jemanden. Keiner wagt es, den braunen Verbindungen in der Ukraine auf den Grund zu gehen und ultranationales Gedankengut zu kritisieren. Denn sofort würde es heißen: Desinformation, Schwächung der Ukraine und russische Propaganda. Zweifellos nutzt Russland NS-Symbolik bei Ukrainern aus, um die „Entnazifizierung“ des Landes zu betreiben – dabei hätte man mit den eigenen Neonazis wohl kaum weniger zu tun. Und gewiss fälscht Russland viel Bild- und Videomaterial für eigene Propagandazwecke. Doch die Lüge der anderen rechtfertigt nicht das eigene Täuschen. Die Galizien-Division hat nicht für die Freiheit gekämpft, sondern für den „Endsieg“ im Vernichtungskrieg der Nazis im Osten. Dies mit keinem Wort zu erwähnen ist auch Propaganda.

Teil der neuen Regierungskoalition unter sozialdemokratischer Führung ist auch die junge Partei „Morgenröte der Memel“ (lit. Nemuno aušra). Ihr Chef Remigijus Žemaitaitis machte mit antisemitischen Sprüchen Schlagzeilen, die bis ins Ausland hohe Wellen schlugen und für viel Kritik in Litauen selbst sorgten (ausführlicher s. hier). Auf diesem rechten Auge ist man nicht blind, aber auf einem anderen wohl leider schon.

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