Braunhemden im litauischen Parlament?
Im September wandten sich mehr als 150 Persönlichkeiten aus Litauens Kunst, Wissenschaft und öffentlichem Leben in einem offenen Brief an den Staatspräsidenten. Eindringlich forderten sie darin, bei der anstehenden Bil-dung einer neuen Regierung bestimmte Kräfte nicht ans Ruder des Staates zu lassen. Sie warnten vor Parteien, die „die Grundlagen unseres Staates zerstören und seine Sicherheit schwächen“. Die Bürger des Landes wurden aufgefordert, keine „Stimme für antisemitische und menschenrechtsfeindliche“ Politiker abzugeben.
Deutliche Worte der intellektuellen Elite, die beim Volk aber kaum auf Gehör stießen. Gemünzt war der offene Brief auf eine Partei und ihren Vorsitzenden, die dennoch sogar als drittstärkste Kraft aus den Parlamentswahlen im Oktober hervorging. Und nun ist die erst vor einem Jahr gegründete Partei mit dem phantasievollen Namen „Morgenröte der Memel [oder des Nemunas]“ (lit. Nemuno Aušra) doch Teil der neuen Regierungskoalition! Die Sozialdemokraten konnten die Zahl ihrer Sitze vervielfachen und werden die neue Regierung anführen.
Alles dreht sich um Remigijus Žemaitaitis, Parteichef der „Morgenröte“, der schon bei der Präsidentschaftswahl im Mai überraschend auf Platz drei kam. Mit gerade 42 Jahren ist der aus Šilutė/Heydekrug stammende Jurist schon ein alter politischer Hase. Seit fünfzehn Jahren sitzt er im Seimas und war lange Chef der von Rolandas Paksas gegründeten Partei „Ordnung und Gerechtigkeit“, ab 2020 von „Freiheit und Gerechtigkeit“. Doch dann folgten auf einmal im Frühjahr 2023 sechs geschmacklose Einträge auf „Facebook“ mit antisemitischem Inhalt. Bevor ihm deswegen sein Parlamentssitz entzogen werden konnte, legte Žemaitaitis im April diesen Jahren selbst sein Mandat nieder. Ein halbes Jahr später ist er zurück.
All der Rummel um seine Person hat Žemaitaitis nur genutzt. Man wird den Eindruck nicht los, dass der Spott über Juden und Israel bewusste Provokationen waren. Seiner überraschend schnell gegründeten Partei strömen die Protestwähler nur so zu. Populistische Gebilde dieser Art kommen und gehen in Litauen mit schöner Regelmäßigkeit. Trotz der Parteifarben Orange und Braun wirken das Gerede von Braunhemden à la deutscher SA und Vergleiche mit Goebbels doch wie an den Haaren herbeigezogen. Denn in seiner Partei und nun im Parlament ist von echten Neonazis keine Spur, und auch im Programm der „Morgenröte“ ist fremdenfeindliches oder nationalistisches Gedankengut nicht zu finden.
Im November versammelten sich dennoch zwei Mal Tausende am Parlament, um gegen die Regierungsbeteiligung der „Morgenröte“ zu protestieren (s. Foto ganz o.). Die westlichen Botschafter melden Sorgenvolles in ihre Hauptstädte, und auch die internationale Presse hat schon Wind von dem „Antisemiten“ in Litauen bekommen und fragt erstaunt „Was ist in Litauen los?“. Man fragt sich ernsthaft, wer hinter diesem ganzen Aufstand steckt – zu künstlich und gesteuert wirkt alles…
Mit dem smarten Vytautas Sinica sitzt nun ein Abgeordneter der „Nationalen Vereinigung“ (lit. Nacionalinis susivienijimas) im Parlament. Dort hat man viel Sympathie für litauische Nazi-Kollaborateure während des Zweiten Weltkriegs und ihr faschistoides Weltbild. Aber daran stört sich keiner. Wird im Hinblick auf Juden- und Fremdenfeindlichkeit mit zweierlei Maß gemessen? (s. auch Foto u.P