Der Reformator Litauens
In Litauen ist die Nationalbibliothek nach einem lutherischen Pfarrer benannt: Martynas Mažvydas (Mosvidius). Jedes litauische Schulkind muss den Beginn des Vorworts seines Katechismus auswendig lernen, da dieser 1547 das erste gedruckte Buch in litauischer Sprache war. Doch Mažvydas war in einer Gemeinde im ostpreußischen Ragnit tätig, und sein Katechismus wurde in Königsberg gedruckt und wohl nur im evangelischen Fürstentum Preußen unter den dortigen Litauern verbreitet.
Mažvydas‘ Namen kennt heute in Litauen so gut wie jeder. Er wird sogar als Vorname vergeben. Im Großfürstentum Litauen selbst hatte er aber so gut wie keine Spuren hinterlassen. Dort fasste die Reformation erst Mitte des 16. Jahrhunderts richtig Fuß. Bald entstanden zahlreiche evangelische Gemeinden, Protestanten erlangten höchste Ämter im Staat. König Sigismund II. August war dem evangelischen Glauben gegenüber erstaunlich wohlgesonnen. Doch anders als im benachbarten (Ost-)Preußen gingen die Herrscher von Polen-Litauen eben nicht zur Reformation über, im Gegenteil. Die Ankunft der ersten Jesuiten im Jahr 1568 markiert schon den Beginn der Gegenreformation in Litauen. Stephan Bartory und dann die Könige aus dem Geschlecht der Wasa unterdrückten mehr oder weniger aktiv die Reformation.
Die von den jesuitischen Ordensbrüdern gegründete Akademie in Vilnius verzeichnete bald regen Zulauf. 1579 erlangte sie Universitätsstatus. 1573 war mit Piotr (Petrus) Skarga auch noch einer der fähigsten Organisatoren des Ordens aus Polen nach Vilnius gekommen und Rektor geworden. Die Mission der „Gesellschaft Jesu“ (daher Jesuiten) war dabei eindeutig: Litauen vor dem vollständigen Abgleiten in den Protestantismus bewahren und den „wahren“, d.h. römischen Glauben wiederherstellen.
Den Jesuiten stellte sich vor allem der intellektuelle Kopf der Protestanten Litauens entgegen: Andreas Volanus (lit. Andrius Volanas). Der aus Westpolen stammende Volanus (ca. 1531–1610) war die zentrale Gestalt der Reformation in Litauen. Ohne ihn wäre die noch junge evangelisch-reformierte Kirche wohl ins Sektiererische abgeglitten. Seine rund 40 Werke in lateinischer Sprache wurden in ganz Europa wahrgenommen. Im Kontrast zu Martynas Mažvydas kennt heute in Litauen seinen Namen jedoch kaum jemand.
Umso bedeutender ist, dass in diesem Herbst endlich die litauische Übersetzung von Andreas Volanus und die Reformation im Großfürstentum Litauen aus dem Jahr 2008 erschien. In seiner Doktorarbeit stellte Kęstutis Daugirdas die Grundzüge der Theologie von Volanus präzise dar. Daugirdas wurde in der litauischen reformierten Kirche zum Pfarrer ordiniert, lebt aber schon seit Jahrzehnten in Deutschland und leitet seit einigen Jahren als wissenschaftlicher Vorstand die Johannes a Lasco Bibliothek in Emden, Ostfriesland.
Über Volanus Herkunft und privates Leben ist nicht viel bekannt. Sein deutscher Vater Johannes entstammte einer schlesischen Adelsfamilie, seine polnischsprachige Mutter Sofia dem niederen Adel. Wahrscheinlich wuchs er schon in einem evangelischen Umfeld auf. In jungen Jahren wurde er zum Studium an die Universität Frankfurt an der Oder geschickt. Später folgte ein mehrjähriger Studienaufenthalt an der Königsberger Universität.
Nach Litauen kam Volanus, als er in den Dienst von Nikolaus Radziwill dem Roten trat. Die Familie Radziwill (lit. Radvila) war eines der mächtigsten und reichsten Adelsgeschlechter Litauens, seine Vertreter nahmen im 16. Jahrhundert die höchsten Posten in Staat und Militär ein. Die Schwester von Radziwill des Roten war Frau des Königs, verstarb jedoch früh. Als langjähriger Sekretär des Adeligen war Volanus in wichtige diplomatische Missionen eingebunden. 1572 erschien sein lateinisches Werk Über politische oder zivile Freiheit.
Nikolaus Radziwill der Schwarze, Cousin des Roten (die Beinamen erhielten beide wegen der Farbe ihrer Bärte), gilt als erster Patron der Evangelischen im Großfürstentum. Auf seinen Gütern wirkten evangelische Prediger, ab etwa 1555 bekannte er sich klar zum evangelischen Glauben und initiierte auch 1557 die erste evangelische Synode, die als Gründungsdatum unserer reformierten Kirche gilt. Doch der Schwarze starb 1565 überraschend früh mit gerade fünfzig Jahren.
1564 hatte auch Volanus‘ theologisches Wirken eingesetzt. Seinem Einfluss ist es zu verdanken, dass sich auch sein Arbeitgeber, Nikolaus Radziwill der Rote, eindeutig der Reformation zuwandte. Die vier Söhne des Schwarzen kehrten jedoch alle wieder zum katholischen Glauben zurück (einer wurde sogar Kardinal!); die Linie des Roten (Dubingiai-Biržai) bewahrte dagegen den evangelischen Glauben bis zum ihrem Auslöschen Ende des 17. Jahrhunderts.
Volanus hatte (wie Calvin und Bullinger) keinen theologischen akademischen Grad erworben und auch nie ein kirchliches Amt wie z.B. als Pfarrer inne. Dennoch machte ihn seine große Kompetenz bald zum Sprecher der Evangelischen bzw. Reformierten. Er hatte als einer der ersten erkannt, welche Gefahr von den Jesuiten in der Verbindung von Studium und gelebter katholischer Frömmigkeit für die Protestanten ausgeht. Gewalttätige Konflikte mit dem Orden führten schließlich dazu, dass die Vilniuser Reformierten 1640 die ummauerte Stadt verlassen mussten.
Volanus disputierte mit den Theologen der Jesuiten in der Universitätskirche, deren mächtiger Turm aus der Zeit des Barocks heute die Altstadt überragt. In seinen lateinischen Werken kritisierte er vor allem das katholische Abendmahlsverständnis. Skarga und andere Katholiken verfassten ihrerseits Schriften, in denen sie die Argumente der Protestanten auseinandernahmen. Die publizistischen Gefechte in Litauen im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts wurden in ganz Europa aufmerksam verfolgt. Die zahlreichen Werke des Andreas Volanus landeten komplett auf dem Index der verbotenen Bücher Roms; sie wurden später verbrannt und systematisch zerstört.
Die Jesuiten waren aber nicht die einzige Frontlinie für Volanus. In Polen-Litauen (wie auch Siebenbürgen) bildeten sich schon bald nach Beginn der Reformation die Dreieinigkeit leugnende bzw. die altkirchlichen Bekenntnisse und Dogmen ablehnende Gemeinden und Gruppen. Eine wichtige Rolle hierbei spielten Italiener wie Ochino, Stancaro, Biandrata oder Fausto Sozzini. Den aus Italien geflüchteten Dissidenten gab auch Radziwill der Schwarze Zuflucht. Sympathien für die ersten Antitrinitarier und Proto-Unitarier brachte dem Fürsten strenge Ermahnungen von Johannes Calvin ein.
Volanus‘ erste theologische Schrift befasste sich gleich mit der Dreieinigkeit. Darin setzte er sich kritisch mit dem Tritheismus des Polen Petrus Gonesius auseinander. Volanus bekräftigte die klassische Lehre vom ewigen Sohn Gottes. In den 70er und 80 Jahren des 16. Jahrhunderts nahm Volanus Stellung zu den Werken des Fausto Sozzini, Namensgeber der Sozianismus. Anfangs zogen weder die polnischen noch die litauischen Unitarier aus ihrer Ablehnung der Gottheit Christi die Konsequenz der Kritik der Rechtfertigungs- und Versöhnungslehre. Volanus hatte aber die Verbindung schon erkannt: die traditionelle Versöhnungslehre ist nur unter Voraussetzung der Trinität möglich. Unter den Antitrinitarien ging erst Sozzini weiter und wandte die Leugnung der vollen Gottheit des Sohnes auf die Erlösungslehre an. John Stott spricht in Das Kreuz ganz richtig von der „höhnischen Ablehnung der Lehre der Reformatoren“ und deren Evangelium in De Jesu Christo Servatore (1578) von Sozzini. Laut Franz Junius (1545-1602), Theologieprofessor an der Universität Heidelberg, war der Litauer, der Sozzini entgegentrat, „zu dieser Zeit der tapferste Soldat Christi und der glühendste Verteidiger der Heiligsten Dreifaltigkeit“.
Es war vor allem Volanus zu verdanken, dass sich die litauische reformierte Kirche klar von den Antitrinitariern und Unitariern abgrenzte. Die Kirche schwenkte klar auf den Kurs der Schweizer Reformation (Zwingli, Bullinger und Calvin) ein. Ab 1572/73 setzte sich das Zweite Helveticum in Litauen durch. 1570 war das Bekenntnis aus der Feder des Zürchers Heinrich Bullinger bei der Synode in Sandomir für Polen-Litauen angenommen worden. Damit erhielt die reformierten Kirchen in Polen-Litauen endlich ein stabiles Fundament.
Volanus bemühte sich auch um Einheit mit den Lutheranern. Gleichzeitig war er sich aber auch der kaum überbrückbaren Unterschiede in der Christologie und in der Abendmahlsfrage bewusst, die das sich konsolidierende Luthertum von den Reformierten trennten. Er wollte keineswegs im Namen einer einheitlichen antirömischen Haltung der reformatorischen Kirchen die Unterschiede ignorieren. 1585 nahm Volanus zusammen mit Theologen und Pfarrern auf reformierte Seite in Vilnius an einem Kolloquium zum Heiligen Abendmahl teil. Die Diskussion mit den lutherischen Vertretern wurde von keinem Geringeren als Volanus geleitet.
„Der vergessene Reformator“ hieß vor sieben Jahren ein Beitrag des „Deutschlandfunks“ über Andreas Volanus. Und tatsächlich: ein Bildnis von Volanus ist nicht erhalten, auch seine Grabstätte ist nicht bekannt. Nur einige Exemplare seiner Schriften sind in Bibliotheken Litauens erhalten. Die Gegenreformation in Litauen war aus der Sicht Roms eine Erfolgsgeschichte. Doch für die Evangelisch-Reformierten hätte auch alles noch viel schlimmer kommen können. Dass es auch heute noch eine Kirche gibt, die sich an Bibel und Bekenntnis orientiert und das Erbe der Schweizer Reformatoren hochhält, ist nicht zuletzt Volanus zu verdanken.