Umstrittene Nachtigall
Um ihre Macht zu stützen und sich der Zustimmung des Volks zu versichern, waren und sind totalitäre Herrscher auf die Mithilfe von Dichtern und Denkern, von Künstlern und Intellektuellen angewiesen. Im Dritten Reich ließen sich Leni Riefenstahl und Wilhelm Furtwängler mit den Nazis ein, dienten ihnen Martin Heidegger und Carl Schmitt. Die sowjetische Führung machte sich ab 1940 das große Talent der jungen Poetin Salomėja Nėris zu Nutze. Nun geht es in Litauen auch ihrem Erbe an den Kragen.
Die 1904 geborene Salomėja Bačinskaitė gab sich schon als Schülerin den Künstlernamen Nėris – nach dem Fluss, der bei Kaunas in die Memel mündet. Sie studierte in Kaunas und arbeitete danach als Lehrerin für Literatur und Deutsch, später auch als Übersetzerin französischer Werke. Noch als Studentin machte Nėris durch erste Veröffentlichungen als begabte Dichterin auf sich aufmerksam. Ende der 20er Jahre entfernte sie sich von ihren katholischen Wurzeln und näherte sich immer weiter dem Marxismus an. Sie begann für das linksradikale Literaturmagazin „Die dritte Front“ zu schreiben, das 1931 verboten wurde. Im autokratischen Smetona-Regime der 30er Jahre mied Nėris aber offene politische Äußerungen und erhielt sogar Literaturpreise. Wie tief dennoch ihre Entfremdung vom gesellschaftlichen Klima des Landes war, zeigte eine persönliche Entscheidung aus dem Jahr 1936: Um die obligatorische kirchliche Eheschließung in Litauen zu meiden, schlossen Nėris und der Bildhauer Bernardas Bučas in Frankreich die Zivilehe.
Dann kam im Juni 1940 die Besetzung Litauens durch die Sowjetunion. Enttäuscht vom politischen System Litauens, der Zensur und sozialen Stagnation, begrüßte Nėris mit nicht wenigen anderen Literaten den Anschluss an das Imperium des vermeintlichen Fortschritts. Im Hochsommer des Jahres reiste sie als ein führendes Mitglied der litauischen Delegation nach Moskau, um beim Obersten Sowjet das Aufnahmegesuch Litauens in die UdSSR zu überreichen. Damals entstand Nėris „Gedicht über Stalin“ – eine Hymne auf den Diktator, die sie vor Stalin selbst im August beim Anschluss Litauens an die Sowjetunion vortrug. Ins nun sowjetische Litauen brachten die Kunstschaffenden die „Sonne Stalins“ mit.
Obwohl sie nie der kommunistischen Partei angehörte, floh auch Nėris 1941 wie viele andere litauische Autoren vor den einfallenden Truppen der Wehrmacht ins russische Hinterland. Damals schuf die Dichterin ihre bekanntesten Propaganda-Gedichte wie „Der Weg des Bolschewisten“ (über Lenin). Zwei Monate nach Kriegsende starb Nėris mit gerade 40 Jahren an Leberkrebs. Kurz vor dem Tod hatte sie noch einen katholischen Priester zu sich geladen, was bis heute manche über ihre Rückkehr zu Gott spekulieren lässt.
Nėris Lyrik wird auch im seit 1990 wieder unabhängigen Litauen hochgeschätzt. Ihr kommt zugute, dass sie sich wegen ihres frühen Todes nur einige Jahre den Sowjets andiente und die Propaganda-Arbeiten keinen großen Raum in ihrem Oeuvre einnehmen. Zahlreiche Straßen trugen bisher ihren Namen, und in Vilnius war eine der ältesten und angesehensten Schulen mitten in der Altstadt nach ihr benannt.
Denn mit dieser Art von Gedenken an die Hochbegabte ist nun Schluss. Auf dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine trat im Mai letzten Jahres ein Gesetz über die Desowjetisierung des öffentlichen Raums in Kraft. Nun werden wie in den anderen baltischen Staaten sowjetische Kriegsgräber und Gedenkstätten entfernt oder versetzt. Im Frühjahr entschied eine staatliche Kommission, dass Straßen in Litauen, die nach der Schriftstellerin benannt sind, das totalitäre Regime propagieren und daher umbenannt werden sollten. Und die Stadtverwaltung von Vilnius machte nach langen Diskussionen im Mai aus dem Salomėja-Nėris das „Vytis“-Gymnasium (nach dem Nationalwappen, dem Ritter zu Pferde).
Nach Umfragen tragen jedoch etwa Zweidrittel der Einwohner diese Maßnahmen nicht mit. Für sie ist Nėris immer noch „unsere Nachtigall“ (nach Nėris Werk Die Nachtigall muss singen). Der 2008 verstorbene Liedermacher Vytautas Kernagis machte ihr Kirschblütengedicht aus dem Jahr 1930 zum Refrain eines seiner wohl bekanntesten Lieder. Die Eingangszeilen „Unser Tage sind wie ein Fest / Wie das Blühen der Kirschen“ und die Melodie von Kernagis kennt in Litauer jeder, und diese Worte werden wohl auch weiterhin über dem Eingang zum „Vytis“-Gymnasium stehen – Kollaboration mit Stalin hin oder her…