Wer unter dem Schutz der Blauen sitzt
In diesen Tagen beginnen in Litauen die größten Militärübungen seit Ende des Kalten Krieges. Litauische Einheiten werden bis zum 10. Mai das Manöver „Donner des Perkūnas“ durchführen; mit den Polen wird bei „Brave Griffin 24/II“ Taktik geübt; und bis Ende Mai rollt die schwere Technik von dreitausend Bundeswehrsoldaten, darunter Leopard-, Puma- und Boxerpanzer, durchs Land („Grand Quadriga 2024“). Nicht zu vergessen die US-Amerikaner, die wieder ihr Manöver „Saber Strike“ durchführen.
Die Botschaft, die damit gen Osten gesandt wird, ist natürlich klar: Das Baltikum soll und kann verteidigt werden. Die litauische Regierung tut ebenfalls alles, um sich wehrtauglich zu geben. Vor einigen Wochen wurde der wohl doch zu vorsichtige und zögerliche Verteidigungsminister rasch durch Laurynas Kasčiūnas ersetzt. Der recht junge Parlamentsabgeordnete war schon lange bekannt für sein markiges Auftreten. Dass er seine politische Karriere in einer Neonazi-Partei begann, stört eigentlich kaum jemanden. Und dass sein Vorgänger kurz vor seinem Rauswurf von weiterverbreiteter Korruption bei der Waffen- und Ausrüstungsbeschaffung sprach, gibt auch zu denken.
Kasciunas will und soll vor allem die Gründung von Kommandanturen, militärischen Dienststellen auf kommunaler Ebene, voranbringen. Diese sollen die Stadtverwaltungen, die paramilitärischen Schützen sowie die Bürger noch stärker in die Landesverteidigung einfügen. Für all das ist viel Geld nötig. Litauen hat in diesem Jahr schon 2,5 % des BSP fürs Militär im Regierungsbudget vorgesehen (NATO-Ziel: 2%).
Aber damit soll nicht Schluss sein. Im März startete die Initiative „4 Prozent“, getragen von einem Start-up-Verband, dem Industrieverband Litauens und weiteren größeren Firmen und NGOs. Gleichsam von unten soll Druck auf die Politiker gemacht werden, sich zügig auf das Ziel 4% der Wirtschaftsleistung fürs Militär zu einigen. Jeder kann auf der 4 Prozent-Seite nun eine Petition unterzeichnen.
Und dann wäre da noch die neue „Rheinmetall“-Fabrik. Bei Baisogala im Bezirk Šiauliai soll eine Munitionsfabrik (die so sehr gebrauchten 155mm-Granaten) entstehen. Der Staat will das Projekt sogar ohne Baugenehmigung starten lassen – Hauptsache, die Produktion beginnt möglichst schnell. In diesen Tagen verabschiedete das litauische Parlament gleich mehrere entsprechende gesetzliche Ausnahmenregelungen für die Militärindustrie – aber auch nur für die.
Vor zwanzig Jahren, am 29. März 2004, trat Litauen der NATO bei. Die Jubiläumsfeierlichkeiten fielen in diesem Jahr ausgerechnet auf den Karfreitag – auf den Tag, als damals vor den Toren von Jerusalem die größte Militärmacht der damaligen Zeit einen Prediger des Friedens und des Meidens von Gewalt hinrichtete. Aber Gedanken an solch eine wenig passende Parallele fallen aus dem üblichen Rahmen und sind öffentlich natürlich auch von niemanden geäußert worden.
Schließlich hat sich in den Köpfen – wohl auch der allermeisten christlichen Leiter – das Dogma von der russischen Bedrohung festgesetzt, der einzig militärisch begegnet werden könne. Niemand hält es noch für nötig, irgendeine Art von Beleg für ein strategisches Interesse Russlands am Baltikum vorzulegen. Und wehe den Häretikern, die nicht mehr an den Sieg der Ukrainer glauben. Dass dies eine Glaubensfrage ist, wird offen zugegeben. (Nebenbei: Sieben von acht Kandidaten im laufenden Präsidentschaftswahlkampf teilen diesen wahrlich blinden Glauben vom Sieg gegen eine atomare Supermacht.)
Vor einigen Wochen, rechtzeitig zum Jubiläum des NATO-Beitritts Litauens, entstand 50 Meter von unserer Wohnung an einer Wand am Rand des Reformierten Parks ein großes Graffito (s. Foto ganz o.): viele Menschen – Alt und Jung, Geschäftsleute und Paare, Behinderte und Familien – sowie Bäume und Tiere, also das ganze Land, unter einem großen blauen Schirm mit NATO-Windrose. Wiederum ist die Botschaft klar: das mächtige Bündnis hält seine schützende Hand über euch.
Doch das ist ja nur die eine Seite der „strategischen Kommunikation“. Parallel werden mitunter selbst von höchster Stelle Zweifel gesät, ob die NATO im Konfliktfall auch wirklich helfend beistehen würde. Daher müsse unbedingt noch viel viel mehr Geld in die Hand genommen werden (s. die „4-Prozent“-Initiative). Dabei wird so getan, als ob dieses Geld einfach auf der Straße herumliegt. À propos Straßen – für die wie für so viele andere Dinge ist im nun ja nicht so reichen Litauen dann eben kein (neues) Geld mehr da. So beißen die protestierenden Lehrer auf Granit: mehr Gehalt gibt’s nicht.
Das NATO-Jubiläum (75 Jahre) und die 20-jährige Mitgliedschaft Litauens hinterlassen zwiespältige Gefühle. Sollte der Eintritt in das Bündnis nicht Ruhe und Sicherheit schaffen? Und nun wird der Eindruck erweckt, als ob alles, aber auch wirklich alles, getan werden müsse, um sich selbst zu schützen. Einige Politiker würden am liebsten zehntausende Gewehre an Bürger verteilen – und das in Zeiten von Hightech-Kriegen… Manche Pastoren haben die Botschaft wohl verstanden und gehen am Wochenende mit dem Nachwuchs auf den Schießstand, um mit scharfer Munition auf Pappkameraden zu ballern. Harte Jungs, wo man nur hinsieht. – Irgendwas ist faul im Reich der Blauen.
Bilder von den Vorbereitungen zum NATO-Jubiläum am 29. März in Vilnius:
Am Präsidentenpalast
Am Verteidigungsministerium
Marschierende Schützen
Vertreter der in Litauen stationierten NATO-Einheiten
Ehrenformation der litauischen Streitkräfte