Die Liebe Gottes und des Menschen
Gedanken zur Einheit der Christen
In Litauen wird seit vielen Jahren im Januar die Gebetswoche für die Einheit der Christen begangen. Die noch ältere Allianz-Gebetswoche ist hier leider nicht bekannt, schließlich gibt es auch noch keine nationale Evangelische Allianz. Die ökumenische Woche vom 18. bis zum 25. Januar wird in Vilnius in der Regel mit einer Veranstaltung in der Universitätskirche im Herzen der Altstadt abgeschlossen, bei der ein breites Spektrum an Kirchen Vertreter schickt: von der Neuapostolischen Kirche über Freie Christen bis his zur katholischen Kirche und in diesem Jahr erstmals orthodoxe Priester vom Konstantinopel-Patriarchat.
Die Evangelische Gemeinde Vilnius (im Bund LEBB), in deren Saal auch die EBI-Vorlesungen stattfinden, lädt ebenfalls schon traditionell in der Woche nur die evangelischen Gemeinden der Stadt zu einem gemeinsamen Abend ein, der gerade in diesem Jahr viel vom Allianz-Geist hatte – zwischen den kurzen Impulsen von etwa zehn Pastoren tauschten sich Christen aus ganz unterschiedlichen Gemeinden in kleineren Gruppen an Tischen aus. Als Vertreter der örtlichen ev.-reformierten Gemeinde sprach Holger anknüpfend an den Vers der diesjährigen Gebetswoche für die Einheit der Christen.
„Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben <…>, und du sollst deine Mitmenschen lieben wie dich selbst.“ (Lukas 10, 27)
„Ich werde nie genug Liebe bekommen“, sangen vor fast dreißig Jahren Andrius Mamontovas und die Band „Fojė“. Alle Menschen sehnen sich nach Liebe und erahnen, dass die Liebe die Antwort auf die Probleme der Menschheit sein könnte. Die Lehre der Bibel über die Liebe scheint dabei auf den ersten Blick recht einfach zu sein. In seinem Gespräch mit dem Gesetzeslehrer (Lk 10,25ff) fasst Jesus alle Gebote des Alten Testaments zusammen: Liebe Gott und deinen Nächsten. Daraufhin sagt er: „Tu das, und du wirst leben“ (V. 28). Aber würden wir wirklich „das ewige Leben“ (V. 25) bekommen, wenn wir uns nur genug anstrengen zu lieben?
Schon zu Beginn der Reformation erkannte Martin Luther, dass der Kern der Frohen Botschaft zwar die Liebe ist, nicht aber unser liebevolles Reden und Handeln. Im April 1518, sechs Monate nach der Veröffentlichung seiner 95 Thesen, stellte der Augustinermönch seine evangelische Lehre in der Heidelberger Disputation erstmals öffentlich vor. In der letzten der achtundzwanzig theologischen Thesen der Disputation greift der Reformator die tiefste Wurzel des Evangeliums, die Liebe Gottes, auf: „Die Liebe Gottes findet das für ihn Liebenswerte nicht vor, sondern er schafft es. Die Liebe des Menschen entsteht aus dem für ihn Liebenswerten.“ Dies ist sicher einer der wichtigsten und auch schönsten Sätze Luthers.
Wir Menschen lieben das, was wir anziehend finden. Meist sind es Schönheit oder andere positive Eigenschaften, die unsere Liebe erwecken, manchmal auch Situationen, die Mitgefühl auslösen. Luther zufolge ist die menschliche Liebe eine reagierende – sie spricht auf etwas an. Gottes Liebe hingegen ist schöpferisch. Luther schreibt im Kommentar zur obigen These, dass Gott nicht nach etwas Schönem oder Attraktivem im Menschen sucht, sondern „die Sünder, Bösen, Törichten, Schwachen liebt, um sie zu Gerechten, Guten, Weisen und Starken zu machen“.
Wenn Gott sündige Menschen betrachtet, sieht er tatsächlich ein sehr hässliches Bild – für den vollkommen Heiligen wäre da nichts Attraktives, sondern nur Abstoßendes. Die Bibel verwendet oft das Bild von der Finsternis, um den tiefen Fall des Menschen zu beschreiben, und von Natur aus meidet jeder die Finsternis. Der sündige Mensch ist in Dunkelheit versunken, aber Gott ist das reinste Licht. Deshalb wäre es nur gerecht, ließe er solch ungehorsame Rebellen in der Finsternis zurück. Aber Gott ist eben ganz anders als wir – und das ist eine gute Nachricht. Er hat seinen Sohn in diese dunkle Welt gesandt und erwählt sich das, was dunkel und abstoßend, ungerecht und aufrührerisch ist, was keine attraktiven Eigenschaften besitzt – und verändert alles! Durch seine Gnade rechtfertigt er Menschen und schafft in ihnen neues Leben, erneuert zu wahrer Menschlichkeit.
Als Christen sind wir dazu berufen, diese göttliche Liebe, durch die wir gerettet wurden, aus Dankbarkeit widerzuspiegeln. Unseren Nächsten zu lieben bedeutet, ihn mit den Augen Gottes und seiner Liebe zu betrachten. Diese Liebe gilt zuerst und insbesondere allen unseren Brüdern und Schwestern im Glauben. Gott hat das erwählt, „was in dieser Welt unbedeutend und verachtet ist und was bei den Menschen nichts gilt“, schreibt Paulus in 1 Korinther 1,28. Wo sind also heute die Brüder und Schwestern, die verachtet und ignoriert werden, auf die man herabschaut und über die man einfach nicht spricht? In welchen Kirchen kommen sie zusammen und in welchen Ländern leben sie?
Die Einheit der Christen wird wachsen, wenn wir auch diejenigen lieben, die uns eher abstoßen als anziehen. Sie wird umso stärker werden, je mehr wir uns bewusst werden, wie hässlich wir selbst in Gottes Augen waren – und doch hat er uns durch die Kraft seiner ganz anderen Liebe gerettet.