Luthers „Drei Lichter“
Der „Kern der Sache“
Der Funken, der die Reformation in Deutschland auslöste, waren bekanntlich die Ablasspredigten des Dominikanermönchs Johann Tetzel. Martin Luther, Augustinermönch, Pfarrer und Theologieprofessor in Wittenberg, erhob direkt Einspruch gegen dies Geschacher mit dem Seelenheil. Zum theologischen Kern des Ringens um die Erneuerung der Kirche arbeiteten sich die Reformatoren wie Luther aber eher nach und nach vor. Hier sind seine Thesen zu Heidelberger Disputation aus dem Frühjahr 1518 und natürlich die sog. Hauptschriften aus dem Jahr 1520 zu nennen.
Zu einem gewissen Abschluss kam die frühe Phase der Auseinandersetzung mit der römischen Kirche und Theologie in Luthers lateinischem Werk De servo arbitrio (Vom unfreien Willen), das 1525 erschien. Der Reformator reagierte damit auf De libero arbitrio diatribe sive collatio (kurz „Vom freien Willen“). Das deutlich kürzere Werk aus der Feder des damals hoch angesehenen Gelehrten und schon zu Lebzeiten berühmten Humanisten Erasmus von Rotterdam war im Vorjahr gedruckt worden.
Luther stellt Erasmus gegenüber fest, dass es beim unfreien Willen um den „Kern der Sache“ (d.h. der Debatte um die Erneuerung der Kirche) geht. Im Unterschied dazu sind all die „Fragen über das Papsttum, das Fegefeuer, den Ablass […] mehr Lappalien als wirkliche Probleme“. Siegfried Kettling schreibt: „Wohlgemerkt: Wo es um die Grundfrage der Reformation geht – nämlich um die Rechtfertigung des Sünders vor Gott – , da sind Ablaß oder Papsttum nichts als ‘Lappalien’, ‘unnützes Zeug’.“ (Typisch evangelisch)
Der Streit der beiden Autoren berührte das Wesen der Gnade und das Vermögen des Menschen im Hinblick aus das Heil. Es ging um das „ABC des Glaubens“, so Kettling, der den Theologen H. J. Iwand (1899–1960) zitiert: „Wer diese Schrift nicht aus der Hand legt mit der Erkenntnis, daß die evangelische Theologie mit dieser Lehre vom unfreien Willen steht und fällt, der hat sie umsonst gelesen“.
Tot in Sünden oder nur schwer erkrankt?
Kettling fasst die unterschiedlichen Positionen von Erasmus und Luther gut zusammen:
„Für Erasmus ist der Mensch wohl schwer erkrankt; er liegt am Boden, aber in seiner Substanz ist er doch so robust und vital, daß man ihm mit Hilfe guter Ärzte (zu denen sicher auch Jesus Christus gehört) und starker Medizin (wobei gewiß das Bibelwort nicht fehlen darf) wieder zu seinem aufrechten Gang, dem Zeichen seiner Würde, verhelfen kann. Für Luther ist der Mensch ‘tot in Sünden’, keine Zelle ist mehr zu reanimieren; da hilft nur noch Totenauferweckung, eben Christus allein! Solus Christus! Für Erasmus ist die Burg – Mensch genannt – wohl weitgehend vom Feind erobert, aber im Bergfried, im innersten Refugium, brennt noch das Lämplein der Freiheit. Wird von dort innen der Ausbruch gewagt und kommen von außen Hilfstruppen dazu, dann ist die Rettung gewiß. Dieser noch glühende Funke im Personenkern, – eben das ist der freie Wille; die Hilfstruppen wären die hinzukommende göttliche Gnade. Für Luther ist gerade das innerste Zentrum (‘Herz’, ‘Gewissen’) längst vom Feind erobert, ja zur Kommandozentrale des Satans umfunktioniert. Gerade in seiner Personmitte ist der Mensch versklavt, vom ‘arg bösen Feind’ geradezu ‘besessen’, – eben dies meint das Stichwort unfreier Wille.“
In der dreibändigen lateinisch-deutschen Studienausgabe „Martin Luther“ (Ev. Verlagsanstalt Leipzig, 2006) nimmt Luthers Werk in Band 1 in den beiden Sprachen zusammen stolze 440 Seiten ein – eine der ausführlichsten Schriften des Reformators. Allein der Umfang zeigt, wie ernst Luther diese Diskussion nahm. Neben seinen Katechismen aus dem Jahr 1529 zählte er Vom unfreien Willen zu seinen wichtigsten Werken.
(Aus reformierter Perspektive sei hier nebenbei kritisch angemerkt: Man hätte sich von Luther eine ähnliche Bereitschaft zur Ausführlichkeit auch 1529 gewünscht. Damals kamen in Marburg Lutheraner und Reformierte mit Zwingli und Luther an der Spitze zu einer theologischen Konferenz zusammen, um Einigkeit zu erzielen. Umstritten war nur die Theologie des Abendmahls. Zwingli war zu einer intensiven Debatte über die exegetischen Fragen bereit, Luther blockierte dagegen eher und bestand von vornherein auf die Ubiquität, die Allgegenwart, des Leibes Christi. Vielleicht wäre die Reformation anders verlaufen, wenn der Wittenberger sich auch auf diesen Streit wirklich eingelassen hätte – bevor sich dann die Fronten zwischen den evangelischen Konfessionen verhärteten.)
„Ein ähnliches Wunder“
Trotz des manchmal polemischen Tons (der damals aber üblich war), bemüht sich Luther im ganzen Werk um eine biblische wie auch rationale Argumentation. Er betont z.B., dass es einen Unterschied zwischen Zwang und Notwendigkeit gibt: ähnlich wie Augustinus legt er dar, dass der gefallene, unerlöste Mensch in seiner Sünde gefangen ist und daher notwendig sündigt – er kann sich alleine nicht von diesem falschen Weg entfernen. Das bedeutet aber nicht, dass er oder sie zur Sünde gezwungen wäre. Jede einzelne böse Tat geschieht aus freien Stücken, ist also gewollt.
Auch wenn Luther also häufig gut differenziert und erläutert sowie ausführlich argumentiert, war sein Werk damals, im 16. Jahrhundert, provozierend und wirkt bis heute noch verstörender. Nicht selten will man als Leser mit dem Verstand widersprechen; oder es fühlt sich so an, als ob alles in unserem Kopf durcheinander geht und wir am schlussendlich doch nichts mehr verstehen.
Luther besaß ein gutes theologisches und seelsorgerliches Gespür. Deshalb stellt er am Ende des Buches vermutlich sehr bewusst als Verstehenshilfe eine Art Gleichnis vor: die „drei Lichter“: „das Licht der Natur, das Licht der Gnade, das Licht der Herrlichkeit“.
Das „Licht der Natur“ hilft uns, die gewöhnlichen Phänomene der Welt zu verstehen. Im Grunde geht es hier um den Verstand und die sinnliche Wahrnehmung und die Natur- und Ingenieurswissenschaften. Sie erklären uns die allermeisten komplexen Erscheinungen wie Verbrennungsmotoren und elektrischen Strom, In-Vitro-Befruchtungen und Gentherapie, Raketenantrieb und Mobilfunknetze. Zur Orientierung in unserer geschaffenen Welt ist dies Licht äußerst hilfreich und sehr oft auch ausreichend.
Manchmal stößt dieses Licht jedoch an seine Grenzen und kann bestimmte Fragen nicht klären. Luther nennt ein Beispiel: „Ist es nicht nach dem Urteil aller höchst ungerecht, dass die Bösen vom Schicksal begünstigt und die Guten heimgesucht werden?“ Manche biblischen Bücher wie die Psalmen werfen diese Frage ja auf.
Diese vermeintliche Ungerechtigkeit Gottes wird, so Luther, „ganz leicht aufgehoben durch das Licht des Evangeliums und die Erkenntnis der Gnade. Durch sie werden wir gelehrt, dass die Gottlosen zwar körperlich blühen, an der Seele aber zugrunde gehen […]. Und die kurze Lösung dieser unlösbaren Frage besteht in einem einzigen kleinen Wort, nämlich: Es gibt ein Leben nach diesem Leben, in dem alles, was hier nicht bestraft und belohnt wird, dort bestraft und belohnt werden wird. Denn dieses Leben ist nichts als ein Vorlauf oder vielmehr: ein Anfang des zukünftigen Lebens.“
Im Licht der Natur sind technische und naturwissenschaftliche Rätsel (meist) lösbar. In diesem Licht ist es aber „unlösbar, dies sei gerecht, dass der Gute heimgesucht wird und der Böse es gut hat. Aber dies löst das Licht der Gnade.“ Das Licht des Evangeliums oder der Gnade leuchtet nur den gläubigen Christen. Sie können daher zu einem befriedigenden Verständnis gerade mancher schwierigen ethischen und geistlichen Probleme kommen.
Das Licht der Gnade stößt aber auch auf Grenzen. Uns Christen versetzt, so Luther, „in Unruhe, dass es schwierig ist, die Güte und Gerechtigkeit Gottes zu verteidigen“. Gott verurteilt „Gottlose, die in Gottlosigkeit geboren werden“ und notwendig sündigen und die Er nicht zum Heil erwählt, zur ewigen Verdammnis. Wie kann das sein? Ist so ein Urteil nicht ungerecht, wenn der Mensch nicht anders kann? Auch wenn der Sünder nicht zur Sünde gezwungen wird – wie kann er für willentliche Sünde verantwortlich gemacht werden, wenn er keinen freien Willen in geistlichen Dingen besitzt?
Der Reformator gesteht zu: „Im Licht der Gnade ist es unlösbar, wie Gott den verdammt, der aus seinen eigenen Kräften nicht anderes kann als zu sündigen und schuldig zu sein.“ Aber wenn nun das Licht der Gnade „so leicht eine im Licht der Vernunft unlösbare Frage löst“, dürfen wir darauf vertrauen, dass „dann auch das Licht der Herrlichkeit die Frage so leicht wie nur möglich lösen“ wird können – auch wenn sie noch im Licht des Wortes und der Gnade unlösbar ist.
Erkenntnis der geschaffenen Welt beruht auf Gottes allgemeiner Offenbarung in der Natur. Gottes Offenbarung in seinem Wort, der Bibel, zielt auf Erkenntnis des Evangeliums ab. Gottes Offenbarung ist aber begrenzt; Christen erhalten aus den beiden Lichtquellen (oder nach Francis Bacon den beiden „Büchern“) so viele Antworten, wie zu einem guten und gottgefälligen Leben hier auf Erden nötig ist. Nicht wenige Fragen bleiben in dieser Welt aber unbeantwortet.
Erst das Licht der Herrlichkeit „wird zeigen“, dass Gott, dessen Gerechtigkeit uns bisher unbegreiflich erschien, auch im Hinblick auf Erwählung und Verdammnis „von einer ganz und gar gerechten und ganz offenkundigen Gerechtigkeit ist“. Dies können wir „einstweilen nur glauben“. Wir werden aber „ermahnt und gefestigt durch das Beispiel des Lichts der Gnade, das ein ähnliches Wunder beim natürlichen Licht vollbringt“.
(Bild ganz o.: Gerhard Richter, Drei Kerzen)