Die bunte Kirche
„Ein starkes Zeichen für Vielfalt, für Toleranz, gegen Hass und gegen Ausgrenzung“ – hören wir heute solche Worte, ist jedem klar, worum es geht. Der Ministerpräsident von NRW kommentierte so das CSD-Straßenfest in der ColognePride Veranstaltungsreihe vor einigen Wochen in der Stadt am Rhein. Niemals käme nun jemandem eine theologisch konservative evangelische Kirche bzw. ihre Veranstaltungen in den Sinn. Leider, leider.
Vielfalt, Buntheit, Toleranz – das sind Begriffe, bei denen man heute sogleich an Geschlechtervielfalt, Wahl der sexuellen Identität und die um die Regenbogenfahne sich scharenden Gruppen denkt. Wenn eine Kirche „bunt“ sein will, ist auch klar, wo man sich gesellschaftspolitisch positioniert: Man setzt sich für die LGBTQ-Bewegung und ihre Rechte, interreligiösen Dialog und die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten ein. Wie schon bei den „Menschenrechten“ droht eine Vereinnahmung einer ganzen Wortgruppe durch ein bestimmtes ideologisches Lager. Konzepte und Vorstellungen, die auf christlichem Hintergrund entstanden und gewachsen sind, driften in eine Richtung, die mit dem Christentum der Bibel nicht mehr viel zu tun hat.
Das Konzept der Menschenrechte ruht auf jüdisch-christlichen Grundlagen und dem Gedanken, dass jeder Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist und eine unverlierbare Würde besitzt (s. dazu Thomas K. Johnsons Einführung). Heute haben sich in Litauen alle Menschenrechtsorganisationen jedoch einer einzigen Agenda verschrieben: die LGBTQ-Rechte vorantreiben. Die von staatlichen Fördergeldern vollgepumpten und aufgeblasenen „NGOs“ schlossen sich vor einer Weile in dem Land zu einer „Koalition“ zusammen, um ihr Anliegen noch effektiver durchdrücken zu können. (Von der auch in Litauen vertretenen, christlich geprägten „Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte“, IGFM, ist im öffentlichen Raum im Hinblick auf die umstrittenen Themen nichts zu hören.)
Toleranz ist ein weiterer Begriff, der evangelischen Christen teuer ist. In den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts bedeutete Toleranz die Möglichkeit, seinen Glauben (halbwegs) frei ausüben zu können. Die reformierten Niederlande, aber auch – zumindest für eine Weile – das Großfürstentum Litauen wurden zu Horten der religiösen Toleranz. Von dieser Duldung des Andersgläubigen und Andersdenkenden als Kern der Toleranzvorstellung ist man heute leider weit entfernt. Tolerant ist heute nur noch derjenige, der z.B. die gleichgeschlechtliche Liebe voll und ganz gutheißt und solche Beziehungen ohne Wenn und Aber anerkennt.
Vielfalt – vielleicht das wichtigste Wort in dieser Reihe. Schließlich ist die christliche Weltanschauung in ihrem Wesen nicht monistisch (von gr. mono – eins), sondern plural. Damit ist gemeint, dass die Schöpfung von Anfang an auf Vielfalt angelegt ist, weil der Schöpfer der Dreieine ist, der Gott in der Vielfalt des Vaters, des Sohns und des Geistes. So wundert es nicht, dass in der Bibel die Vielfalt der natürlichen Gaben des Menschen wie auch die große Fülle der Geistesgaben für den Dienst in der Kirche hervorgehoben werden.
Bunt – auf Menschen übertragen ist offensichtlich, dass sich das Äußere der Erdenbewohner mitunter deutlich unterschiedet. Lange Zeit wurden die unterschiedlichen Hauttöne der Menschen eng mit verschiedenen „Rassen“ und ihren Farben (weiße, schwarze, gelbe und rote) verbunden. Wir wissen heute, dass es ein breites Spektrum bräunlicher Hautfarbe gibt, das direkt mit festen Rassen o.ä. wenig zu tun hat. Bunt meint heute eher das Zusammenleben von verschiedenen sprachlichen und nationalen Gruppen. So wird Südafrikas als bunte „Regenbogennation“ bezeichnet, da in dem Land Menschen ganz unterschiedlicher ethnischer Herkunft – oder eben mit verschiedenen Haut-‘Farben’ – wohnen.
Die Kirche Jesu Christi ist auch bunt – vor allem in dem Sinne, dass sie die Grenzen von Nationen und Sprachen überschreitet (s. Gal 3,28; Kol 3,11). Von ihrem Wesen her ist sie eine inter-nationale, über-nationale Einheit in Vielfalt. Ihr grundlegendes Bekenntnis ist überall gleich, aber der kulturelle Ausdruck des Glaubens unterscheidet sich, was vor allem in der Sprachvielfalt deutlich wird.
Gerade die evangelischen Kirchen haben viel zu dieser Vielfalt der Sprachen durch die Übersetzungen der Bibel und anderer Texte in die jeweilige Muttersprache der Menschen beigetragen. Für die Litauer ist das erste gedruckte Buch in ihrer Sprache, der lutherische Katechismus von Martinus Mosvidius (lit. Martynas Mažvydas) von herausragender Bedeutung. Die Polen blicken mit Stolz auf die „Bibel von Brest“, eine prächtige Ausgabe der ganzen Heiligen Schrift in polnischer Sprache, die der Nikolaus Radziwill der Schwarze (lit. Radvila Juodasis), ein evangelischer Fürst aus Litauen, in Auftrag gegeben hatte.
Radziwill gilt als Gründe der reformierten Kirche Litauens (1557). Sie erstreckte sich über Gebiete des heutigen Weißrusslands, Polens und Litauens und war mehrsprachig, wobei das Polnische über Jahrhunderte die offizielle Kirchensprache war. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Heidelberger Katechismus ins Litauische übersetzt. Und erst vor gerade einhundert Jahren wandelte sich die Kirche zu einer rein litauischen. Der Konflikt um Vilnius, das 1920 von Polen besetzt wurde, trieb die beiden Völker auseinander. Die Synode der reformierten Kirche tagt seitdem in Biržai in Nordlitauen, nicht mehr in Vilnius.
Die lutherische Kirche Litauens hat ebenfalls eine bunte Vergangenheit. In dieser Gegend trafen sich drei verschiedenen nationale Prägungen: lettischsprachige Lutheraner in Nordlitauen, Deutsche in einigen größeren Städten wie Vilnius oder Kaunas, und Litauer – die Mehrheit auch im Memelgebiet, viele von ihnen Teil der pietistischen Bewegung. Zwischen den Kriegen bildeten die drei Sprachgruppen eine Kirche mit drei Synoden, wobei Spannungen nicht ausblieben. Durch Flucht und spätere Übersiedlung der allermeisten Memelländer ist das preußisch-pietistische Element aus der Kirche fast ganz verschwunden; und die Letten im Norden haben nach und nach die litauische Sprache angenommen (Gottesdienste in lettischer Sprache werden nirgendwo mehr regelmäßig angeboten).
Beide traditionellen evangelischen Kirchen Litauens sind also nun, im 21. Jahrhundert, seit Jahrzehnten erstmals in ihrer nicht kurzen Geschichte sprachlich-kulturell ‘rein’, rein litauisch. Natürlich brachte dies Vereinfachungen mit sich (in der lutherischen Kirche mischen sich nun nicht mehr unterschiedliche liturgische Traditionen). Dennoch muss man auch von einer gewissen Verarmung sprechen. Die kulturelle Vielfalt der früheren Jahrhunderte ist weitgehend verloren.
Zumindest in unserer reformierten Kirche dreht sich das Blatt aber langsam wieder. Vor allem unter Pastoren nimmt nun die Vielfalt zu. Seit 2015 sind amerikanische Missionare, Ehepaar Van Dalen, in Kaunas tätig, ein deutscher Pastor (H.L., ordiniert 2019) wirkt in Vilnius, und Lektor (Verkündiger) Arthur Laisis kommt aus aus Frankreich. Neben den fünf Litauern (drei Pastoren, eine Pastorin, ein Lektor) ist der Ausländeranteil also schon recht groß (Bild ganz o.: ein Deutscher, Pole und Litauer nach dem Abschlussgottesdienst der Synode).
Und nun wurde vor einem Monat bei der Synode ein Pole zum Katecheten (erster Ordinationsrang) ordiniert: Dariusz Bryćko aus Warschau. Vor einem Jahr wurde eine kleine Gemeinde aus der polnischen Hauptstadt in unsere Kirche aufgenommen. Die Gruppe war nach einem Konflikt mit der amerikanischen Mutterkirche ohne Anschluss geblieben, wollte sich aber nicht der theologisch eher zum theologischen Liberalismus drifftenden polnischen reformierten Kirche (in etwa von der Größe der litauischen) beitreten. Daher gaben wir ihr Obhut. Bryćko, der in den USA einen Doktortitel in Theologie erworben hat, wird diese Gemeinde nun betreuen.
Die sprachliche Vielfalt in der litauischen reformierten Kirche nimmt daher wieder zu. So war in Kirche von Biržai beim Abschlussgottesdienst seit wohl vielen Jahrzehnten einmal wieder eine Predigt in polnischer Sprache zu hören (natürlich mit simultaner Übersetzung). Und ein Deutscher teilte dann das Abendmahlsbrot in litauischer Sprache aus, ein Pole in polnischer, anschließend kamen die Litauer mit dem Wein. Beim wöchentlichen Austausch der Verkündiger über „Skype“ nehmen neun Personen aus fünf Nationen teil – wenn das nicht bunt ist!
Wir hoffen nun, dass wir mittel- und langfristig auch in Litauen selbst am reichen polnischen Erbe anknüpfen können, schließlich war z.B. die Gemeinde in Vilnius vor dem Krieg polnischsprachig. Bisher gibt es für die polnische Minderheit im Land von rund 200.000 Bürgern – vor allem in Vilnius und den Landkreisen herum – keinerlei evangelischen Gottesdienst in ihrer Muttersprache. Die Polen Litauens sind, missiologisch gesprochen, eine der „unerreichten Volksgruppen“. Es wird Zeit, dass sich dies ändert.