Die Botschaft an die Stadt
Der genaue Ursprung der Aussage Soli Deo Gloria – „Gott allein [sei] Ehre“ – ist eher rätselhaft. Als direkte biblische Grundlage kann sicher 1 Timotheus 1,17 in der Vulgata gelten („… soli Deo honor et gratia in saecula saeculorum“). Schon im Mittelalter wurden die drei lateinischen Worte in verschiedenen Zusammenhängen benutzt. Sie zieren z.B. auch das Titelblatt des Katechismus von Martinus Mosvidius (Mažvydas), dem ersten gedruckten Buch in litauischer Sprache aus dem Jahr 1547. Später machte der berühmte deutsche Komponist (und Lutheraner) Johann Sebastian Bach (1685-1750) Soli Deo Gloria populär. Nach seinen Werken fügte er meist das Kürzel „SDG“ hinzu.
Soli Deo Gloria wurde außerdem zu einem der fünf protestantischen Solae oder „Allein…“: Sola scriptura, Sola fide, Sola gratia, Solus Christus (Allein die Schrift, Allein durch Glauben, Allein aus Gnaden, Christus allein) und als Zentrum, Kern oder Krone eben Allein zur Ehre Gottes. Dies Sola erinnert daran, dass Gott selbst, der in Christus offenbart wurde, das Zentrum der Reformation ist; dass der Mensch für die Errettung und für alle anderen Gnaden nur Gott danken, Ihn allein verherrlichen soll; dass allein durch den Glauben an Christus und allein die Errettung durch Gnade gewährleistet wird, dass alle Ehre Gott zukommt.
Heute ziert die Inschrift „Ehre sei dem [einzigen] Gott“ (z.B. „Vienam Dievui garbe“) die Wände einiger litauischer reformierter Kirchen (s.o. in der Kirche von Biržai). Tatsächlich ist die Herrlichkeit Gottes den Reformierten und Calvinisten ein besonderes Anliegen. Johannes Calvin stellte in seiner Institutio fest, dass das Merkmal der wahren Religion gerade die rechte Verehrung Gottes ist. Anbetung wird verfälscht und verunreinigt, wenn das Wort „allein“ aus der Aussage herausgenommen wird. Abfall zu anderen Göttern, also offener Götzendienst, wäre recht leicht zu erkennen. Calvin warnt aber vielmehr davor, dass der einzige Gott zwar nicht verleugnet, aber „in eine Reihe“ mit anderen gestellt wird; dass Er mit einem „Schwarm von kleineren Göttern“ umgeben wird. Die Anbetung oder Verehrung eines Geschöpfs, so Calvin, führt unweigerlich zur Entweihung der Herrlichkeit Gottes. „Wollen wir wirklich nur den einen Gott haben, so müssen wir darauf achten, ihm auch nicht das geringste seiner Ehre zu rauben […]. Jede religiöse Verehrung, die einem anderen Wesen zuteil wird als dem einigen Gott, ist für Frevel zu achten.“ (Inst. I, 12,1-3)
Die Herrlichkeit und Ehre Gottes steht also über allem, denn Gott ist der Schöpfer, Retter, Souverän und Herr des Universums, nicht der Mensch. Wir leben für Ihn, um Gottes willen. Der Mensch ist weder Gott noch dreht sich die Welt um ihn. Alle Ehre gebührt Gott, aber auch davon hat der Mensch selbst Nutzen – sogar den größten denkbaren: ewige Freude. Genau dies haben die Väter des evangelischen Glaubens sehr gut erkannt. Der presbyterianische Kurze Westminster-Katechismus (1647) verbindet in der Antwort zu seiner ersten Frage prägnant und beispielhaft die Ausrichtung auf Gott mit dem Nutzen für den Menschen: „Das höchste Ziel des Menschen ist, Gott zu verherrlichen und sich für immer an ihm zu erfreuen.“
Zur Verherrlichung Gottes ist der Menschen geschaffen. Damit wird der Unterschied von Schöpfer und Geschöpf bekräftigt. Aber dies macht den Menschen gar nicht unbdeutend. Das große Wunder des Evangeliums ist, dass dieser auf seine Ehre eifersüchtige Gott den erwählten und gläubigen Menschen an seiner Herrlichkeit teilhaben läßt (Röm 8,17; Hbr 2,10; 2 Kor 3,18).
Kern des evangelischen Glaubens, Bestimmung der Schöpung und Wesen des Evangeliums – es gibt also kaum drei Wörter, die so viel theologisches Gewicht tragen und doch so einfach sind. Und nun, nach fast siebzig Jahren, prangen sie wieder an der Fassade unserer Kirche in Vilnius!
1835 wurde des klassizistische Bau vor der alten Stadtmauer eingeweiht. Zweihundert Jahre zuvor waren die Reformierten aus dem Zentrum der Altstadt der litauischen Hauptstadt vertrieben worden. Auf dem Gebiet des heutigen Reformierten Parks entstand ein kleines reformiertes Viertel mit Friedhof und hölzernen Kirchenbauten. Im Zarenreich konnte dann ein massiver Steinbau in Angriff genommen werden.
Ähnlich wie bei der katholischen Kathedrale zu Füßen des Gediminas-Hügels wurde das Dach der reformierten Kirche von drei Skulpturen geziert: zwei kniende Engel und eine symbolische Evangeliumsfigur mit Kreuz. Darunter, im Tympanon, befindet sich ein Flachrelief: Christus lehrt verschiedene Menschen – Männer, Frauen, Kinder (auch Tiere sind abgebildet): die Bergpredigt. Und über den Kapitelln der massiven Säulen auf dem Fries stand über einhundert Jahre lang in polnischer Sprache „Gott allein [sei] Ehre“.
Bald nach dem letzten Weltkrieg wurde das Kirchengebäude verstaatlicht; viele Polen der Stadt mussten nach Polen umsiedeln, darunter die allermeisten reformierten Gemeindemitglieder. Später wurde das Gebäude zu einem Kino für Dokumentarfilme umfunktioniert. „Kronika“, der Name des Kinos, ist vielen Einwohnern der Stadt bis heute geläufig – und wird immer noch gebraucht. Die Skulpturen und die gar zu christliche Aufschrift wurden entfernt.
Seit dem 1. Oktober prangt die alte und neue Aufschrift wieder an der Kirche. Bis Ende Oktober sollten die Renovierungsarbeiten an der Frontfassade abgeschlossen sein (das Dach wurde schon vor zwei jahren erneuert). Das Polnische wurde durchs Lateinische ersetzt, was in der internationalen Hauptstadt mit vielen Touristen Sinn macht. So gibt es nun zwei bekannte lateinische Worte auf Kirchenwänden: An der Kapelle des Tors der Morgenröte im Süden der Altstadt „Sub tuum praesidium confugimus“ (Unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir [o heilige Gottesgebärerin], d.h. Maria); und im Westen der Altstadt lautet die Botschaft „Soli Deo Gloria“. Auch wenn katholische und evangelische Christen immer mehr Gemeinsames entdecken – die Reformation ist noch nicht vorbei. Denn die Botschaft der Reformation an die Stadt ist immer noch die gleiche.
Arbeiten am Bergpredigtrelief im Tympanon, r. Jesus
Stillende Mutter – Detail aus dem Bergpredigtrelief
Blick auf den im Juli nach jahrelangen Umbauarbeiten neu eröffneten Reformierten Park (im Hintergrund halb verdeckt das alte Synodengebäude, nun im Privatbesitz)