„Aus Liebe zur Wahrheit…“
Jedes Jahr ruft der Reformationstag erneut in Erinnerung, dass Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen „zur Klärung über die Kraft der Ablässe“ veröffentlichte. Einige der Thesen werden bis heute gerne zitiert wie die 62. über den wahren Schatz der Kirche, das Evangelium. Gut bekannt ist vor allem die erste These über die Forderung Jesu, das ganze Leben der Glaubenden solle Buße sein.
Luther formulierte die Thesen bekanntlich als akademischen Text in lateinischer Sprache, um zu einer Disputation an seiner Universität aufzurufen. Solchen Disputationsthesen wurde damals meist eine kurze Einleitung vorangestellt. Darin ging es um die Disputierenden und den Ort der Veranstaltung, manchmal auch um den höheren Sinn des Ganzen. Das Vorwort der 95 Thesen lautet wie folgt:
„Aus Liebe zur Wahrheit und im Verlangen, sie zu erhellen, sollen die folgenden Thesen in Wittenberg disputiert werden unter dem Vorsitz des ehrwürdigen Pater Martin Luther, Magister der freien Künste und der heiligen Theologie, dort auch ordentlicher Professor der Theologie. Daher bittet er jene, die nicht anwesend sein können, um mit uns mündlich zu debattieren, dies in Abwesenheit schriftlich zu tun. Im Namen unseres Herrn Jesus Christus. Amen.“ (Übersetzung Johannes Schilling und Reinhard Schwarz)
Diese drei Sätze verdienen genaue Beachtung, denn sie sind immer noch aktuell. In drei kurzen Punkten sei diese Bedeutung herausgearbeitet, abschließend folgt eine aktuelle Anwendung: der Umgang mit der Wahrheit in Zeiten der Pandemie.
Achtung der Wahrheit
Mit dem Begriff „Liebe zur Wahrheit“ fasste Luther seine grundlegende Motivation zum Verfassen der Thesen in wenige Worte. Etwas Außergewöhnliches dachte er sich dabei sicher nicht. Einleitungen zu Disputationsthesen waren damals natürlich ein Stück weit Formsache. Mit dem Begriff Wahrheit wurde dabei oftmals gearbeitet, schließlich ging es bei einer Debatte um den Wahrheitsgehalt von vorgelegten Thesen. Im damaligen Universitätsbetrieb waren sich so gut wie alle einig darin, dass die Liebe zur Wahrheit der Leitstern sein muss.
Heute stößt „Liebe zur Wahrheit“ in seiner Direktheit jedoch eher auf, so abrupt kommen die Worte daher. In unserer postmodernen Zeit klingt der Begriff fast schon veraltet, auf jeden Fall in akademischen Texten irgendwie nicht so ganz an seinem Platz. Wie die Plagiatsfälle gleich einer Reihe von Bundesministern zeigen, geht es heute selbst bei Doktorarbeiten eher um die Liebe zur eigenen Karriere als um die zur Wahrheit.
Warum ist die Wahrheit im universitären Raum, aber auch darüber hinaus so wichtig? Weil Wissenschaft das Streben nach Wahrheit ist. Wahrheit bringt uns in den Kontakt mit der Wirklichkeit, Lüge dagegen will den Zugriff auf die Realität beschädigen. Wahrheiten besitzen daher praktische Nützlichkeit, weil sie uns Orientierung in der wirklichen Welt ermöglichen.
Die Wissenschaften sollen uns an die Natur der Realität heranführen, an die Tatsachen der wirklichen Welt, die, so US-Philosoph Harry Frankfurt in Über die Wahrheit, „die letzte und unumstößliche Zuflucht der Forschung sind“. Dies gilt für die sichtbare wie für die unsichtbare Welt. Was vermögen die Ablässe wirklich und was nicht? Was ist die wahre Natur des Schatzes der Kirche? Und was geschieht tatsächlich mit den Menschen nach dem Tod? Dies waren damals Luthers bohrende Fragen an die Wirklichkeit, getrieben von Liebe zur Wahrheit.
Wir dürfen gegenüber der Wahrheit nicht gleichgültig sein, so Frankfurt. „Wir müssen eine große Zahl von Wahrheiten kennen – und wir müssen natürlich auch verstehen, von ihnen produktiven Gebrauch zu machen.“ Wahrheiten werden aber nun dann erkannt, wenn die Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch aufrechterhalten wird. Wahres widerspricht Falschem, weshalb „der Kern der Rationalität darin besteht, dass man sich von Widersprüchen freihält“. Wahrheiten ruhen gleichsam auf der Wirklichkeit, werden durch sie begründet. Rationalität bedeutet daher auch ein angemessenes Eingehen auf Gründe.
Frankfurt schreibt ermahnend, man dürfe keinesfalls eine „schlampige Gleichgültigkeit gegenüber der Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch begünstigen“. Noch viel weniger dürfen wir „Nachsicht gegenüber dem ärmlichen, narzißtischen Scheingrund üben, den Fakten treu zu sein sei weniger wichtig als ‘sich selbst treu’ zu sein. Wenn es irgendeine Haltung gibt, die ihrem Wesen nach in unversöhnlichem Gegensatz zu einem anständigen und geordneten gesellschaftlichen Leben steht, dann ist es diese.“
Der Philosoph hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Selbstliebe und die Liebe zu den eigenen Wahrheiten, die man in sich vorzufinden meint, triumphieren heute allermeist. Echte Liebe zur Wahrheit meint dagegen eine Orientierung nach Außen, auf das Andere und den Anderen hin. Wahrheit ist zuerst objektiv und erst dann subjektiv oder es ist keine Wahrheit. Denn die Wahrheit ist eben nicht in mir, sondern in der Tatsächlichkeit der Dinge, ihrem Geschaffensein, verwurzelt.
Ringen um die Wahrheit
Das Ziel der von Luther erhofften Disputation war die „Klärung über die Kraft der Ablässe“. Angestrebte Klärung setzt bisherige Unklarheit voraus. Die Wahrheit liegt nämlich nicht einfach offen da. Klärendes Licht muss auf die Wirklichkeit und die umstrittenen Fragen gerichtet werden. Wahrheit als Übereinstimmung mit den Tatsachen ist meist nicht offen-sichtlich, sondern muss nicht selten in einem mühsamen Prozess sichtbar und einsichtig gemacht werden. Aus der Liebe zur Wahrheit folgt daher, so Luther, das „Verlangen, sie zu erhellen“.
Karl Raimund Popper (1902–1994) schrieb in Vermutungen und Widerlegungen I : „Die Wahrheit ist, in Wahrheit, oft sehr schwer zu finden, und selbst wenn man sie gefunden hat, geht sie nur allzu leicht wieder verloren.“ Der aus Wien stammende britische Philosoph betonte, „dass wir alle, als Individuen wie als Gesamtheit, irren können und in der Tat oft irren, dass aber die Idee des menschlichen Irrtums und der menschlichen Fehlbarkeit die Idee der objektiven Wahrheit in sich schließt: sie ist die Norm, die regulative Idee, die wir eben oft nicht erreichen.“ Wenn wir die Wahrheit respektieren oder lieben, „müssen wir nach ihr suchen, indem wir nach unseren Irrtümern suchen: durch unermüdliche rationale Kritik und durch Selbstkritik“.
Popper hielt eisern an der Idee der objektiven und absoluten Wahrheit fest. Er betonte aber genauso, dass es keine absolute Gewissheit geben kann. Auch wenn wir zu echter Wahrheitserkenntnis gelangen, wird die Wahrheit nicht Besitz im eigentlichen Sinne. Wir machen uns Wahrheit zu eigen, indem wir sie begreifen und uns zu ihr bekennen, sie verbreiten und anwenden.
„Die Idee der Wahrheit allein ist es, die es uns erlaubt, vernünftig über Fehler und rationale Kritik zu sprechen, die uns rationale Diskussion ermöglicht“, so Popper in Objektive Erkenntnis. In solchen Diskussionen wird die Fehlerelimination durch bewußte Kritik angestrebt. Die regulative Idee dabei ist, wie schon gesagt, die Suche nach Wahrheit, und die Kritik besteht in der Suche nach Widersprüchen.
Wir irren, und wir suchen nach Wahrheit – dass Popper den Plural gebraucht, ist natürlich kein Zufall. Das Ringen um die Wahrheist, das Bestreben sie zu erhellen, ist ein gemeinsames Tun. Denn schließlich ist man nur allzu leicht von der Wahrheit der eigenen Position überzeugt; in der Regel mangelt es uns an Selbstkritik. Die Debatte mit anderen ist fast immer nötig, um Schwachpunkte und Widersprüche im eigenen Denken zu entdecken. Popper formulierte die demütigende Grundhaltung des gemeinsamen Ringens um die Wahrheit so: Du könntest recht haben, und womöglich liege ich falsch. (Dass Popper im persönlichen Umgang und im Unterricht vor Studenten durchaus rechthaberisch, ja ichbezogen und arrogant auftreten konnte, steht auf einem anderen Blatt.)
Auch Luthers Thesen sind genau das, was sie sein wollen: Disputationsthesen. Der Professor bittet ja sogar noch um schriftliche Stellungnahmen, will also den Kreis der Disputierenden möglichst weit halten. Die 95 Thesen waren also keineswegs dogmatische Lehrsätze. Und selbst über diese wird nie abschließend entschieden, d.h. an ihnen kann immer weiter gefeilt werden.
In der Vorrede zum ersten Band seiner lateinischen Schriften (1545) gibt uns der Reformator einen biographischen Abriss und beginnt dabei mit der Zeit des Ablaßstreits 1517. Gegen Ende der Vorrede schildert er das sog. „Turmerlebnis“, die Entdeckung der Glaubensgerechtigkeit durch Römer 1,17. Dies war ein persönlicher Durchbruch für Luther, der im stillen Kämmerlein stattfand. Aber auch hier fragte sich der Professor: Liege ich womöglich falsch? „Ich ging danach durch die ganze Schrift…“, d.h. er unterzog seine Erkenntnis einer kritischen Überprüfung an der Bibel. „Danach las ich Augustinus Über den Geist und den Buchstaben…“ – anschließend trat er also gleichsam in die Diskussion mit den Kirchenvätern.
Schließlich fasst Luther zusammen: „Das erzähle ich, lieber Leser, damit du, wenn du jetzt meine Werklein lesen wirst, daran denkst, dass ich einer von denen war…, die, wie Augustinus von sich schreibt, im Schreiben und Lehren Fortschritte gemacht haben, nicht von denjenigen, die aus dem Nichts plötzlich die Größten werden, sich weder abgearbeitet haben noch angefochten worden sind noch Erfahrungen gemacht haben, sondern auf einen Blick den ganzen Geist der Schrift ausschöpfen.“ In diesem Satz bekräftigt der Reformator das bisher Gesagte: Die Wahrheit muss oft genug mühsam gesucht werden; dieser Prozess ist mit Arbeit und Enttäuschungen verbunden. Doch durch gemeinsame Anstrengung können wir Fortschritte machen und der Wahrheit näher kommen.
Luther nennt Aurelius Augustinus, der um 427, gegen Ende seines Lebens, die Retractationes (Rückbesinnungen) schrieb. Darin erläutert der Bischof rückblickend, was er früher falsch gesehen und geschrieben hatte. Dies erweist Augustinus als lernfähigen Denker sowie als demütigen Christ, der seine Irrtümer und Fehler eingestehen kann.
Henry Chadwick schreibt über den Kirchenvater: „Augustin selbst war es immer recht peinlich, wenn er als ‘Autorität’ behandelt wurde, von der man keine Angabe von Gründen erwartete. Nur die Heilige Schrift und, wo sie schwiege oder nicht eindeutig sei, der ökumenische Konsens besäßen eine solche Autorität für die Gläubigen. Außerdem verfolgte er das Ideal, sein Verständnis ständig, bis zum letzten Tag seines Lebens, zu korrigieren und zu erweitern. Er war im allgemeinen nicht der Mann, der sich auf die Verteidigung einer Position nur deswegen versteift hätte, weil er sie nun einmal eingenommen hatte… In seinem Werk spiegelt sich die kritische Unabhängigkeit seines Denkens, und als seine größte Stärke ist vielleicht die seltene Fähigkeit anzusehen, komplizierte Fragen auf den Punkt bringen zu können“ (Augustin). Diese Klarheit im Ausdruck ist eine Vorbedingung der Kritik, denn was unklar und verschwommen formuliert ist, entzieht sich der rationalen Untersuchung.
Alle Reformatoren standen in dieser Tradition des Augustinus und waren sich wie Luther bewußt: wir sind nicht wie die Orakel der Antike göttliche Sprachrohe; wir interpretieren Schrift. Darin sind wir nicht unfehlbar; unser Verständnis dieser Wahrheit kann fehlerhaft sein. Heinrich Bullinger, Zwinglis Nachfolger in Zürich, schrieb im Vorwort zur Gesamtausgabe des Kommentars der neutestamentlichen Briefe von 1537: „Zuerst gestehen wir offen, dass wir nicht Gesetze, sondern Kommentare geschrieben haben. Kommentare sind keine unabänderlichen Orakel, sondern fehlerhafte menschliche Produkte“, denn „durchaus menschlich ist es, zu irren und gedankenos zu schwatzen.“ Ganz anders verhält es sich mit der Bibel. Weil sie vom Hl. Geist inspiriert ist, ist sie „eine sichere, absolute Regel der Wahrheit, rechten Lebens und Handelns, die weder irrt noch zu irgendeinem Irrtum führt; auf sie hin ist alles Geschriebene und Gesagte, alles Tun aller Menschen auszurichten und zu stützen.“
Gottes Wahrheit
Luthers Theseneinleitung endet mit der religiösen Formel „Im Namen unseres Herrn Jesus Christus. Amen.“ Dies macht auch bei einem akademischen Disputationstext Sinn, denn die Wahrheit, jede Wahrheit, ist verwurzelt in Gott. Ob nun naturwissenschaftliche oder theologische Wahrheit – alle Tatsachenwahrheit ist in ihm begründet. „Der Urquell der Wahrheit ist Gott“, so Blaise Pascal.
Gott ist der einzig existierende, der allein wahre, „der wahrhaftige Gott“ (Jer 10,10); Gott der Sohn sagt von sich: „ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6), und auch Gott der Geist „ist die Wahrheit“ (1 Joh 5,6). Was der wahre Gott offenbart, ist wahr: „Dein Wort ist die Wahrheit“ (Joh 17,17; 2 Sam 7,28); „dein Gesetz ist wahr“ (Ps 119,142); das Evangelium ist „die Botschaft der Wahrheit“ (Eph 1,13; 2 Tim 2,15); „was Gott sagt, ist wahr“ (Joh 3,33); „Gott ist zuverlässig, und was er sagt, ist wahr, und jeder Mensch ist letztlich ein Lügner“ (Röm 3,4). Schließlich ist auch das Handeln dieses Gottes von Wahrheit gekennzeichnet: „Was er mit eigenen Händen vollbringt, zeugt von Wahrheit und Recht, auf seine Ordnungen kann sich jeder verlassen. Sie gelten unterschütterlich für immer und ewig, gegründet sind sie auf Wahrheit und Aufrichtigkeit “ (Ps 111, 7–8). Dievas laikosi savo žodžio ir pažadų: „denn Gott ist treu und hält, was er zugesagt hat“ (Hbr 10, 23).
Der Gott der Wahrheit ist das Zentrum unserer christlichen Religion. Christen folgen der Wahrheit (Gal 5,7), sind der Wahrheit gehorsam (1 Pt 1,22); all diejenigen werden gerichtet, „die der Wahrheit nicht geglaubt haben“ (2 Thess 2,12), denn sie haben sich von der Wahrheit entfernt (1 Tim 6,5). Das Christentum hat daher von Anfang bis zum Ende mit der Wahrheit zu tun. Aus der Liebe zu dem wahren Gott strömt auch die Liebe zu Wahrheit – wo immer wir diese antreffen. Denn alle Wahrheit ist Gottes Wahrheit (so Augustinus sinngemäß an einigen Stellen seiner Werke).
Wie haben wir nun Zugang zu Gott und seiner Wahrheit? Die Reformatoren trafen hier, der theologischen Tradition folgend, eine grundlegende Unterscheidung: Gott allein ist Gott, er ist der Schöpfer, und wir sind seine Geschöpfe. Weil wir ‘nur’ Geschöpfe sind, können wir Gott nicht umfassend erkennen; er ist der Unfassbare, bleibt trotz aller wahren Gotteserkenntnis auch immer ein Geheimnis. Wir können etwas von Gott und seiner Wahrheit wissen, weil er sich offenbart und geredet hat. Gott der Schöpfer hat sich zu uns herabgelassen, sich erniedrigt, mit uns Kleinkindersprache (Calvin, Inst. I,13,1) geredet, damit wir ihn erkennen und diesen offenbarten Willen verstehen.
In diesem Zusammenhang unterschieden besonders reformierte Theologen ab dem 17. Jahrhundert zwischen zwei grundlegenden Arten der Theologie: der ur- oder vorbildlichen Theologie (theologia archetypa), der „archetypischen“, d.h. der Theologie, die Gott von sich selber hat; und der ab- oder nachbildliche Theologie (theologia ectypa), der „ektypischen“, d.h. der Theologie, die vor allem Geschöpfe von Gott aufgrund seines Wortes haben.
Gott ist die Quelle all unserer Erkenntnis und damit auch Theologie. Gott hat unmittelbare, direkte, perfekte, umfassende Erkenntnis von allem und damit natürlich auch von sich selbst. Unser Erkennen dagegen ist immer abgeleitet oder reproduktiv, es ist nicht allumfassend und nicht perfekt. Denn Gott hat eben nur einen gewissen Teil seiner Gedanken offenbart. Gottes Theologie ist also gleichsam das Original, unsere die unvollständige Kopie.
Kein Theologe darf daher in Anspruch nehmen, die absolute Theologie Gottes vollständig erfasst zu haben. Erkenntnis auf der Erde wird immer Stückwerk bleiben. Genau deshalb sind Disputationen wie die über die Kraft der Ablässe nötig. Gemeinsam streiten wir über die Wahrheit.
Wahrheitssucher und Besserwisser
Wenn die Liebe zur Wahrheit von Disputierenden geteilt wird, können Debatten im akademischen Raum wie auch in der Kirche fruchtbar sein. Zu Beginn der Reformation gab es Disputationen in Leipzig oder Heidelberg, doch mit der Achtung vor der Wahrheit war es auf römischer Seite nicht sehr weit her. Der Reformimpuls verließ daher die Bahnen der päpstlichen Kirche.
Heute, in Zeiten der Corona-Pandemie, ist die Frage nach der Wahrheit wieder brandaktuell. Schon Anfang April veröffentlichte Daniel von Wachter „Eine philosophische Untersuchung des Neues Coronavirus“. Auf der Website des Leiters der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein finden sich weitere Texte zu diesem Thema wie „In vier Schritten zur Wahrheit über das Neue Coronavirus“.
Von Wachter ist bekennender Christ und Mitglied des Leitungskreises des Netzwerkes Bibel und Bekenntnis. Er hält regelmäßig Vorträge zu apologetischen Themen des christlichen Glaubens. Der Philosoph ist überzeugt, dass auch „ein Laie in einer Angelegenheit wie der Coronavirusdebatte die Wahrheit herausfinden“ kann, nämlich durch Sammeln von Information und Nachdenken. Er hält das neue Virus für „nicht besonders gefährlich“ und rät: „Hinterfragen Sie die vom Staat und von der Regierung verbreiteten Aussagen über das Coronavirus.“
Im Juni übte Steffen Kern, Vorsitzender des Evangelischen Gemeinschaftsverbandes Württemberg („Die Apis“), heftige Kritik an von Wachters Aussagen. Im Magazin des Verbandes „Gemeinschaft“ (7/2020) weist der Pfarrer und Journalist in „Das Virus der Verwirrung und der Segen von Corona“ von Wachters Thesen scharf zurück: „Hier irrlichtert ein Denker durch ideologische Untiefen und irritiert die Gemeinde.“ Der christliche Philosoph missbrauche „die Bibel für eine ideologische Agitation“. Schon in der Überschrift ist von den „vermeintlich Bibeltreue[n]“ die Rede.
Laut Kern behauptet von Wachter, „das Virus [sei] in Wahrheit völlig ungefährlich“. Seine Aussagen haben nur den Anschein „gelehrt und biblisch zu sein, sind aber weder das eine noch das andere“. Von Wachter greife biblische Motive nur auf, beraube sie dann „ihres historischen und theologischen Kerns“ und fülle sie „mit neuer Ideologie und politischem Gedankengut“. Dem Wissenschaftler mit zwei Doktortiteln und Habilitation wirft Kern sogar häretisches Gedankengut vor: „Es ist das Wesen der Irrlehre, dass sie der Wahrheit so nahe zu sein scheint. Gerade das macht sie so verführerisch.“ Außerdem würde der „vermeintlich bibeltreue Philosoph“ seine Gegner diffamieren: „Wer ihn kritisiert, ist per se auf der Seite derer, die eine ‘Diktatur’, einen ‘Polizeistaat’ errichten wollten“. Von Wachters Thesen seien „wissenschaftlich haltlos, mit einer verantwortlichen Bibelauslegung in keiner Weise zu rechtfertigen und geistlich unverantwortlich.“
Die Anschuldigungen Kerns sind so massiv, dass man liebend gerne Gründe gelesen und Argumente studiert hätte. Doch Kern liefert an dieser Stelle rein gar nichts. Er schüttet einfach einen Kübel von Schlamm über dem Bruder im Glauben aus. Nach Lektüre aller Texte des Philosophen zum Thema (und anderer Beiträge von ihm) kann ich die Verdikte Kerns in keiner Weise nachvollziehen. Sie sind in ihrer Schärfe samt und sonders falsch, intellektuell unredlich und haben mit Wissenschaftlichkeit nichts zu tun.
So bezeichnete von Wachter nach meinem Wissen SARS-CoV-2 nirgendwo als „völlig ungefährlich“, sondern als „nicht besonders gefährlich“ – der Unterschied ist wesentlich und liegt auf der Hand. Und sicher hat von Wachter hier Recht, denn die „infection fatality rate“ (Anteil der Todesfälle unter allen Infizierten) liegt wohl nach den nun weltweit schon zahlreichen Untersuchungen bei rund 0,3%, d.h. drei von eintausend Menschen sterben an dem Virus (bei Jüngeren noch weniger, bei Älteren mehr). Außerdem warnt von Wachter vor einer ausufernden Staatsgewalt und davor, dass ein Polizeistaat aufgebaut werden könnte, aber er bezeichnet seine Kritiker nun keineswegs als Freunde von Dikatur und Polizeistaat.
Von Wachter behauptet, „dass die Regierung und die regierungsnahen Medien die Unwahrheit über das Coronavirus sagen“. Über solch eine Aussage oder These kann und muss diskutiert werden. Ich persönlich würde hier vorsichtiger formulieren. Kern will nun aber gar nicht diskutieren. Von Wachter hat eine „Replik auf Steffen Kern“ geschrieben und dreht darin der Spieß um: „Kern macht genau das, was ich kritisiere: er glaubt blind der Regierung. Blind, weil er nicht die Indizien prüft und nicht nachdenkt.“
Ob dies stimmt, sei dahingestellt. Es ist nicht die Frage, ob von Wachter, die Regierung, die Medien oder wer auch immer in allen Dingen recht haben oder nicht, sondern ob wir überhaupt gewillt sind, dies zu überprüfen. Möglicherweise hat Kern Indizen überprüft und nachgedacht, aber es gibt wiederum Indizien dafür, dass Kern die Wahrheit über das Coronavirus nicht besonders interessiert und dass er, mit Frankfurt gesprochen, eine schlampige Gleichgültigkeit gegenüber der Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch zeigt.
Kern ist Leiter eines großen Gemeinschaftsverbandes (und des ältesten dazu), Vorstandsmitglied von ProChrist (Redner 2013 und 2018), Mitglied im Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz und damit ein bekannter Repräsentant des landeskirchlichen Pietismus. Er feuerte seine Breitseite auf von Wachter nicht in einem Facebook-Eintrag und auch nicht als Privatmeinung auf einem Blog, sondern in seiner Leitungsfunktion im Journal seines Verbandes. „idea“ berichtete über seinen Text. Noch immer, Monate später, prangt der Link zu diesem auf der ersten Seite von Kerns Internetauftritt – alles deutet darauf hin, dass er weiterhin zu den Aussagen des Artikels steht, trotz ihrer offensichtlichen Haltlosigkeit.
In einem kurzen Video („Die Wahrheit über Corona“) fragt Kern: „Was ist wirklich wichtig? Was ist wirklich wahr?“ Seine Antwort: „Die Krise ist in Wahrheit die Zeit derer, die besonnen bleiben, gelassen und verantwortlich.“ Richtig. Doch gegenüber von Wachter reagierte Kern nun ganz und gar nicht gelassen, und von einem verantwortlichen Umgang mit all den Fragen kann leider auch keine Rede sein. Statt einem Kontranten mit Wertschätzung zu begegnen, wählte Kern den Weg der frommen Verunglimpfung.
Die Wahrheit ist und bleibt oft sehr schwer zu finden, so Popper. Das gilt natürlich auch für ein neues Virus und eine neuartige Krankheit. Der reformatorischen Tradition folgend sollte um der Wahrheit willen auch weiterhin zu einem Disput eingeladen werden. Thomas Schirrmacher hat dies vor Jahren in seiner freundschaftlichen Debatte mit Heinzepter Hempelmann über Bibeltreue oder jüngst mit Jürgen Mette über Evangelikalismus vorgemacht. Da hilft es nicht, wenn die Andersdenkenden gleich als Querdenker, Querulanten oder Besserwisser abgestempelt werden, die nun, in einer Pandemie „zum Problem“ würden (Kern in „Corona und die Besserwisser“).
Martin Luther war 1517 von der Liebe zur Wahrheit getrieben. Manchen erschien er gewiss als Querulant und Besserwisser. Der Leitstern der Wahrheit leuchtet heute leider nur noch schwach. In „Luther, fertig, los! – Die Reformation geht weiter“ fragt Kern „Was ist eigentlich reformatorisch?“ und erläutert kurz die evangelischen „Sola“. Er endet mit den bekanntnis Worten Philipp Jakob Speners, des Vaters des Pietismus: „Wir haben nicht zu zweifeln, dass Gott einen besseren Zustand seiner Kirche hier auf Erden versprochen hat.“ Wohl wahr. Ein Anfang wäre gemacht, wenn am Wert der Wahrheit nicht gezweifelt und miteinander um sie gerungen würde.