Hermeneutische Demut
„noch nicht genug gereinigt, geschliffen, … gründlich und geistig“
Der Zürcher Reformator Huldrych Zwinglis starb 1531 auf dem Schlachtfeld bei Kappel. Bald danach wurde der noch junge Heinrich Bullinger zu seinem Nachfolger als Hauptpastor des evangelischen Zentrums in der Schweiz gewählt. Über vier Jahrzehnte konnte er in Zürich wirken. Nicht zuletzt durch seine zahlreichen Schriften und Briefe wurde er zu einer Schlüsselfigur der Reformation in Europa und ein – wie wir heute sagen würden – wichtiger Netzwerker.
Im 16. Jahrhundert war Bullinger neben Luther der meistgelesene Reformator in Europa. Zu dieser Popularität trug vor allem sein 1552 abgeschlossenes Hauptwerk bei: die Dekaden, lat. Sermonum Decades quinque. Darin erläutert Bullinger die ganze evangelische Lehre in fünf Teilen oder Büchern zu je zehn (daher der Name) „Predigten“. Diese fünfzig Lehrpredigten beeindrucken bis heute durch ihre Verbindung von theologischer Tiefe und Klarheit sowie Prägnanz im Ausdruck. (In den Heinrich Bullinger Schriften des TVZ die Bände III–V.)
Die fünfte Dekade widmete Bullinger der Kirche, ihrem Wesen, ihren Dienern (den Pastoren) und den Sakramenten Taufe und Abendmahl. In der zweiten Predigt der Reihe zur Notwendigkeit und Einheit der Kirche findet sich ein bemerkenswerter Abschnitt über die Auslegung der Bibel im Kontext der Spaltungen in der Kirche, die es zu vermeiden gilt. Bullinger erläutert dort kurz sein Konzept von hermeneutischer Demut, das ein Schlüssel zu evangelischer Einheit war und ist. In dieser Woche des Gebets für die Einheit der Christen sind diese Ausführungen wieder aktuell.
Bullinger wundert sich eingangs „über den verdorbenen und kirchenspaltenden Sinn etlicher“. Einige Schismatiker trennen sich „wegen irgendeiner leichten Ursache von der Heil und Freude bringenden Gemeinschaft oder Versammlung der heiligen Kirche“. Er kritisiert ihre Rechthaberei: „Bei allen vermissen sie noch etwas, nur bei sich selbst finden sie nichts zu tadeln.“ Die Lehre der Amtsdiener in der Kirche erscheint solch perfektionistischen Spaltpilzen immer „noch nicht genug gereinigt, geschliffen, erhaben… gründlich und geistig“.
Bullinger nimmt nun eine wichtige Unterscheidung vor. Es gibt einige „feste und unveränderliche Lehrsätze“ des christlichen Glaubens, wozu er die Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses zählt. Zu diesen Kernüberzeugungen gehören u.a.: „Alle Menschen sind Sünder, die in der Sünde empfangen und geboren worden seien“; die Notwendigkeit der Wiedergeburt; Rettung aus Gnaden allein, allein „durch das Verdienst Christi“; Christus wurde „einmal für die Sünden geopfert worden und werde kein weiteres Mal geopfert“; die Wichtigkeit der Sakramente und des Gebets. Es genüge, so der Reformator, „wenn diese und ähnliche Punkte übereinstimmend, rein und einfach in der Kirche gemäß der Schrift gelehrt werden…“
Nicht alle offenbarten Wahrheiten sind gleich wichtig – es gibt zentrale Wahrheiten. Ungefähr zur gleichen Zeit schrieb auf der gleichen Linie Bullingers Freund und Kollege Johannes Calvin in der Institutio:
„Nicht alle Stücke der wahren Lehre sind von gleicher Gestalt. Einige von ihnen sind derart notwendig zu wissen, daß sie bei allen [Gläubigen] unerschütterlich und unzweifelhaft fest stehen müssen, gleichsam als die eigentlichen Lehrstücke der Religion. Dazu gehören zum Beispiel folgende Aussagen: Es ist ein Gott, Christus ist Gott und Gottes Sohn, unser Heil besteht in Gottes Barmherzigkeit… Dann gibt es andere Lehrstücke, über die unter den Kirchen Meinungsverschiedenheiten herrschen, die aber die Einheit im Glauben nicht zerreißen.“ (Inst. IV,1,12)
Calvin betont einerseits, dass alle Christen „von einem Nebel der Unwissenheit umhüllt“ sind und wir deshalb nie alle exakt dasselbe glauben, lehren und bekennen werden. Doch er will auch nicht „Schutzpatron der Irrtümer“ sein. Es gehe vielmehr darum, das zentral Wichtige von weniger Wichtigem zu unterscheiden; es müsse unbedingt beachtet werden, dass „jene Lehre gesund und unverkürzt erhalten wird, auf der die Unverletztheit der Frömmigkeit beruht“. Man dürfe sich daher „nicht leichtfertig um irgendwelcher kleinen Meinungsverschiedenheiten willen von der Kirche trennen.“
Auf seine Weise formuliert diese Gedanken auch der reformierte Heidelberger Katechismus. „Was ist für einen Christen notwendig zu glauben?“, lautet dort Frage 22. Antwort: „Alles, was uns im Evangelium zugesagt wird.“ Das ist angemessen breit formuliert. Konkret nennt Autor Ursinus dann aber das Apostolikum. Und auf die zentralen Wahrheiten richtet auch schon Frage 2 das ganze Augenmerk: „Was musst du wissen, damit du in diesem Trost selig leben und sterben kannst [Thema von Frage 1]?“ Nur drei Dinge – auch hier das Wesentliche: das Wissen um die eigene Verdorbenheit, also Sünde, dann um die Erlösung „von allen meinen Sünde und Elend“ und drittens „wie ich Gott für solche Erlösung soll dankbar sein“.
Die Betonung einer Gruppe von Hauptaussagen durch die Reformatoren ist biblisch begründet. Denn schon im Neuen Testament finden wir Zusammenfassungen der Kernaussagen des Evangeliums (s. vor allem Lk 24, 44–47; Apg 2, 22–40; 17, 22–31; 1 Kor 15, 3–5). Hier werden durchaus recht unterschiedliche Akzente gesetzt, wird je nach Situation, Zuhörer- oder Leserschaft auf verschiedene Weise zusammengefasst. Insgesamt präsentiert und das Neue Testament in diesen Passagen zentrale Wahrheiten, die verschieden ausformuliert sein können.
In der Bibel selbst finden wir also eine gewisse Vielfalt. Selbst die wesentlichen Lehrinhalte des christlichen Glaubens werden daher unterschiedlich formuliert. So lehrt der Heidelberger Katechismus, wie wir sahen, man müsse drei Dinge wissen. Das ist eingängig und sinnvoll, ein anderer Katechismus könnte aber auch von zwei, vier oder fünf Punkten sprechen, die es zu glauben gilt.
„Die Verursacher von Schismen sind meistens hochmütig und überheblich“
In der „täglichen Auslegung der Schrift, in ihrer Anpassung an unsere Zeiten, Orte und Bedürfnisse“, so Bullinger weiter, „bestand immer eine große Vielfalt und Verschiedenheit, weswegen sich aber trotzdem kein verständiger Mensch von der Gemeinschaft der Kirche losgesagt hätte“. Er geht nun also über von den „festen und unveränderlichen Lehrsätzen“ zu der Anwendung der biblischen Wahrheiten im Gemeindealltag, in Predigt, Verkündigung und Seelsorge. Hier schreibt der Pastor und Gemeindepraktiker Bullinger:
„Denn es geschieht oft, dass zwei, drei oder noch mehr dieselbe Stelle nicht auf dieselbe Art, sondern auf sehr verschiedene Weisen auslegen. Der eine gibt sie dunkler wieder, der andere klarer. Dieser trifft den Sinn, jener nicht. Der eine wendet die Stelle, die er behandelt, sehr treffend an, ein anderer hat nicht dieselbe Geschicklichkeit darin; und trotzdem sagt er nichts, was der Wahrheit des Glaubens und der Liebe zu Gott und der Nächstenliebe widersprechen würde, sondern er bringt alles zur Erbauung vor. Dieser Verschiedenheit nimmt, so meine ich, niemand zum Anlass, sich von der Kirche abzuwenden.“
Eigentlich sagt Bullinger hier Selbstverständliches, schließlich sind Bibelausleger als Menschen recht unterschiedlich begabt und arbeiten immer mehr oder weniger fehlerhaft. Doch seine Nüchternheit und sein Realismus verblüffen dennoch – Sinn wird nicht getroffen, Auslegung ist in Teilen dunkel, also unklar, einer deutet geschickt, der andere nicht. Angesichts dieser Unvollkommenheit warnt Bullinger vor falschem Perfektionismus, der nur dazu führt, dass man vorschnell auseinanderläuft.
Bullinger fordert nun von allen Demut. Die Gläubigen in der Gemeinde sollen „bei allen Predigten und bei allem Hören des Wortes Gottes all ihren Fleiß nur auf die Erbauung“ ausrichten. Sie sind also aufgefordert, nicht einfach herumzumäkeln und immer das Haar in der Suppe zu suchen; sie sollen sich vielmehr vor allem positiv fragen, was sie aufbaut.
Die Lehrer wiederum „setzen alles dran, sich selbst wie auch die Zuhörer zu bessern, und nicht, als besonders gelehrt zu erscheinen oder hervorzubringen, was bisher noch niemand gesehen hat. Die Gelehrten stören sich nicht an den Predigten von weniger Gelehrten. Denn obwohl man meinen könnte, dass diese ihr Ziel nicht ganz erreicht hätten, werden sie gelobt und nicht verdammt, weil sie dennoch Heilsames gesagt haben, auch wenn sie bei passender Gelegenheit freundlich ermahnt werden. Die weniger Erfahrenen wiederum beneiden die Erfahreneren nicht um ihre Gaben und lehnen es auch nicht ab, das Vollkommenere zu lernen, noch verschmähen und verdammen sie die gebildeten Predigten der Erfahreneren, sondern sie loben Gott und bemühen sich, das Vollkommenere nachzuahmen… “
Die Auslegung der Bibeltexte ist kein akademischer Selbstzweck, kein intellektuelles Spiel und auch kein Mittel zur Selbstverwirklichung. Es geht bei allem um die „Erbauung“ der Gemeindemitglieder. Vor allem die Verkündiger müssen Demut bewahren: Die Begabteren dürfen sich nicht über die weniger Gelehrten und Erfahreneren erheben; aber auch die weniger guten Prediger sind gefordert: sie sollen sich um Verbesserung bemühen und weiter lernen.
Bullinger zitiert den Kirchenvater Augustinus in Die christliche Bildung: „Wer auch immer glaubt, die Heilige Schrift oder irgendeinen Teil davon verstanden zu haben, mit diesem Verständnis aber nicht die doppelte Liebe, nämlich Gottes- und Nächstenliebe, aufbaut, der hat sie noch nicht verstanden.“ Aus diesem Geist der Liebe heraus kann dann Ermahnung ausgesprochen und angenommen werden:
„Wo immer also ein kirchlicher Ausleger in gröberer Weise irrt, kann derjenige, der es besser weiß, den Irrenden brüderlich ermahnen; eine Trennung ist ganz und gar nicht erlaubt. Die Verursacher von Schismen sind meistens hochmütig und überheblich, verzehren sich vor Neid und haben daher keine Liebe und Bescheidenheit, heißen nichts gut, außer es sei aus ihnen selbst entstanden… Sie denken immer über etwas Erhabenes nach und nichts über Gewöhnliches und Einfaches.“
Bullinger hatte bei all diesen Sätzen meist die Anführer der Täuferbewegung in der Schweiz im Blick. Heute verlaufen die Fronten anders. Wo genau nun die Linie um die „festen und unveränderlichen Lehrsätze“ zu ziehen ist, muss immer wieder neu festgestellt werden. Je nach Land und Zeit ergeben sich auch besonders Herausforderungen. In Polen-Litauen wurde z.B. in der Reformationsepoche mitunter heftig um die Dreieinigkeit gestritten. Hier galt es fest zu stehen.
Auf evangelischer Seite war man sich damals weitgehend einig über die Autorität der Bibel. Der römischen Kirche allerdings „fehlt das heilige Wort Gottes“, so Bullinger; sie hat deren „ursprünglichen Sinn [nicht] unverdorben bewahrt“. Inzwischen kann von einem einheitlichen Schriftverständnis der Protestanten schon lange keine Rede mehr sein. Nun fehlt auch vielen evangelischen Kirchen das heilige Wort Gottes.
Auch heute muss brüderlich ermahnt werden, und Bullinger würde sicher die eine oder andere Trennung begrüßen, ja sogar fordern – eben wegen des Aufgebens von zentralen Wahrheiten durch Neuerer, darunter auch zur Autorität der Bibel selbst. Debatten über Exegese und Hermeneutik biblischer Texte bleiben aber auch für die ‘Bibeltreuen’ weiter nötig. Alle sind mit der Zürcher Reformator aufgefordert, demütig ihre Verwurzelung in bestimmten Vorverständnissen anzuerkennen und offen für Kritik zu bleiben.
[…] de la paroisse réformée de Vilnius (Lituanie). Cet article a été écrit en allemand pour son blog personnel, à l’occasion de la semaine de prière pour l’unité des chrétiens en janvier […]