Gefahr aus dem Osten?
Vor gut zehn Jahren, im Herbst 2009, vollzog Litauen den Atomausstieg. Die beiden Reaktoren des Atomkraftwerks Ignalina nahe der Stadt Visaginas wurden vom Netz genommen. Noch 1993 wurden an die 90% des Stroms für den litauischen Markt durch dieses AKW produziert. Doch das Reaktormodell aus der RBMK-Reihe (auch Tschernobyl-Typ genannt) hatte in Europa natürlich keine Zukunft. Um der EU beitreten zu können, musste Litauen das Abschalten der Ignalina-Blöcke zusichern. Für das Abwracken der riesigen Anlage am größten See Litauens direkt an der Grenze zu Weißrussland erhielt der Staat in beträchtlicher Höhe Fördermittel der EU.
Noch vor der Abschaltung begannen Planungen für ein neues litauisches Atomkraftwerk, das praktischerweise direkt neben dem alten entstehen sollte. Die baltischen Staaten und Polen beabsichtigten eine Kooperation beim „Kernkraftwerk Visaginas“ (VAE). Das japanische Unternehmen Hitachi-GE sollte den Bau verantworten. In Litauen trieb die konservativ-liberale Regierung in den Jahren 2008–2012 das Projekt voran, doch die Nachbarländer stiegen aus, und auch in Litauen bröckelte die Unterstützung nach der Fukushima-Katastrophe ab. Obwohl nie offiziell beerdigt, gilt ein neues litauisches AKW inzwischen als tot.
Im östlichen Nachbarland Weißrussland setzt man dagegen auf den Ausbau der Kernenergie. 2011 wurde in Ostrowez (litauisch Astrava) mit dem Bau eines russischen Druckwasserreaktors der verbesserten dritten Generation begonnen (Reaktoren der ersten und zweiten Generation waren z.B. in Greifswald in Betrieb). Der erste von zwei Blöcken geht nun im Januar ans Netz. Auch „Der Spiegel“ berichtete kurz in der ersten Nummer des Jahres (Nr. 2/2020, S. 69: „Gefahr aus dem Osten“).
Das „Weißrussische Kernkraftwerk“, mit Milliarden von Russland finanziert und von „Rosatom“ gebaut, steht allerdings fast schon im Vorgarten Litauens – zur weißrussisch-litauisch Grenze sind es nur 20 Kilometer, bis nach Vilnius, der Hauptstadt, gut 40. Kein Wunder, dass sich die Regierung Litauens mit Macht gegen den Bau des AKWs im Osten gestemmt hat. Für die nun oppositionelle „Heimatunion“, die Konservativen, ist „Astrava“ sogar das rote Tuch schlechthin, obwohl man vor zehn Jahren noch ganz pro-Atom gestimmt war. Das neue Kraftwerk wurde eben nicht in Schweden oder Polen gebaut, sondern in Weißrussland, das von Alexander Lukaschenko, dem „letzten Diktator Europas“, regiert wird. Die Beziehungen zum Nachbar Weißrussland sind zwar pragmatisch, aber frostig. Da „Astrava“ für russisches Geld und russische Technik steht, reagieren gerade die patriotischen Litauer allergisch auf das neue AKW. Litauen will jedenfalls keinen Strom von dort beziehen (die Letten werden dort wohl aber kaufen!).
Ob der neue Reaktortyp störanfällig sein wird, können wohl nur Experten beurteilten. Gewiss muss es beunruhigen, wenn ein Dikator sich nicht weiter um internationale Proteste schert und nur unzureichende Kontrollen zulässt; offizielle Beteuerungen aus Minsk, dass das AKW den neuesten Sicherheitsstandards tatsächlich entspricht, müssen skeptisch gesehen werden. Doch die Gefahr einer atomaren Verseuchung droht auch von Schweden her. Dort sind acht Reaktorblöcke am Netz, und wegen der vorherrschenden Westwinde würde ein großer Unfall in Südschweden kaum weniger bedrohlich sein als in Weißrussland. Nur drängt niemand in Litauen die befreundeten Schweden zum Atomausstieg.
Ähnliches gilt ja auch für Frankreich, den atomaren Riesen in Europa. Der Nachbar Deutschlands hat sogar an die sechzig Blöcke in Zig Kraftwerken am Netz. Fast 80% des Stroms wird in Frankreich durch Atomkraft gewonnen. Und in Paris denkt man keineswegs an eine Abkehr von dieser Technologie. Schließlich liegen die CO2-Emissionen pro Kopf und Jahr dort bei knapp 5 Tonnen (wie übrigens auch in Litauen) – und in Deutschland mit 9 Tonnen 80% höher.
Nur wenige Länder in Europa wie Tschechien oder Norwegen haben eine schlechtere Klimabilanz als Deutschland. Selbst die kohlefreundlichen Polen stehen besser da. Ob der deutsche Atomausstieg sehr sinnvoll war, lässt sich zumindest bezweifeln. Zumal auch die vier Druckwasserreaktoren von Cattenom in Lothringen geographisch fast schon so gut wie in der Bundesrepublik liegen. Ein Unfall würde die Franzosen kaum in Mitleidenschaft ziehen, eher schon die Deutschen im Rheinland und bis ins keine zweihundert Kilometer entfernte Frankfurt. Gefahr aus dem Westen.
Vor einem Monat meinte Bestsellerautor Steven Pinker provokant im „Spiegel“-Beitrag „Wir brauchen mehr Atomkraft“: „Wollen wir den Klimawandel aufhalten, dann müssen wir den Ausstoß von Kohlenstoffdioxid senken – da sind wir uns einig. Die wenigsten Menschen werden allerdings dazu bereit sein, ein Leben in Energiearmut zu führen wie vor der industriellen Revolution. Kernkraftwerke abzuschalten und somit eine fast CO2-freie Energiequelle aufzugeben ist deshalb irrational. Wir brauchen mehr Atomkraft, nicht weniger.“
Aber was ist mit der Gefahr der Atomkrafttechologie? Pinker, der sich bei Statistiken sehr gut auskennt, plädiert für Realitätssinn und Nüchternheit: „Beim Unfall von Tschernobyl starben 31 Menschen, und in der Folge, je nach Schätzung, mehrere Tausend oder gar Zehntausend Menschen an Krebs. Diese Zahl verblasst jedoch gegenüber den vielen, vielen Menschen, die durch dreckige Luft aus Kohlekraftwerken an Atemwegsleiden oder Krebs erkranken und vorzeitig sterben – Kohle tötet weit über eine halbe Million Menschen, jedes Jahr.“