Homo deus?

Homo deus?

[Hier der letzte von vier Vorträgen aus der Reihe über Gott, Mensch und Technologie]

Homo superior

Blade

Populäre Science-Fiction-Filme wie „The Matrix“ (1999), „I Am Legend“ (2007), „Avatar“ (2009), „The Book of Eli“ (2010), „In Time“ (2011), „Elysium“ (2013) oder der Klassiker „Blade Runner“ (1982/ Teil 2 2017, s. Foto u.) zeichnen ein düsteres Bild der Zukunft. Statt schönen Utopien werden uns postapokalyptische oder dystopische Welten gezeigt. Wahrscheinlich müssen wir nicht mehr lange auf einen Film warten, der auch die Klimakatastrophe thematisiert.

In seltsamen Kontrast zu diesem Pessimismus in Hollywood steht der Optimismus vieler Wissenschaftler, Forscher und Ingenieure. Vor zwei Jahres behandelte der „Spiegel“ in seiner Osterausgabe (16/2017) wieder ein religiöses Thema: ewiges Leben, den „Traum, der so alt ist wie die Menschheit: den Tod zu besiegen und Unsterblichkeit zu erlangen.“ Religions- und Kirchenvertreter kamen jedoch kaum zu Wort. Vielmehr ging es um  Grundlagenforschung. Nun stehe „an der Schwelle zur klinischen Praxis“, womit sich Wissenschaftler lange beschäftigt haben: Eine „Vorhut“ unter diesen „hat den Sieg über den Tod ins Visier genommen. Demnächst soll die erste klinische Studie starten, deren Ziel die Verlängerung des menschlichen Lebens ist.“

Spiegel

An zwei unterschiedlichen Visionen der Unsterblichkeit auf Erden wird gearbeitet. Da ist zum einen die Vorstellung, den Körper dauerhaft gegen den Verfall zu wappnen. Die andere „wird besonders von Computervisionären propagiert. Sie finden sich mit der Vergänglichkeit des Körpers ab und setzen stattdessen darauf, das geistige Ich von seiner sterblichen Hülle zu befreien. Die Grundidee: Es gelte, den Inhalt des Gehirns auszulesen und im Computer hochzuladen. Das ‘Mind uploading’ kommt dem Aufstieg der Seele in den digitalen Himmel gleich.“

Erwähnt wird Googles Cheffuturist Ray Kurzweil. Er gilt als Pionier der Forschung im Bereich der „Artificial Intelligence“ (AI, künstliche Intelligenz). Kurzweils Hochrechnung zufolge müsste die Technik des Hirnhochladens im Jahr 2045 ausgereift sein. Kurzweil könne daher „selbst noch die Wiederauferstehung im Computer erleben“.Kurzweil

Schon vor zwanzig Jahren schrieb der Computerspezialist Kurzweil in seinem Beststeller The Age of Spiritual Machines (dt. Homo S@piens):

„Wenn die Entwicklung so weitergeht, werden wir bald Maschinen bauen, deren Intelligenz an die der Maschine heranreicht und diese sogar überflügelt… Auch wenn man über den Zeitpunkt, wann auch immer es ist, Uneinigkeit herrscht: diese Entwicklung wird von kaum einem Beobachter, der sich eingehend mit dieser Frage beschäftigt, ernsthaft bestritten. Was die Entwicklung von Intelligenz angeht, werden Menschen die Evolution bis dahin um Längen geschlagen haben: Denn dann haben sie in wenigen Jahrtausenden erreicht, wofür die Evolution Jahrmilliarden benötigte…“

Homo sapiensKurzweils Prognose: „Vor Ablauf des nächsten [21.] Jahrhunderts wird der Mensch seine Stellung als das intelligenteste und das leistungsfähigste Wesen auf Erden verloren haben.“ Er ist sich sicher: „Wir werden unsere Gehirne Schritt für Schritt verbessern, bis der Kern unseres Denkens eines Tages ganz in die weit fähigere und verläßlichere Maschine hinüberwandern wird.“

Ebenfalls vor gut zwei Jahren erschien die deutsche Ausgabe von Yuval Noah Hararis Homo deus. Mit zum Erfolg des Buches dürfte beigetragen haben, dass sich der Autor nicht eindeutig dem Optimismus (à la Kurzweil) oder dem Pessimismus (Hollywood) zuordnen lässt. Im Interview mit dem „Spiegel“ (12/2017) klingt es verführerisch: „Wir werden Götter sein“. Eben Homo deus – der göttliche Mensch. „Wann wird es soweit sein?“ Harari: „Es geht eher um Jahrzehnte als um Jahrhunderte“. Den Begriff „homo deus“ versteht er dabei durchaus „ganz wörtlich“. Gemeint ist ein Mensch,

„der Fähigkeiten erlangt, die in traditionellen Vorstellungen Göttern vorbehalten sind. Manches davon haben wir längst erreicht, insofern müsste schon der heutige Mensch seinen Vorfahren wie ein Gott vorkommen. Für den größten Teil der Geschichte erwarteten die Menschen von ihren Göttern Lösungen für praktische Probleme. Man war krank, man betete zu Gott. Es fiel kein Regen, und die Ernte war bedroht, man betete zu Gott. Heute haben die Wissenschaft und der technische Fortschritt für die meisten dieser Probleme Lösungen gefunden, die viel besser sind als die unzuverlässigen Götter. Die Konzepte, die wir im 21. Jahrhundert noch mit Religionen verbinden – das Jenseits etwa oder die moralischen ‘Werte’ – sind nur Überreste des Göttlichen.“Harari

Krankheit, Hunger und kriegerische Gewalt, so Harari in Homo deus, hat der Mensch schon gut in den Griff bekommen. Nun gibt es neue Ziele wie Unsterblichkeit, dauerhaftes Glück und Göttlichkeit. Harari erläutert die drei Wege, durch die sich der Mensch zum Homo deus ‘upgraden’ kann: erstens Bioengineering – durch die Verbindung von Gentechnologie und Neurowissenschaften erweitert der Menschen seine Fähigkeiten; zweitens Cyborg-Engineering – der menschliche Organismus wird durch anorganische Komponenten ergänzt: und drittens „AI“ – nichtmenschliche, computergestützte Intelligenz. Zu nennen ist hier auch das schon erwähnte Gehirn- uploading. Ziel all dieser Maßnahmen ist der sog. „Transhumanismus“, eine radikale Änderung der menschlichen Natur durch Technologie.

Harari ist noch nüchtern im Hinblick auf Unsterblichkeit. Sie ist in seinen Augen aber dennoch das große Projekt dieses Jahrhunderts. Das Erreichen der Göttlichkeit ist dabei sogar das Hauptziel, denn Glück und Unsterblichkeit sind letztlich Teile des Werdens zu Göttern. In „Der Mensch als Konstrukteur seiner selbst?“ („smd transparent“, 02/2019) bewertet Prof. Ulrich Eibach die Anthropotechnik, die Optimierung des Menschen mit (bio)technologischen Mitteln, aus theologischer und ethischer Perspektive. Eingangs fasst er Hararis Buch gut zusammen:

Eibach„Für den israelischen Historiker und Bestsellerautor Yuval Harari leitet das Verschmelzen von Bio- und Informationstechnologien das Ende des Glaubens an den Menschen als Krone der Schöpfung ein. Durch die neuen Technologien werde der Mensch zum Verbesserer der unvollkommenen Natur. Einen Gott und Schöpfer brauche man dann nicht mehr, der Mensch trete an seine Stelle und werde gar zum Schöpfer einer besseren Welt, die frei von Krankheiten ist. Für Gott ist kein Platz mehr, er wird – auch wenn es ihn noch gibt – gleichsam arbeitslos und überflüssig.“

Die Menschen werden zu Göttern. Aber das ist nur die eine Seite. Harari lässt keinen Zweifel daran, dass das persönliche, freie Ich eine Illusion ist und die neuen Technologien den Menschen endgültig zu ihrer Marionette degradieren werden. Dazu gleich mehr.

Christen sollten von diesen Thesen, Prognosen oder Aussichten nicht geschockt sein. Der gefallene Mensch strebt Göttlichkeit an – was soll daran Neues sein? Martin Luther hielt schon in seiner Disputation gegen die scholastische Theologie (1517) fest: „Der Mensch kann von Natur aus nicht wollen, dass Gott Gott ist. Vielmehr wollte er, er sei Gott und Gott sei nicht Gott.“ Schon das erste Menschenpaar wurde versucht mit dem Versprechen „ihr werdet wie Gott sein…“ (Gen 3,5). Jeder sündige Mensch will letztlich wie Gott sein, Gottgleichheit erlangen, und wieder liefert die moderne Technologie ‘nur’ besonders ausgefeilte Mittel, um dies zu erreichen.   Luther

Deus cum homine

Was sollen Christen heute tun, wenn die Anthropotechnik unsere Welt womöglich grundlegend verändern wird? Drei Dinge möchte ich abschließend unter den Stichworten Grenzen, Gute Nachricht und Geschichte anreißen.

Erstens gilt es, Grenzen allgemein neu zu schätzen. Denn der Gott der Bibel ist ein Gott der Grenzen. Er ist, wie wir sahen, klar unterschieden von seiner Schöpfung, die Er ins Leben gerufen hat und der Er gegenüber steht. Ganz anders als in den polytheistischen Religionen des antiken Heidentums geht Gott nicht in der Welt auf. Er hat sich gleichsam selbst eine Grenze gesetzt, indem Er sein Wesen nicht auf den ganzen Kosmos ausdehnte. Die gesamte geschaffene Welt ist nicht Gott – eine jüdisch-christliche Überzeugung, gegen die sowohl die heutige esoterische und pantheistische Welle als auch die wissenschaftlich-technologische Vorhut Sturm laufen.

NiebuhrDie ersten Menschen überschritten ein Gebot, eine von Gott gesetzte Grenze. Sie revoltierten damit aber auch gegen die noch grundlegendere Grenze zwischen Mensch und Gott. Sündersein drückt sich allgemein auch dadurch aus, dass wir nicht als begrenzte Geschöpfe leben wollen. Dies führte US-Theologe Reinhold Niebuhr (1892–1971) in The Nature and Destiny of Man gut aus. Der sündige Mensch will „die Grenzen seiner menschlichen Geschöpflichkeit überschreiten“. Er ignoriert seine Grenzen und gibt vor, er sei nicht begrenzt. Er glaubt, er könne „nach und nach die endlichen Begrenzungen übersteigen, bis sein Geist mit dem universellen Geist [mind] eins wird“ – vor achtzig Jahren noch prophetische Worte, die nun neue Relevanz gewonnen haben.

Schon heute wird die Grenze zwischen Mensch und Maschine in Frage gestellt; und schon eine Weile steht der Unterschied von Mensch und Tier auf der Tagesordnung (man denke an die Arbeiten des Philosophen Peter Singers). Hier sind christliche Antworten gefordert, die Gottes geschaffene Grenzen neu deutlich machen. Außerdem sind wir herausgefordert, persönliche und ethische Grenzen im Umgang mit Technologie zu setzen. Wo sie im Einzelfall verlaufen sollen, muss sorgfältig durchdacht und, wenn nötig, ausführlich erörtert werden.

Gott hat uns als Geschöpfen auch die Grenzen seiner Gebote gesetzt, in deren Rahmen wir gut leben können. Er hat uns Schöpfungsordnungen wie Staat, Kirche, Familie und Wirtschaft gegeben, die jeweils begrenzte Aufgaben und Vollmachten haben. Er hat jedem Einzelnen in seiner Geschöpflichkeit mit Körper und Geschlecht, Charakter und Herkunft, Kultur und Sprache Grenzen gesetzt.

Heute wird jedoch überall fast nur noch von „Ganzheitlichkeit“ geredet; alles „Holistische“ ist in. Auch in christlichen Kreisen hört man oft, dass alle möglichen Grenzen zu überwinden sind. Tatsächlich mag das häufig der Fall sein. Es ist Zeichen der allgemeinen Gnade Gottes, dass wir unsere Grenzen in vielerlei Hinsicht erweitern können, vor allem dank Forschung und Technologie, dank Wirtschaft und Handel.

Daher müssen wir nun unterscheiden zwischen guten und dauerhaften Grenzen, die es zu achten gilt, und falschen Grenzen, die wir überwindenden sollen. Manche Grenzen sind schlicht zu verwerfen, weil unbiblisch (Stichwort Rassismus, konkret das Verbot der Eheschließung zwischen verschiedenen ‘Rassen’). Daneben gibt es ‘neutrale’ Grenzen, d.h. solche, die wir erweitern können. Dies ist wiederum ein Element unser Geschöpflichkeit, da Gott uns arbeitsam, kreativ und einfallsreich gemacht hat. So lässt sich z.B. am eigenen Charakter Gott sei Dank arbeiten; Sprachen lassen sich erlernen, in fremde Kulturen kann man sich integrieren. Viele Grenzen sind nicht absolut und unveränderbar, weil natürlich auch dem historischen Wandel unterworfen (man denke an frühere feste Standesgrenzen).

Doch darüber vergesse man nicht: Grenzen sind grundsätzlich gut, oft von Gott gewollt und meist ein Segen. Daher ist die Verwischung grundlegender Grenzlinien eines der großen Übel unserer Zeit, das – wie Abraham Kuyper vor einhundertzwanzig Jahren bemerkte – Gesellschaften nur ins Dunkel führt und Einzelne in Verwirrung stürzt. Christen müssen also über Grenzen neu tiefer als bisher nachdenken, um gerade den Herausforderungen der Biotechnologie entgegnen zu können.

Zweitens gilt es, die Gute Nachricht als Wiederherstellung echten Menschseins neu zu betonen. Das Evangelium ist die Botschaft von der rettenden Tat Gottes in Jesus Christus für den Menschen. Dieser Mensch war gut geschaffen, Teil von Gottes guter Schöpfung. In Jesus Christus kam Gott selbst in seine Schöpfung und wurde ein Mensch wie du und ich. Gottheit und Menschheit waren (und sind) in ihm in geheimnisvoller Weise verbunden – aber nicht vermischt, wie die Väter des Glaubens beim Konzil von Chalcedon (451) klar betonten. Jesus war kein Übermensch, sondern im Hinblick auf sein Menschsein ein ganz normaler Mensch.

Christen sind Nachfolger Christi. Wir sind berufen, Gott – und konkret: Christus, dem vollkommenen Abbild des Vaters – immer ähnlicher zu werden (Kol 3,10). Doch wir sollen nicht Gott werden, in Ewigkeit bleiben wir Geschöpfe. Auch wenn wir einmal bei Gott sein werden (Off 21,3), wird die Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf nie aufgehoben werden. Gott wird mit ihnen, den Menschen, sein. „Deus cum hominibus“ lauten die Worte dieses Verses in der Vulgata, im Singular also „Deus cum homine“. Das ist die christliche Version der Zukunft, der Zukunft der Glaubenden – nicht „homo deus“.

Erlöstes Menschsein sollte neu in den Fokus unserer Darstellung des Evangeliums rücken. Wir müssen klar machen, dass die Botschaft von der Vergöttlichung des Menschen mithilfe von Wissenschaft und Technologie in Wahrheit eine schlechte Nachricht ist. Wenn ich zu Gott oder zum vergöttlichten Menschen, zum homo deus, werden kann, dann liegt die ganze Last der Verwirklichung auf mir: Ich bin es, der sich selbst zum Gott machen muss. Und scheitere ich, ist es meine eigene Schuld. Dies hat Züge einer gnadenlosen Religion der Werke. Selbsterlösung und –vergöttlichung ist eine große, zu große Last.

Die christliche Nachricht lautet dagegen: Ich bin nicht Gott, und das bedeutet genauso: ich brauche nicht Gott sein. Die Unterscheidung von Gott, Mensch und Welt ist zuallererst eine große Befreiung zur Würde und Persönlichkeit jedes Menschen. Wir sind dazu aufgerufen, Menschen wie Christus zu werden. Wenn selbst der inkarnierte Gottessohn seinem Vater gehorsam war, dann sind auch erlöste Menschen berufen, wie ihr Retter unter Gott zu leben.

Die evolutionäre Vervollkommnung des Menschen durch Technik in der Zukunft ist ein ganz anderes Paradigma. Darin wird nicht von einem Fall von einem vollkommenen, guten Zustand ausgegangen wie im historischen Christentum. Daher ist dort nicht Wiedergewinnung wahren Menschseins das Thema; vielmehr geht es um Hochentwicklung. Damit ist aber nun  keine Hinwendung zu Gott gemeint, sondern die Freisetzung göttlichen Potentials in jedem von uns, das Hervorbringen des Göttlichen in einem selbst.

Was ist der Mensch? Das dogmatische Fach, das sich mit Antworten beschäftigt, ist die theologische Anthropologie. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird dieses Fach noch wichtiger werden. An den evangelikalen Seminaren, Bibelschulen und wohl auch Hochschulen gehört es jedoch nicht zu den Kernfächern – wenn es denn überhaupt angeboten wird. Mir scheint, dass der theologische und pastorale Nachwuchs nicht angemessen auf die sehr ernsten Debatten der Zukunft vorbereitet wird.

Being humanDer fromme Buchmarkt zeigt kaum ein besseres Bild. Da gibt es dicke Schmöker für die Experten in Sachen Theologie wie Wolfhart Pannenbergs Anthropologie. Eher philosophisch orientiert und auch nicht recht für den Gemeindepastor und –mitarbeiter geeignet ist Was ist der Mensch? von Harald Seubert (STH, Basel). Vergriffen ist der Sammelband Ein Mensch – Was ist das? Zur theologischen Anthropologie aus der Reihe der AfeT-Publikationen. Zu empfehlen ist Being Human der Briten Jerram Barrs und Ranald Macaulay, das aus der L‘Abri-Arbeit der beiden entstammte. Der Akzent des Buches liegt auf der christlichen Jüngerschaft. Leider ist die deutsche Ausgabe Wie sollen wir leben? kaum noch zu bekommen.  Es fehlt im deutschsprachigen Raum ein Buch wie The Human Being – A Theological Anthropology. Obwohl der Autor Hans Schwarz zuletzt in Regensburg lehrte, gibt es das Werk leider nicht in deutscher Sprache. Das Defizit auf dem deutschen evangelikalen, bibeltreuen Buchmarkt spricht Bände.

Drittens scheint mir hilfreich zu sein, unsere Gegenwart und Zukunft viel stärker aus der Perspektive der Geschichte zu betrachten. Gerade in einer hochtechnologisierten Zeit wie dieser kann eine historische Herangehensweise eine gewisses Gegengewicht darstellen und beim Gegensteuern helfen. Denn mit dem Stichwort „Technologie“ verbinden wir ja meist die neuste, fortschrittlichste Technik – die Geschichte wird fast wie von selbst ausgeblendet. Beim Nachdenken Technologie als solche kommen Schaufel und Hammer kaum in den Blick, ganz zu schweigen von Sprache und Buchstaben. Blickt man aber nur auf die Gegenwart, führt dies leicht zu übertriebenen Hoffnungen für die Zukunft – oder zur falschen Verteufelung, wenn das in der Geschichte Erreichte nicht gesehen und gewürdigt wird.

Neil Postman plädierte im Technopol dafür „jedes Fach [auch] als Geschichte zu unterrichten“. Ob Sprache, Technik, Wissenschaft, Kunst, Schule und Erziehung – studiert man ihre Geschichte, schafft dies eine gesunde kritische Distanz. Stellt man z.B. fest, dass der Staat erst seit ein paar Jahrhunderte die Schulen unter seiner Fittiche hat, dann begreift man: er muss die Bildung nicht unbedingt kontrollieren. Und erfährt man, dass es in Schulen und Hochschulen erst seit zweihundert Jahren Noten gibt, dann befreit dies von der Vorstellung, das Instrument Noten sei gleichsam etwas Gottgegebenes.

Postman schlägt vor, „im geisteswissenschaftlichen Unterricht die Werke der Vergangenheit in den Vordergrund zu stellen“. Vor allem das historische Studium der Kunst könne von der „Tyrannei der Gegenwart“ befreien. Ein Besuch einer Kunstsammlung wie des Wallraf-Richartz-Museums in Köln mit einer repräsentativen Auswahl von Werken vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert zeigt vor allem eins: die künstlerischen Leistungen waren schon vor Jahrhunderten (und Jahrtausenden) beindruckend, ja vielfach beeindruckender als heute. Dies relativiert unsere oft naive, manchmal sogar dumme Technikbegeisterung in der Gegenwart.

ZAPostman rief auch in Die zweite Aufklärung dazu auf, „gelassene Vernunft gegenüber dem Furor technologischer Innovationen“ zum Zuge kommen zu lassen. „Ich benutze eine Technologie, wenn ich für mich einen Vorteil darin sehe. Ich weigere mich, mich von ihr benutzen zu lassen“, so Postman. Jahrzehnte unterrichtete er an Universitäten und konnte daher vergleichen. Früher schrieb man auf Papier, schon in den 90er Jahren war High Tech an den Hochschulen angesagt. Postmans Blick in die jüngere Vergangenheit führte ihn jedoch zu einem nüchternen Schluss:

„Die Bücher, die die Professoren schreiben, sind nicht besser als früher; ihre Ideen sind ein bißchen weniger interessant, ihre Gespräche eindeutig weniger faszinierend, und für ihre Lehre gilt dasselbe. Was die Studenten angeht, schreiben sie schlechter als früher, und das Überarbeiten eines Texts ist ein Konzept, das ihnen fremd ist… Man sagt mir, dass ihnen mehr Informationen zugänglich sind, aber fragt man sie danach, wann die amerikanische Unabhängigkeit erklärt wurde, müssen die meisten passen… Alles in allem liegt der Fortschritt im Denken und Unterrichten in etwa bei Null, vielleicht mit einem Verlust von zwei bis drei Metern.“

Postman bedauerte, dass der Gott der Technologie gerade im Bereich der Schule und Erziehung angebetet  wird. Als ob mit dem Zugang zu Informationen, der durch moderne Technologien natürlich sehr erleichtert wird, schon Wesentliches erreicht sei.

In vielen gesellschaftlichen Bereichen geht die Begeisterung über die Technik der Gegenwart mit dem einher, was C.S. Lewis z.B. in seiner Autobiographie Überrascht von Freude „chronologischen Snobismus“ nannte. Dies ist die Überzeugung, dass alles, was alt (und technologisch rückständig) ist, uns nichts mehr angeht, und was aktuell (und der neueste technologische Schrei) ist, bevorzugt werden sollte. Lewis betonte dagegen, dass man nicht fragen soll, ob eine Idee oder Lehre alt oder neu, sondern ob sie wahr oder falsch ist. Entsprechend sollten wir auch bei Werkzeugen und Technologien fragen, ob sie uns wirklich helfen und wie ihr Nutzen einzuschätzen ist.

Lewis empfahl als Gegenmittel das „Lesen alter Bücher“ (1944), so der gleichnamige Essay. „Jedes Zeitalter betrachtet die Welt durch seine eigene Brille. Es hat für bestimmte Wahrheiten einen besonders guten Blick und ist für bestimmte Irrtümer besonders anfällig. Wir alle brauchen darum Bücher, welcher die charakteristischen Irrtümer unserer eigenen Zeit korrigieren. Und das heißt alte Bücher.“ Auch der Brite forderte den Kampf gegen Tyrannei der Gegenwart. „Wir dürfen nie aufhören, den klaren, frischen Wind der Jahrhundert durch unsere Köpfe wehen zu lassen“, so seine Mahnung an uns. Nicht das einzige Mittel, aber wohl ein sehr wichtiges, um diesen Wind zu spüren, ist eben das Lesen alter Bücher. „Nicht, dass in der Vergangenheit alles besser gewesen wäre, gewiß nicht. Die Leute waren damals nicht gescheiter als heute; sie machten genauso viele Fehler wie wir. Aber nicht dieselben Fehler. Sie bestärken uns nicht in den Irrtümer, die wir ohnehin schon begehen… “

Lewis

Liest man die alten Bücher, stellt man fest, dass die Menschen im Grunde über all die Jahrhunderte und Jahrtausende immer die gleichen geblieben sind. Sie haben sich seit dem Sündenfall gegen Gott aufgelehnt; der sündige Mensch will sich mit seinem Dasein als Geschöpf nicht zufrieden geben. Er wird immer alles ihm zur Verfügung Stehende nutzen, um Gottgleichheit zu erreichen. Die Anthropotechnik liefert nur neue Werkzeuge, wenn auch sehr mächtige, um dieses Streben zu befriedigen.

DreherWir können daher auf der einen Seite gelassen sein, denn die Zeiten sind in vielerlei Hinsicht nicht düsterer als früher. Auf der anderen Seite bleiben die Herausforderungen.  Wir brauchen „liebevolle Widerstandskämpfer“ (Postman), die mutige Entscheidungen treffen. Rob Dreher beendet das letzte Kapitel („Man and the Machine“) in seinem The Benedict Option mit einer Voraussage: Es wird große Scheidung kommen zwischen denjenigen Menschen, die als Geschöpfe leben wollen, und den Menschen, die zu Maschinen werden wollen. Er ruft dazu auf, mutig auf Seite der Geschöpfe zu stehen – und damit auch auf Seiten des Schöpfers. Dem ist nichts hinzuzufügen.