Die Achillesverse der Evangelikalen
Von echter zu „noch tieferer Christuserkenntnis“
„Wir helfen Studenten Jesus Christus kennenzulernen und diese Beziehung auch nach dem Studium zu vertiefen“, so der US-Amerikaner David Hickson in einem Interview bei seinem Besuch in Litauen im letzten Winter. Hickson ist jedoch kein Mitarbeiter von „Cru“ (früher Campus Crusade for Christ) oder „InterVarsity“ (Mitglied im Dachverband IFES). Er gehört zu den „Focus Missionaries“ der katholischen Kirche.
Zur Studentenmission „Focus“ gehören weltweit über 800 Missionare. Sie sind vor allem an etwa 160 Orten in den USA tätig. Seit einer Weile werben sie aber auch in England und Irland sowie an einigen Unistandorten in Süddeutschland und in Österreich für Jesus. Die Arbeitsweise von „Focus“ ähnelt dabei stark der von Cru oder den IFES-Bewegungen: im Mittelpunkt stehen wöchentliche Bibelstudien sowie die enge Gemeinschaft mit Studenten. Die Missionare wohnen in der Nähe der Studenten, nehmen sie mit in ihr Leben hinein und knüpfen so Freundschaften mit ihnen. Die Arbeit ist klar missionarisch orientiert: eine Beziehung mit Christus soll gefunden und vertieft werden; anderen Studierenden soll geholfen werden, diese Beziehung zu entdecken. Alles ist auf Jüngerschaft, konkrete Nachfolge Jesu, ausgerichtet.
„Focus Missionaries“ wurde vor 25 Jahren von Curtis Martin gegründet. Er fand durch die Studentenarbeit von Campus für Christus in den USA zum Glauben. Durch das Bibellesen hatte er Christus gefunden, aber bei einem Messbesuch wurde ihm auf einmal klar, dass den Protestanten Wesentliches fehlt: vor allem das echte Sakrament der Eucharistie. Brot und Wein werden nur durch das Handeln der Priester der Kirche zu echtem Sakrament – wer den Christus der Eucharistie will, braucht die institutionelle Kirche. Und so entdeckte Martin „die Schönheit der katholischen Kirche“.
Er studierte an einer katholischen Universität, an der auch Scott Hahn lehrte, ein prominenter Konvertit aus dem Protestantismus. Auch von Hahn angestoßen gründete Martin mit anderen „Focus“. Die Missionare dieses Werkes wollen die katholischen Hochschulkapläne, alle geweihte Priester, nicht ersetzen, sondern arbeiten ihnen gleichsam zu. „Focus“ übernahm dabei bewusst Methoden von protestantischen Werken und verband diese mit einer klaren katholischen Ausrichtung auf Sakrament und Kirche.
Die Ähnlichkeiten der „Focus“-Missionare mit Mitarbeitern von „Campus“ oder der IFES-Werke sind geradezu verblüffend. Die katholischen Missionare sind Laien, also keine Priester. Anders als die ordinierten Geistlichen kleiden sie sich nichts anders als die Studenten und leben meist nicht zölibatär, d.h. oft mit einer Familie. Wie die Mitarbeiter der evangelikalen Werke haben sie eine klare missionarische Berufung, was sich in ihrer evangelikal klingenden Redeweise deutlich ausdrückt. Außerdem müssen sie selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen und dafür einen Spenderkreis aufbauen – ganz so wie die Mehrheit der evangelikalen Missionarskollegen.
Über die Unterschiede zu den evangelikalen Studentenmissionen ist man sich bei „Focus“ aber auch ganz im Klaren. Das Bibelstudium ist eine Stufe hin zu einer noch tieferen Christuserkenntnis im Sakrament der heiligen Messe; eine noch erweiterte Erfahrung Christi sei durch den mystischen Leib der Kirche möglich; eine Beziehung zu Jesus allein reiche nicht – die tiefste Intimität zu ihm ist an die Beziehung zu seiner Kirche, der römisch-katholischen, geknüpft. Hickson vergleicht die Ebene, die die Protestanten erreichen, mit einer Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau; in der katholischen Kirche mit ihren Sakramenten erreiche man dann die Ehe, das eigentliche Ziel.
Das katholische Mehr
Die „Focus Missionaries“ zeigen beispielhaft die Lernfähigkeit der katholischen Kirche und ihre große Fähigkeit zur Integration bisher fremder Elemente und Arbeitsweisen. Ihre größte Trumpfkarte ist und bleibt dabei das Verständnis der katholischen Messe und noch allgemeiner das der Kirche.
Inzwischen hat die katholische Kirche schon fast alles an Akzenten, Formen und Methoden im Angebot, was lange nur den Evangelischen bzw. Evangelikalen zugeordnet wurde: Jesuszentriertheit, Bibelstudium, missionarischer Geist, Betonung von Jüngerschaft, zeitgenössische Anbetungslieder usw. Aber sie hat meist auch ein Mehr zu bieten, dass viele missionarisch aktive Evangelikale eher links liegen lassen: die Kirche als sichtbare Institution. Müssen Evangelische oft schon weit ausholen und die Notwendigkeit der Kirche und konkret der Gemeindemitgliedschaft begründen, so lassen sich Katholiken meist gar nicht in die Defensive drängen. Wie selbstverständlich betrachten sie die Ämter, die hierarchische Struktur und Sakramente, das Alter, die Größe und die Einheit der Kirche unter dem Papst als unverzichtbare Elemente ihres Lehrgebäudes, auf das sie durchaus stolz sind.
Dem katholischen „all das haben wir auch zu bieten – und noch viel mehr!“ haben Evangelikale in der Regel leider nicht viel entgegenzusetzen. Schließlich definiert man den Evangelikalismus als überdenominationell oder nichtkirchlich – als eine Christen aus verschiedenen Kirchen umfassende Bewegung. Doch welcher Kirche man angehört, ist für viele Evangelikale nicht nur nicht im Zentrum, sondern oft genug geradezu irrelevant. Tatsächlich sehen Evangelische mit anderen Augen auf die sichtbare Kirche; die protestantische Ekklesiologie ist deutlich unterschieden von der römisch-katholischen. Problematisch wird es, wenn man überhaupt keine klare Lehre von der Kirche hat und diese mehr oder weniger den Katholiken überlässt.
Auch in Litauen sehen gerade die Evangelikalen beim Thema Kirche meistens arm aus. Eine wirklich feste (nicht bloß traditionelle) Verwurzelung in der einen oder anderen Gemeindetradition oder Konfession haben nur wenige. Häufig wird die Gemeinde nach Kriterien des Geschmacks, des Leiters oder aufgrund von rein praktischen Erwägungen gewählt. Der Gemeindewechsel ist gerade bei jüngeren Leuten häufig. Wird nach festeren Fundamenten, mehr Halt, mehr Einheit und mehr Tiefe gesucht, landen viele wie automatisch bei der katholischen Kirche.
In der litauischen Studentenbewegung LKSB hieß es über viele Jahre hinweg, man sei eine ökumenische Organisation und arbeite keiner konkreten Kirche zu. In gewisser Weise war dies richtig, aber man hat es sich dabei ein Stück weit zu leicht gemacht. Die Frage der Kirche als solcher und damit auch konfessionelle Unterschiede wurden so gut wie gar nicht thematisiert. Warum ein junger Christ sich einer evangelischen Gemeinde anschließen sollte, blieb meist ungeklärt. Doch diese Unklarheit spielt der katholischen Kirche in die Hände, denn sie hat hier eine völlig klare Position.
Inzwischen hat LKSB eine doppelte Zielausrichtung, die der Herausforderung eines katholischen Landes besser gerecht wird: eine Beziehung zu Jesus und eine Vertiefung in einer evangelischen Gemeinde. LKSB-Mitarbeiter sind nun dazu angehalten, suchenden Studierenden ausschließlich evangelische/evangelikale Gemeinden zu empfehlen. Natürlich müssen diese selbst eine persönliche Entscheidung treffen, welcher Gemeinde sie sich anschließen wollen. Vorschriften gibt es hier keine, so dass natürlich auch weiterhin der eine oder andere seine geistliche Heimat in der katholischen Kirche (wieder)findet. Doch die Frage der Kirchenzugehörigkeit ist viel zu wichtig, als dass sie einfach offen gelassen werden könnte.
Die katholische Kirche Litauens ist zwar recht konservativ geprägt, also keinesfalls mit der in Deutschland oder den Niederlanden zu vergleichen. Doch sie hat schon nicht wenige Reformen durchgeführt und z.B. die Priesterausbildung erneuert. Inzwischen gibt es nicht wenige Bischöfe zwischen 40 und Anfang 50, die zudem noch sehr gut ausgebildet sind. Auch die Arbeit an den Universitäten wurde systematisch angegangen. Katholische Hochschulkapläne gibt es nun an so gut wie jeder Universität. Auf die ‘evangelikale’ Weise arbeiten bisher aber nur „Agape“ („Campus für Christus“, Cru, in Litauen) und LKSB. Wenn nun aber die „Focus Missionaries“ ihr Arbeitsfeld auch nach Litauen ausdehnen sollten, müssten sich die genannten Organisationen warm anziehen. Ihre bisherige Alleinstellung im Arbeitsstil wäre mit einem Mal dahin. Sicher kann man es nur begrüßen, wenn möglichst viele Missionare im Land wirken, die „Studenten [helfen] Jesus Christus kennenzulernen“. Aber die „Focus“-Mitarbeiter tun ja bewusst noch mehr: sie helfen Studenten, sich in der katholischen Kirche zu verwurzeln. Und dies können Protestanten als Ziel nicht mehr mittragen und unterstützen.
„Wir verstehen ‘evangelisch’ nicht konfessionell…“
Evangelikale Leiter aus Spanien, Italien oder Polen, aus Ländern mit starker, ja dominierender katholischer Mehrheit wissen oft um die Wichtigkeit des Themas Kirche. Sie sind meist alles andere als blauäugig, was die missionarischen Aktivitäten Roms angeht. In Deutschland begegneten sich Evangelische und Katholiken über Jahrhunderte auf Augenhöhe, weshalb man dort deutlich weniger sensibel für die Achillesverse der Evangelikalen, der Frage nach der Kirche, ist.
In der jüngsten Ausgabe von „EiNS“ (2/2019), dem Magazin der Deutschen Evangelischen Allianz, berichtet der Erste Vorsitzende der Allianz Ekkehart Vetter in der Rubrik „Was die Allianzvorsitzenden bewegt“ von seiner privaten Audienz beim Papst in Rom im Frühjahr des Jahres. Er zitiert in seinem Beitrag aus einem Brief an Franziskus, den er dem Papst bei der Gelegenheit überreicht hat: „Wir verstehen ‘evangelisch’ nicht konfessionell, sondern betonen das Evangelium als Zentrum unseres Glaubens und unserer Arbeit. So sind wir froh, dass in unserem Netzwerk in Deutschland auch vermehrt katholische Schwestern und Brüder mitwirken.“ Vetter nennt außerdem fünf Ziele bzw. Arbeitsschwerpunkte der Deutschen Allianz: „wachsende Einheit der Christen“, die Wichtigkeit des Gebets, die Rolle Bibel in einer säkularen Welt, Mission und Evangelisation, gesellschaftliche Verantwortung der Christen.
Liest der Papst diese Zeilen (und gleiches gilt sicher auch für die Mitarbeiter von „Focus Missionaries“), wird er sich sicher denken: Wunderbar! Genau das sind auch unsere Ziele. Das Evangelium ist auch Zentrum unseres Glaubens und unserer Arbeit. Und wir verstehen ‘evangelisch’ genauso wie ihr – nicht konfessionell.
Vetter hätte besser dies geschrieben: „Wir verstehen ‘evangelisch’ nicht nur konfessionell“. Das eine Wort macht den Unterschied. Denn gewiss gibt es ein auch ein nichtkonfessionelles Verständnis des Wortes. Niemand bestreitet das. Katholiken müssen allein diese Bedeutung im Blick haben.
Anders sieht das bei den Evangelischen aus. Seit dem 16. Jahrhundert hat „evangelisch“ zwei Seiten: die allgemeine, neutrale, konfessionsübergreifende, aber eben auch die konfessionelle Seite – das, was die Evangelischen, die Nichtkatholiken, eint und ausmacht. Ab etwa 1600 setzte sich „evangelisch“ als der die nicht zu Rom gehörenden Kirchen einende Begriff immer mehr durch. Bis heute hat sich darin nichts geändert, und so tragen viele Kirchen das Wort „evangelisch“ immer noch im Namen. Und das ist sehr gut so. Daher ist es natürlich auch konfessionell zu verstehen, denn diese Kirchen bekennen ihren evangelischen Glauben. Folgt man hingegen Vetter, bleibt in der Konsequenz völlig unklar, was denn evangelische Kirche im Unterschied zu Rom ausmacht.
Vetter freut sich über die Mitarbeit von katholischen Geschwistern in der Allianz. Auch in den evangelikalen Studentengruppen gibt es Katholiken, die sich in ihnen einbringen. Allianzen und Studentenmissionen sind eben keine Kirchen. Umso klarer muss den Verantwortlichen in diesen evangelischen Werken und Organisationen aber sein, was nach evangelischem Verständnis Kirche ist, warum Konfessionalität immer noch wichtig ist und was Rom bis heute von den Protestanten trennt. Andernfalls bleibt kaum noch ein Grund, das katholische Mehr nicht akzeptieren zu wollen.
(Bild o.: Decke der katholischen Kathedrale in Kaunas)