Die Karriere eines Irrtums
Feinde der Wissenschaft
2009 erschien Darwin. Das Abenteuer des Lebens aus der Feder des Journalisten und Autors Jürgen Neffe – pünktlich im großen Darwin-Jahr, das den 200. Geburtstag des Forschers feierte. Der studierte Biologe verfasste auch Biographien über große Denker wie Marx und Einstein. Sein Buch über den Mitbegründer der modernen Evolutionstheorie ist eigentlich ein Reisebericht auf den Spuren der Weltumsegelung Darwins auf der Beagle (1831–36). Zwischen Neffes Eindrücken von den südlichen Ländern finden sich mitunter lange Einschübe mit biografischen Ausführungen sowie aktuelle Bezüge.
In Kapitel 18 geht Neffe ausführlich auf Darwins Beziehung zu Christentum und Kirche ein, behandelt das Thema Religion und Evolution und widmet sich dabei auch der Kritik des Kreationismus. „Kreationisten haben in einem Buch über Darwin eigentlich so wenig verloren wie Astrologen in einer Abhandlung über Astronomie“, so Neffe jedoch streng.
Dennoch will es sich der Autor nicht nehmen lassen, Evolutionsskeptiker heftig abzuwatschen: „Heute zweifelt kein ernst zu nehmender Wissenschafter die Richtigkeit von Darwins Lehre an, ob gläubig oder nicht. Im Gegenteil: die Beweislast der Fossilien ist seit seiner Zeit erdrückend geworden. Evolution lässt sich im Reagenzglas wie im Freiland beobachten, und seit sich in Gen-Analysen der Stammbaum alles Lebendigen immer exakter widerspiegelt, dürfte es zumindest über die Frage der gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen keine Debatte mehr geben. Es sei denn man lehnt den Rationalismus von vornherein ab. Da tun Ultra-Kreationisten, die der Wissenschaft ihre Bibel entgegenstrecken wie dem Teufel das Kreuz. Auf dieser Ebene treten zwei Systeme gegeneinander an, die nicht kompatibel sind. Wer die biblische Sechstagewoche ernst nimmt, wer noch heute mit sechstausend Jahren Erdalter argumentiert oder die Entstehung der Frau aus einer Rippe des Mannes für bare Münze hält, der lehnt im Grunde nicht nur Darwin ab, sondern die ganze wissenschaftliche Methode als Basis moderner Ziviliation.“
Neffe ist zwar Biologe und sollte als Wissenschaftler sachlich bleiben, doch hier schlägt er über die Strenge, so dass die Wahrheit auch schon mal auf der Strecke bleibt: Sicherlich sind Adaptionen und Mutationen zu beobachten, aber keineswegs die Evolution, ist damit doch gemeinhin die Entstehung neuer Arten gemeint. Neffe argumentiert in diesen Sätzen nicht, sondern versucht einzuschüchtern, ja mundtot zu machen.
Auf dem Kieker hat er natürlich auch „Intelligent Design“, das „durch die Hintertür der Wissenschaft als Gegenmodell zur Evolutionstheorie“ aufgebaut werden solle. Die Anhänger dieses Forschungsprogramms streben einen konkurrierenden Ansatz zur vorherrschenden Evolutionstheorie an, so dass als Ziel wenigstens „Theorie gegen Theorie“ steht.
Doch auch dies gefällt Neffe nicht, was schon das Wort „Hintertür“ deutlich macht. Die Evolutionstheorie ist nämlich keine bloße Theorie neben anderen. Sie ist Normalwissenschaft (wie Thomas S. Kuhn sagte), das neue wissenschaftliche Leitparadigma, das keine ernstzunehmenden Konkurrenten mehr hat – und duldet. „Kein Wissenschaftler behauptet, dass die Evolutionstheorie alle Fragen beantworten kann“, so Neffe gönnerhaft. „Jeder Wissenschaftler würde auch unterschreiben, dass Darwins Theorie ‘nur’ eine Theorie ist, die sich widerlegen – falsifizieren – oder durch eine bessere ersetzen ließe. Aber bis heute ist weder der Ansatz einer alternativen Theorie noch die die geringsten Spur eines Gegenbeweises aufgetaucht, auch wenn die Neokreationisten genau das unterstellen“. Die Ansätze alternativer Theorien werden ignoriert, weil ihre Vertreter angeblich einen „pseudeowissenschaftlichen Kreuzzug“ führte, außerdem ging es ihnen vor allem um „Macht und Einfluss“.
„Die vordringlichste Aufgabe der Menschheit“
Die Wissenschaft ist natürlich auf Darwins, auf unserer Seite – so gibt Neffe im ganzen Buch zu verstehen. Fast schon im Ton eines Richards Dawkins unterstellt er den Kreationisten die bösesten Motive. Dummerweise steht der Autor selbst mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß und zeigt an einigen Stellen eine geradezu frappante Unkenntnis wichtiger Sachverhalte und Erkenntnisse. Neffe erweist sich nämlich als unverbesserlicher Anhänger von Thomas Robert Malthus, der zwar ein gute Analytiker war, dessen Prophezeiungen sich jedoch als haltlos erwiesen haben.
In Kapitel 10 des Buches führt Neffe aus: „Im Augenblick verhalten wir Menschen uns auf unserem Planeten noch wie Karnickel auf einer Insel, die sich immer weiter vermehren und ihren Lebensraum kahl fressen. Die Folgen sind bekannt. Kaninchen verenden im massenhaften Hungertod, wenn ihre Ressourcen aufgebraucht sind. Die Konsequenzen für die Menschheit sind die gleichen. Irgendwann werden wir uns nicht mehr alle durchfüttern können. Darwinistisch gesehen werden die (technisch) Tüchtigsten überleben und die Schwächsten unvermeidlich untergehen.“
Und weiter: „Wenn sich die Kindersterblichkeit verringert (was jedermann wünscht) und alle satt zu essen haben sollen (was auch jeder befürwortet), dann muss über kurz oder lang unsere Vermehrung weltweit zum Erliegen kommen und unsere Zahl sogar wieder schrumpfen… Das ist pure, brutale Biologie, der wir nur dadurch begegnen können, dass wir es nicht erst zum Kampf ums Überleben kommen lassen. Die Erde wäre uns für jede Milliarde weniger dankbar. Ob wir das durch Verzicht oder Vernichten erreichen, ist ihr egal… Wie auch immer wir es anstellen: Irgendwann müssen wir die Bevölkerungspyramide der Menschheit in einen Zylinder mit konstanter Menschenzahl verwandeln oder sogar auf den Kopf stellen“. Europa sei dabei „auf dem einzig richtigen Weg“. Der „Pillenknick“ Ende der 60er Jahre könne daher „für eine der wichtigsten Erfindungen in der Menschheitsgeschichte stehen“.
In diesem Duktus fährt Neffe im 14. Kapitel fort: Es drohe „zweihundert Jahre nach Darwins Geburt eine malthusische Hungerkrise ungekannten Ausmaßes. Erstmals werden Nahrungsmittel im globalen Maßstab knapp… Gut möglich, dass die Menschheit diesmal davonkommen und die Produktion noch einmal kräftig steigern kann. Doch mit dem puren Überleben ist das Problem längst nicht gelöst, Das Ziel kann es nicht sein, Milliarden gerade so durchzubringen.“ Es wächst nicht nur die Bevölkerung, die Menschheit produziert ja „auch noch ökonomisches Wachstum und Kaufkraft. Das aber bedeutet…, dass jeder im Schnitt mehr verbraucht. Wenn aber nur die Hälfe der Weltbevölkerung den Wohlstand der untersten Mittelklasse in Europa erreichen soll (was könnten wir dagegen haben?), dann wäre die Erde beim heutigen Stand von Landwirtschaft und Technik schon mit vier Milliarden überbevölkert.“ Neffes Fazit, und hier nennt er wieder den Vater dieser Denke, jenen Thomas Robert Malthus: „Jeder Schritt zu breiterem Wohlstand verschärft die Spannung zwischen Ökonomie und Ökologie und damit die malthusische Krise.“
Im letzten Kapitel bezeichnet Neffe das Ausbreiten der Menschheit als den „größten biologisch-kulturellen Erfolg“. Dieser gefährde nun aber „Weiterleben und Fortschritt. Die Weisung der Bibel – ‘seid fruchtbar und mehret euch’ – ist an ihre biologischen Grenzen gestoßen.“ Immer mehr neugeborene Kinder überleben dank verbesserter Medizin, das Prinzip des Survival of the fittest, so Neffe, wird also zur Seite geschoben. Daher gilt für ihn: Umso „unverzichtbarer wird Geburtenkontrolle“. Er kommt zu folgendem dramatischen Schluss: „Mehr als alles andere hat meine Reise mich in der Ansicht bestärkt, dass ein Ende unseres Wachstums die vordringlichste Aufgabe der Menschheit ist. Sämtlich globalen Krisen… hängen davon ab.“
Das „große Gesetz der Natur“?
Kaum etwas von diesen Sätzen ist wahr. Neffe selbst liefert hier Pseudowissenschaft. Es ist alles ganz anders, und die Beweislast der historischen Fakten ist erdrückend geworden. Wachstum ist und bleibt die vordringlichste Aufgabe der Menschheit, denn nur so kann breiterer Wohlstand geschaffen werden. Neffe spricht es nicht deutlich aus, aber im Grunde gibt er zu verstehen: Ihr in den immer noch ärmeren Ländern strebt gefälligst nicht unseren westlichen Wohlstand an und bleibt ärmer – bis sich die Erde dies leisten kann; außerdem habt ihr eure Bevölkerung in Schach zu halten. Schließlich wollen wir in Europa – und wir sind ja auf dem richtigen Weg! – unseren Wohlstand weiter genießen. Wir haben eben Glück gehabt und dieses Wohlstandniveau dank Fortschritt, Technologie und Wachstum zuerst erreicht. Pech gehabt! Nun ist die Erde aber endgültig zu voll!
Zu diesem puren Zynismus lässt sich Neffe natürlich nicht hinreißen, aber er steckt implizit in seinen Zeilen. Neffe ist dabei so stolz auf den Darwinismus, dass er den fatalen Zusammenhang mit der Theorie des Thomas Robert Malthus verkennt bzw. diese Denkweise übernimmt.
Die Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz (An Essay on the Principle of Population) von 1798 hatte eine große Bedeutung für Darwins Denken. Der anglikanische Pfarrer Malthus war davon überzeugt, dass sich die Bevölkerung immer stärker vermehrt als parallel dazu die Nahrungsmittelproduktion anwächst.
Malthus stellte die These auf, dass die Bevölkerungszahl exponentiell wachse (also nach der Reihe 2, 4, 8, 16 usw.), die Nahrungsmittelproduktion aber nur linear (2, 4, 6, 8, 10 usw.). Das habe zur Folge, dass Nahrungsmittelangebot und -nachfrage sich auseinanderentwickelten. Gleich im ersten Kapitel nennt er dies das „große Gesetz unserer Natur“. Daher wird oder muss sich die Bevölkerung in ihrem Wachstum begrenzen – auf brutale oder zivilisierte Art. In früheren Zeiten haben Hungersnöte, Kriege und Seuchen das Problem der Überbevölkerung ‘gelöst’. Malthus hatte als Christ natürlich moralische Vorbehalte gegen das massenhafte Sterbenlassen von Menschen. Er befürwortete deshalb effektive Hemmnisse in der Bevölkerungsentwicklung. Ein Entkommen aus dieser Situation sah Malthus als unmöglich an.
Es war genau dieses „Naturgesetz“, dass Darwin nach der Lektüre der Abhandlung Ende der 1830er Jahre den Anstoß zur Evolutionstheorie gab. In der Entstehung der Arten meint er daher, ein „Kampf ums Dasein“ müsse stattfinden – mit naturgesetzlicher Notwendigkeit. „Das ist die Lehre von Malthus mit verstärkter Kraft auf das ganze Tier- und Pflanzenreich angewendet“. Ähnlich dann auch in der Abstammung des Menschen: Mensch und Tier seien beherrscht von den „gleichen Gesetzen der Vererbung“, und ganz im Sinne von Malthus beschreibt er dies Gesetz wie folgt: „Der Mensch vermehrt sich in einem stärkeren Maß als seine Existenzmittel; infolgedessen ist er gelegentlich einem harten Kampf um die Existenz ausgesetzt…“
Malthus hat seine Umwelt gut beobachtet und die Zusammenhänge der Vergangenheit und noch seiner Gegenwart treffend beschrieben. Die Bedingungen unserer Existenz sah er im richtigen Licht, denn das vorindustrielle Wirtschaften konnte seine Theorie recht gut erklären. Aber er unterschätzte, zu welchen Leistungen der Mensch fähig ist; er unterschätzte die Dynamik, die das Zusammenwirken von Knappheit und Kreativität auslösen kann. Dies beeinträchtigte seinen Blick in die Zukunft.
Jenseits seiner Vorstellungskraft lag die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts, die vor allem in der Landwirtschaft die Produktivität erheblich erhöhte. Neue Technologien ließen die Weltwirtschaft seit 1800 um das sage und schreibe 70-fache wachsen, die Erdbevölkerung hingegen hat sich im selben Zeitraum ‘nur’ versiebenfacht. Dies war nur möglich, weil die Menschheit der Ressourcenknappheit an kultiviertem Land entgehen konnte. Noch Adam Smith und andere Denker des 18. Jahrhunderts hielten diese für eine unüberwindliche Wachstumsschranke, denn die Menge der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche auf der Erde ist tatsächlich relativ eng begrenzt.
Inzwischen wissen wir, dass die Menschheit in den letzten beiden Jahrhunderten aus der sog. „malthusischen Falle“ durchaus entkommen konnte – vor allem dank Innovationen, technischem Fortschritt und Industrialisierung. Nahrungsmittelproduktion und Bevölkerung wuchsen seitdem parallel in für Malthus völlig unbegreiflichem Ausmaß. Die Knappheit an materiellen Ressourcen bleibt weiter bestehen, doch der entscheidende Ressourcenmangel wurde derjenige an guten und neuen Ideen. Deren Unbegrenztheit sprengte den malthusischen Käfig.
Die Geschichte zeigte somit eindeutig, dass Malthus mit seiner recht pessimistischen Sicht der Zukunft falsch lag und dass es sein „großes Gesetz der Natur“ überhaupt nicht gibt. Der harte Kampf gegeneinander ums Überleben findet gar nicht mit naturgesetzlicher Notwendigkeit statt. Dies sah schon Friedrich Nietzsche: „Der Kampf um’s Dasein ist nur eine Ausnahme“ .Er erkannte auch klar den Zusammenhang zwischen Malthus und Darwin: „Um den ganzen englischen Darwinismus herum haucht etwas wie englische Überbevölkerungs-Stickluft, wie Kleiner-Leute-Geruch von Not und Enge.“ (Die fröhliche Wissenschaft)
Kollektive Panik
Malthus stand um 1800 an einer Epochenwende, wohl sogar an der säkularen Epochenwende der Menschheit. Bis dahin hielt sich alles in der Waage – auf niedrigem Niveau. Die Weltbevölkerung stagnierte für Jahrtausende im Bereich von einigen Hundert Millionen; zu Malthus Lebzeiten überschritt sie die Marke von einer Milliarde. Langsam, ganz langsam ging es voran, aber der einfache deutsche Bauer zu Zeiten Luthers lebte nicht viel besser als der einfache Ägypter zur Zeit der Pharaonen.
Die Industrialisierung änderte alles. Sie führte letztlich aus der malthusischen Falle heraus. Doch wie so viele Journalisten, Politiker, Intellektuelle und Theologen will auch Neffe offensichtlich nicht wahr haben, was sich seit 1800 verändert hat. Kommen wir noch einmal zurück zu seinen Äußerungen über das, was uns angeblich bald droht.
„Irgendwann werden wir uns nicht mehr alle durchfüttern können“, so Neffe in seinem Vergleich mit den Kaninchen. Menschen sind aber keine Kaninchen. Die Menschheit wird noch einige Jahrzehnte wachsen, vor allem in Afrika, das tatsächlich seine Bevölkerung verdoppeln wird und damit vor großen Herausforderungen steht. Doch viele Milliarden werden schon jetzt sehr gut durchgefüttert. Etwa eine Milliarde ist noch mangelernährt, lebensbedrohlich hungern immer noch zu viele, aber wir befinden uns hier im Prozentbereich der Weltbevölkerung. Es ist daher genau anders herum: Irgendwann werden wir so gut wie alle gut durchfüttern können. Und in der Vergangenheit, als nur Hunderte Millionen die Erde bevölkerten, wurde die Masse der Menschen gerade eben so satt (heute würden sie ganz überwiegend unter die Mangelernährten oder Hungernden eingeordnet werden!).
„Die Erde wäre uns für jede Milliarde weniger dankbar.“ Dies klingt eingängig, doch Neffe wäre zu fragen: War die Erde mit einer Milliarde wie zu Malthus Zeiten also viel besser dran? Sollen wir nun etwa einen Rückgang der Weltbevölkerung anstreben? Wo ist aber nun die Grenze anzusetzen, damit die Erde wenigstens halbwegs zufrieden ist? Muss bei sieben endgültig Schluss sein? Oder bei zehn? Oder doch zurück zu vier?
Europa sei dabei „auf dem einzig richtigen Weg“. Die Weltbevölkerung wird noch in diesem Jahrhundert ihre Wachstumskurve deutlich abflachen, wahrscheinlich kommt es sowieso zu dem von Neffe ersehnten Zylinder, also weg von der Pyramide. Doch Europas Geburtenzahlen sind schon eine Weile schlecht, sehr schlecht; einzig Zuwanderung lässt Europa nicht heute schon deutlich schrumpfen. Soll das etwa der richtige Weg sein? Sei es zu begrüßen, dass eine Frau im Schnitt deutlich unter 2,1 Geburten bleibt, so dass ein Erhalt der Bevölkerung nicht mehr stattfindet?
Neffe setzt noch einen drauf: Der „Pillenknick“ Ende der 60er Jahre könne daher „für eine der wichtigsten Erfindungen in der Menschheitsgeschichte stehen“. Nein, die Pille ist natürlich nicht diese Erfindung. Menschen sind keine Kaninchen, die sich ganz unbegrenzt vermehren; schon Malthus unterstellte unserer Rasse einen geradezu nicht kontrollierbaren Vermehrungsdrang. Menschen sind jedoch intelligent genug, dass sie ihre Familiengröße planen können, und sie tun dies meist auch – mit oder ohne Pille. Auf der Linie von Neffes Denkweise liegt dann ein noch viel zynischerer Gedanke: die Erde müsste den Staaten dankbar sein (hier ist gerade an die kommunistischen Länder zu denken), die im 20. Jahrhundert Hunderte Millionen Abtreibungen als notwendige Schrumpfungsmaßnahme haben durchführen lassen.
„Erstmals werden Nahrungsmittel im globalen Maßstab knapp“, so Neffe. „Gut möglich, dass die Menschheit diesmal davonkommen und die Produktion noch einmal kräftig steigern kann. Doch mit dem puren Überleben ist das Problem längst nicht gelöst, Das Ziel kann es nicht sein, Milliarden gerade so durchzubringen.“ Nahrungsmittel waren schon immer knapp und werden es natürlich bleiben. Dank globalem Handel können wir nun tatsächlich vom globalen Maßstab reden. Verhungerten früher Millionen in Indien oder China, bekam in Europa niemand etwas davon mit. Über Jahrtausende sind viele Menschen in vielen Ländern massenhaft den Hungertod gestorben; der Hunger war der ständige Begleiter oder die ständige Bedrohung der allermeisten lebenden Menschen. „Die Menschheit“ hat in der Vergangenheit gerade so überlebt und hat sich erst seit 1800 vom Niveau des „puren Überlebens“ zu einem bisher nicht gesehenen Wohlstand emporgehoben. Auch in China, Vietnam, Kambodscha, Brasilien und Kolumbien – um nur einige zu nennen – wird die Masse der Einwohner nicht „gerade so“ durchgebracht. Der Hunger ist erstmals in der Menschheitsgeschichte aus vielen Ländern ganz verschwunden, und das nicht nur aus Europa.
Neffe hofft, dass die Produktion von Nahrungsmitteln noch einmal kräftig gesteigert werden kann. Ja, das ist zu hoffen und wird sicher auch passieren. Die letzten zweihundert Jahre geben genug Anlass zu dieser Erwartung. Allerdings meint Neffe daneben, dass „ein Ende unseres Wachstums die vordringlichste Aufgabe“ sei. Dies halte ich nun für völlig falsch. Wie soll das gehen – kräftige Steigerung der Nahrungsmittelproduktion und wirtschaftlicher Stillstand oder gar Schrumpfung? Wie, um alles in der Welt? Sollen wir nun etwa alle in kollektive Panik verfallen wie sich Greta Thunberg das ja wünscht? Politiker, macht endlich was, erlöst uns endlich!? Dies wird die Probleme jedoch bestimmt nicht lösen. Gute, neue Ideen braucht das Land, die Welt, und diese werden in vielen Fällen zu neuen Technologien und Produktionsweisen und damit auch zu Wachstum führen. Dieses Wachstum wird auch die Ressourcennutzung verändern.
Hat Thanos recht?
Darwin übernahm den Begriff des Kampfes ums Dasein („struggle for existence“) von Malthus, er wurde zu einem Eckstein in der Evolutionstheorie. In einem ganz allgemeinen Sinn kämpft jeder Mensch täglich ums Überleben, ringt um sein Dasein, denn wir müssen arbeiten, essen usw., um nicht zu sterben. Aber dies ist nicht, was Malthus und Darwin meinten. Sie glaubten, dass das „tödlichste Ringen“ (Darwin, Notebook E, 1839) zwischen ganzen Menschengruppen stattfinden muss.
Malthus Vorhersagen erwiesen sich allerdings als falsch. Das tödlichste Ringen ist nicht notwendig. Durch Austausch, Handel und weltweite Kooperation hat es die Menschheit zu nie gesehenem Wohlstand gebracht und unglaubliches Bevölkerungswachstum erlebt. Malthus müsste also als allgemein widerlegt gelten, doch Neffes Beispiel zeigt nur zu deutlich, wie groß sein Einfluss auf Denker im 19. und 20. Jahrhundert war und bis heute ist. Malthus Irrtum machte eine phantastische Karriere, und all der Hype um die „Fridays for Future“-Demos kann wohl nur als ein Festhalten am malthusischen Rahmen erklärt werden.
Die demonstrierenden Schüler sollten sich „Avengers: Infinity War“ ansehen, den dritten Film aus der „Avengers“-Reihe (Ende April startete in Deutschland Teil 4: „Avengers: Endgame“). „Das Universum ist begrenzt, seine Ressourcen sind begrenzt; wenn das Leben unkontrolliert gelassen wird, wird das Leben aufhören zu existieren“. Dies sagt im Film Thanos, der Bösewicht. Er versucht, die halbe Bevölkerung des Universums mit Hilfe der sechs Infinity-Steine auszulöschen, um das Universum ins Gleichgewicht zu bringen und vor Überbevölkerung zu schützen. Sollte er alle sechs Steine in seinen Handschuh einsetzen können, bräuchte Thanos nur mit den Fingern zu schnipsen, und sein Plan würde Realität werden. Dem Universum muss geholfen werden, „und ich bin der einzige, der dies weiß. Oder zumindest bin ich der einzige mit dem Willen zu handeln“, so Thanos. Er ist nicht nur böse, er hat auch unrecht. Und Anhänger dieser falschen Idee gibt es immer noch genug.