Inkarnatorische Mission?
Die Fleischwerdung ernster nehmen
Heute ist oft zu lesen und zu hören, dass christliche Mission der Inkarnation Jesu gleichen müsse. Wie der Sohn Gottes in seiner Menschwerdung sich der menschlichen Lebensform anpasste, so sollten sich heute Christen in die Lebenswelt der Mitmenschen hineinbegeben und unter ihnen dienen. Die Gemeinde solle nach dem Vorbild Jesu Christi inkarnatorisch leben, sich in ihrem konkreten Lebenskontext an die Menschen anpassen. Ein „inkarnatorischer Lebensstil“ sei entscheidend, um die Welt nachhaltig mit dem Evangelium zu erreichen.
So fordert Alan Hirsch in Vergessene Wege: die Wiederentdeckung der missionalen Kraft der Kirche, man solle ganz in eine Kultur und das Leben einer Zielgruppe eintauchen. Der missional-inkarnatorische Impuls folge direkt aus der Mission Gottes (missio Dei) und der Inkarnation Jesu. Hirsch behauptet direkt, dass die Inkarnation auch unseren Lebensstil kennzeichnen muss. Wenn die Inkarnation Gottes Weg war, die gefallene Menschheit zu erreichen, dann müsse dies auch unser Weg in der Mission sein. Dies bedeute „echte Identifizierung und Nähe“, mindestens aber das Wohnen in der Nähe, daher womöglich ein Umziehen. Die Inkarnation habe die Art und Weise zu prägen, wie wir der komplexen multikulturellen Welt um uns herum begegnen. Hirsch nennt das Beispiel von Christen, die freiwillig unterhalb der Armutsgrenze leben.
Ähnlich äußert sich auch Roland Hardmeier in Kirche ist Mission. Auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Missionsverständnis. „Mit dem Attribut ‘inkarnatorisch’ ist ein Missionsverständnis gemeint, das sich am Leben und am Dienst Jesu orientiert“, so der Autor. Weiter erläutert er: „Die Inkarnation zeigt an, wie missionarisches Handeln zu geschehen hat: So wie Jesus sich in seiner Menschwerdung erniedrigte und sich mit den Menschen und ihren Nöten identifizierte, so muss Mission hingebungsvoller Dienst an den Menschen sein.“ Mission hat seinen Preis: „So wie die unweigerliche Konsequenz der Mission Jesu das Leiden und der Tod waren, so ist der Preis für wahre Mission und wahre Nachfolge das Leiden.“
Hardmeier bezieht sich auf den evangelikalen Theologen Samuel Escobar aus Südamerika, der meinte, die inkarnatorische Mission biete die Chance, „zu einem biblischen Verständnis von Mission zurückzukehren.“ Außerdem könne Mission „im nachkolonialen Zeitalter gar nicht anders als inkarnatorisch sein“. Escobar forderte den „Abschied von einer imperialistischen Mentalität in der Mission“. Nach den Evangelisationskongressen in Lausanne (1974) und Manila (1989) werde Mission nun „umfassender“ definiert „als nur von Mt 28 [dem Missionsbefehl] her.“ Dank der Betonung der Menschwerdung Jesu sei „die evangelikale Mission menschlicher geworden“.
„Im Westen begegnet man der inkarnatorischen Missionsbegründung durch Joh 17,18 und 20,21 mit kritischem Augenmaß“, so Hardmeier. Im Hinblick auf Joh 20,21 („Wie mich der Vater gesendet hat, sende ich euch“) schreibt er, dass „den Jüngern inkarnatorisches Handeln geboten“ sei. Weiter: „Mission als Inkarnation hat einen starken biblischen Rückhalt. Sie ist ein weithin unbestrittener Teil der evangelikalen Mission und hat in der Praxis ihre Gebundenheit an die Heilige Schrift bewiesen. Es kann ohne Einschränkung gesagt werden, dass sich die weltweite Bewegung nicht von einem biblischen Missionsverständnis entfernt hat, als sie sich zur Mission als Inkarnation bekannte. Im Gegenteil: Die evangelikale Mission ist dadurch ganzheitlicher und biblischer geworden und konnte ihre Relevanz in einer Welt des Leidens steigern.“
„Jesus kam, um zu dienen“
Einer der Väter des Gedankens der Mission als Inkarnation war John Stott (1921–2011). Auf dem erwähnten Kongress in Lausanne sprach er zu „The Biblical Basis of Evangelism“; die Inhalte des Vortrags fanden sich später wieder in Gesandt wie Christus: Grundfragen christlicher Mission und Evangelisation. Der anglikanische Theologe schreibt darin, dass der Missionsbefehl „sowohl soziale wie evangelistische Verantwortung in sich schließt“. In Stotts Augen ist „die entscheidende uns überlieferte Formulierung des Missionsbefehls“ die johanneische: „Wie mich der Vater gesandt hat, sende ich euch“ (Joh 20,21). Diese wird jedoch „am häufigsten unterschlagen, weil sie am meisten von uns fordert“.
„Jesus kam, um zu dienen.“ Und daher ist unsere Mission, „genau wie die seine, eine Mission des Dienstes.“ Stott weiter: „Um zu dienen, wurde er in die Welt gesandt… Er nahm unser Menschsein auf sich, unser Fleisch und Blut, unsere Kultur. Er wurde einer der unseren und teilte unsere Gebrechlichkeit, unsere Leiden und Versuchungen mit uns…. Und nun sendet er uns ‘in die Welt’, damit wir uns mit anderen identifizieren, wie er sich mit uns identifiziert hat, ohne dass wir freilich unsere christliche Identität aufgeben. Er sendet uns, auf dass wir in gleicher Weise verletzlich werden, wie er verletzlich war. Es ist mit Sicherheit einer der bezeichnendsten Fehler, nicht zuletzt von uns Evangelikalen, dass wir dieses Prinzip der Fleischwerdung so selten ernst zu nehmen scheinen.“
Auf dieser Linie führte Stott auch in Christsein in den Brennpunkten unserer Zeit… Bd. 1 (engl. Issues Facing Christians Today) zu Joh 20,21 aus: „Wenn nun unser Missionsauftrag als Christen der Sendung Christi gleichen soll, dann bedeutet er für uns, was er auch für ihn bedeutet hat, nämlich in das Leben anderer Menschen einzutreten und daran teilzunehmen. Für die Evangelisation bedeutet das, sich in die Gedankenwelt anderer einfühlen zu können, die Tragödie und Verlorenheit ihres Daseins zu begreifen, damit wir Christus mit ihnen teilen können. Für unser soziales Engagement heißt es die Bereitschaft, auf die Bequemlichkeit und Sicherheit unseres eigenen kulturellen Hintergrundes oder unserer Stellung zu verzichten, um Menschen anderer Kulturen dienen zu können… Der Missionsauftrag der Fleischwerdung zwingt uns sowohl im evangelistischen als auch im sozialen Bereich, unter Verzicht auf eigene Interessen zu einer Identifikation mit anderen in ihrer individuellen Situation.“
Auch zu Beginn von Kapitel 21 in Christen auf dem Weg ins nächste Jahrtausend (engl. The Contemporary Christian) betont Stott die Inkarnation als das Modell der Mission. Die Inkarnation Christi fordere „die totale Identifikation der Liebe“; „alle authentische Mission ist inkarnatorische Mission. Sie fordert Identifikation ohne Verlust der Identität.“
Dieser Ansatz fand auch im Manila-Manifest von 1989 Niederschlag: „Wahre Mission muss immer ‘inkarnatorisch’ sein. Darum müssen wir demütig Zugang suchen zu der Welt anderer Menschen, indem wir uns mit ihrer sozialen Wirklichkeit identifizieren, mit ihrer Trauer und ihrem Leid, mit ihrem Ringen um Gerechtigkeit gegen Unterdrückungsmächte. Dies kann nicht ohne persönliche Opfer geschehen.“ (II,A,4)
Jesu einzigartige Sendung
Was ist von dem inkarnatorischen Ansatz zu halten? Beginnen wir Eckhard Schnabel, der mit Urchristliche Mission einen beeindruckenden zweibändigen Wälzer zur apostolischen Missionspraxis vorgelegt hat (in deutscher und englischer Sprache erhältlich). Er hält „inkarnatorisch“ nicht für einen hilfreichen Begriff, um authentische christliche Missionspraxis zu beschreiben. „Das Geschehen des Kommens Jesu in die Welt ist so einzigartig und unwiederholbar, dass man sich andere Vokabeln einfallen lassen sollte, um das zum Beispiel von Paulus in 1 Kor 9,19–23 beschriebene Verhalten auf den ‘Begriff’ zu bringen. Der johanneische Missionsbefehl (Joh 20,21) fordert von den Jüngern Jesu keine ‘Inkarnation’, sondern Gehorsam, rückhaltloses Engagement, Wirken im Auftrag Gottes in der Kraft des Geistes. Gerade Johannes beschreibt die Mission Jesu als eine einzigartige Sendung… Für Johannes ist nicht die Art des Kommens Jesu in die Welt, die Inkarnation, ‘Modell’, d.h. nachahmenswertes Beispiel für das Verhalten von Christen, sondern das Wesen der Beziehung Jesu zum Vater, der ihn in die Welt gesandt hat, d.h. sein Gehorsam und seine Abhängigkeit von ihm… In Phil 2,5–11 ist es nicht die Inkarnation Jesu, die als Modell dient, sondern die konsequente Demut Jesu. Die Begriffe ‘Kontextualisierung’ oder ‘Inkulturation’ sind sicherlich hilfreicher.“ (S. 1512) Dummerweise wird aber nun Kontextualisierung gerne mit Inkarnation gleichgesetzt, beides meine „zu den Menschen gehen, ihr Leben teilen“.
Auf die Philipperverse geht auch der „Tübinger Aufruf zur Erneuerung eines biblisch-heilsgeschichtlichen Missionsverständnisses“ ein. Der Christushymnus in 2, 5-11 scheint das inkarnatorische Missionsverständnis zu unterstützen, doch es wird übersehen, „dass der Höhepunkt dieses Dienstes im Sühnetod von Christus am Kreuz bestand und aus Gehorsam gegen Gott geschah. Dieser hat deswegen seinen Sohn zu seiner Rechten erhöht und zum Herrn aller derer gemacht, die im Himmel und auf der Erde sind. Von dort übt Christus jetzt seine Gnadenherrschaft aus. Seine Vorbildfunktion hingegen konzentriert sich im Neuen Testament wesentlich auf seinen Leidens- und Sterbensweg (Mt 16, 24; Mt 20,28; Joh 13,13-15; 1Petr 2, 21-24). Mit seiner Erhöhung ist jedoch ein neues Datum der Heilsgeschichte gegeben, das einer ‘Imitatio (Nachfolge) Christi’ eine Schranke setzt. Es ist im Sinne des biblisch-reformatorischen Heilsverständnisses nicht erlaubt, aus dem ‘Christus für uns’ ein ‘Wir wie Christus’ zu machen; denn damit würde das Evangelium in ein neues Gesetz verwandelt.“
Erhard Berneburg sieht in Das Verhältnis von Verkündigung und sozialer Aktion in der evangelikalen Missionstheorie Stärken, aber auch Schwächen in der christologischen Missionsbegründung Stotts. „Durch die unmittelbare Analogiebildung des Kreuzestodes Christi auf die leidensbereite Mission seiner Nachfolger droht das einzigartige Heilsgeschehen von Golgatha anthropologisch interpretiert und ethisiert zu werden.“ Er betont, dass der Tod Christi „zuallererst Grundlage des Heils und deshalb Inhalt des missionarischen Zeugnisses“ ist.
Die „Funktionalisierung der Inkarnation Christi“ als „formale Analogie für das missionarische Handeln der Christen“ habe noch nachhaltiger gewirkt. „Nach Stott ist die Sendung der Kirche als Menschwerdung, als Identifikation mit der Welt zu verstehen – ohne dabei die christliche Identität aufzugeben.“ Für Berneburg liegt das eigentliche Problem des inkarnatorischen Ansatzes „in der Funktionalisierung der biblischen Inkarnationslehre zu einem Integrationsmodell für evangelistisches und ethisches Handeln. Gegenüber einer solchen Funktionalisierung der Inkarnation muß die Einzigartigkeit des Mysteriums der Menschenwerdung Gottes in Christus betont werden. Die Inkarnation bedeutet ebenso wenig eine Vermenschlichung Gottes wie eine Vergöttlichung des Menschen, sondern ist das freie, grundlose, ewige Erbarmen Gottes, das in der Selbstunterwerfung unter den Todesfluch am Kreuz zum stellvertretenden Heil für den Sünder wird. Eine direkte Imitation oder Analogie zur Menschwerdung des Christus durch die Kirche verbietet sich. Das biblische Zeugnis stellt den erlösenden Charakter der Inkanation eindeutig in den Vordergrund… Allenfalls in einem abgeleiteten Sinn kann man aus der Inkarnation Schlüsse für die Sendung der Kirche ziehen…“
Berneburg hält fest, „dass es ein wesentlicher Fortschritt für die evangelikale Missionstheologie war, die missionarische Verantwortung im Wesen Gottes und in der Sendung seines Sohnes zu begründen. Es müssen aber Bedenken angemeldet werden, die Mission der Kirche in Analogie aus der Menschwerdung Christi abzuleiten.“ Wird der Inkarnation Christi als Modell gefolgt, so droht der Verlust der „christologisch-soteriologischen Orientierung“ der Mission. Hardmeier geht auf diese deutlichen Aussagen Berneburgs ein, aber ich kann nicht erkennen, dass er diese Kritik widerlegt hätte.
„The Incarnation is about a person, not a mission“
Auch englischsprachige Autoren haben zum Thema ausführlich Stellung genommen wie David J. Hesselgrave in Paradigms in Conflict: 10 Key Questions in Christian Missions Today, dort in Kapitel 5, wo er „Incarnationalism and Representationalism“ unterscheidet. Auf dieser Linie argumentieren auch Kevin DeYoung und Greg Gilbert in What is the Mission of the Church?: „Wir sind nicht neue Inkarnationen Christi, sondern Repräsentanten, die in seinem Namen das Leben anbieten, das Evangelium verkünden und die andere inständig bitten, sich mit Gott versöhnen zu lassen (2 Kor 5,20).“
Stott betont den johanneischen Missionsbefehl, doch ausgerechnet ein versierter Neutestamentler wie Andreas J. Köstenberger schreibt in The Missions of Jesus and the Disciples According to the Fourth Gospel: „Die Mission der Jünger als ‘Dienst an der Menschheit’ nach dem Modell der Mission Jesu zu bezeichnen, ist tatsächlich – anders als Stott behauptet – mit der Lehre des vierten Evangelium über Mission unvereinbar. Auch wenn die heutige Missionspraxis oft durch einen Schwerpunkt auf Dienst am Menschen und Orientierung an den menschlichen Bedürfnissen gekennzeichnet ist, ist dies nicht das primäre Ziel der Mission Jesu oder der Jünger im vierten Evangelium.“ Als Modell der Mission der Jünger wird, so Köstenberger, in Johannes nicht die Art und Weise des Kommens Jesu in die Welt gesehen (die Inkarnation), sondern „die Natur der Beziehung Jesu zu dem, der ihn gesandt hat“, also eine Beziehung des Gehorsams und der völligen Abhängigkeit.
Eine gute kurze Kritik am inkarnatorischen Missionsansatz hat Tim Chester mit „Why I don’t believe in incarnational mission“ formuliert. Zu empfehlen ist auch John Starkes „The Incarnation is about a person, not a mission“. Schließlich ist noch J. Todd Billings zu nennen. In „Christianity Today“ (July/August 2012) findet sich ein ausführlicher Beitrag zum Thema.
Billings gibt darin die Gedanken eines Kapitels seines Buches Union with Christ wieder. In dem sehr zu empfehlenden Werk des reformierten Theologen findet sich in Kap. 5 eine „konstruktive Kritik des inkarnatorischen Missionsansatzes“. Tatsächlich formuliert Billings seine kritischen Bemerkungen sehr ausgewogen. Er geht ebenfalls auf Phil 2,1–11 ein, dies sogar sehr ausführlich, und stellt eine Alternative zum Vorbild der Inkarnation vor: die Teilhabe an oder die Einheit mit Christus.
Billings kritisiert klar die Grundannahme des inkarnatorischen Modells, dass Jesu Menschwerdung ein direktes Vorbild für den Dienst und die Mission der Christen sei. Wie andere Kritiker hält er die Inkarnation Jesu für einzigartig und unwiederholbar. Die Missionspraxis selbst bestätige dies: oft genug scheitern Missionare an dem Ziel, wirklich „eins“ mit einem Volk oder einer Gruppe von Menschen zu werden, die es zu missionieren gilt. Außerdem sieht Billings die Gefahr, dass die eigene Präsenz von Christen im inkarnatorischen Modell an sich schon als erlösend angesehen wird.
Billings analysiert kurz einige der Bücher, die das inkarnatorische Modell vertreten, darunter das oben genannte von Hirsch. Er bekräftigt viele der praktischen Dinge, die dort und anderswo vertreten und empfohlen werden. Nur glaubt er nicht, dass sie, wie behauptet, immer aus der Inkarnation ableitbar sind.
Kulturelle Mischwesen
Vieles von dem, was die Vertreter des inkarnatorischen Modells fordern, ist gut und richtig. Das Eintauchen in andere Kulturen ist tatsächlich gefordert. Sich mit den Nöten der Menschen identifizieren, ihnen nahe kommen und dienen – sicher geht es darum. Aber wie die genannten Kritiker würde auch ich dafür plädieren, lieber andere Begriffe zu verwenden wie Kontextualisierung und Inkulturisierung und diese nicht mit der Inkarnation gleichsam zu überhöhen.
Ich denke, dass man als Christ auch von Inkarnation in gewisser Weise etwas lernen kann, aber dies bedeutet eben nicht, dass wir selbst zur Inkarnation berufen sind. Mir scheint, dass die Menschwerdung als direkte Analogie für die Mission der Christen an einem Kernelement der Inkarnation selbst scheitert: der Sohn Gottes wurde ganz Mensch und ganz Gott, beides zu einhundert Prozent. Jesus war eben kein Mischwesen, teils Gott, teils Mensch.
Ist diese Inkarnation wirklich das Ideal, muss menschliche Mission daran scheitern. Denn wir können als Menschen solch einem Ideal schlicht und einfach nicht folgen, d.h. es als ein Gebot befolgen. So kann und soll ich als Missionar die Sprache eines Gastlandes lernen, mich an kulturelle Gewohnheiten in Teilen anpassen und den Menschen im Gastland näher kommen, doch dies wird nie zu einhundert Prozent gelingen – und braucht es auch gar nicht.
Man betrachte in dieser Hinsicht nur noch einmal ein Zitat von Stott (s.o.): „Der Missionsauftrag der Fleischwerdung zwingt uns sowohl im evangelistischen als auch im sozialen Bereich, unter Verzicht auf eigene Interessen zu einer Identifikation mit anderen in ihrer individuellen Situation.“ Ein Missionsauftrag der Fleischwerdung – nimmt man denn diesen Begriff in seinem Wesenskern auf – zwingt dann also ganz auf die eigenen Interessen zu verzichten. Inkarnation bedeutet ja nicht nur am Leben der Menschen teilnehmen – der nichtinkarnierte Gott hatte ja auch schon am Leben der Menschen teil, war ihnen keineswegs fern. Inkarnation heißt eben nicht, sich einer Situation oder einem Zustand anzunähern oder anzupassen, sondern ganz zu werden. Also nicht nur ins Wasser einzutauchen, sondern Wasser zu werden.
So ist es natürlich lobenswert, wenn Christen freiwillig unterhalb der Armutsgrenze leben, um Arme zu erreichen. (Im Übrigen verzichten die allermeisten Missionare auf einen gewissen Wohlstand, auch wenn nur wenige wirklich arm werden.) Doch selbst wenn der Deutsche aus Solidarität im Elendsviertel lebt – wird er schwerkrank, kann man sich sicher sein, dass aller Grundsätze der inkarnatorischen Mission zum Trotz so gut wie alle teuren Segnungen der modernen Medizin in Anspruch genommen werden. Letztlich bleibt jeder Missionar ein kulturelles Mischwesen, und damit ist die Inkarnation als Modell kaum noch brauchbar.
Wir sind nicht Gott und können uns in keiner Weise tatsächlich inkarnieren – und brauchen es auch nicht. Anpassung und Eintauchen kann und darf in unterschiedlichem Maße geschehen. Gehorsam, Demut und Liebe zum Nächsten, Selbstlosigkeit, Selbstverleugnung und Selbstaufgabe, Bereitschaft zum leiden und dienen – all diese Pakete von Werten und Tugenden benötigen als Grundlage keineswegs die Menschwerdung Jesu. – Wahre Mission muss nicht inkarnatorisch sein.