Norwegische Verhältnisse
Im Winter 2015 machte die norwegische Kinderschutzbehörde „Barnevernet“ Schlagzeilen in Litauen (s. auch hier). Im skandinavischen Land arbeiten viele Osteuropäer, und es sind vor allem ihre Kinder, die den Eltern weggenommen und in Pflegefamilien gesteckt werden. Eine betroffene litauische Familie versuchte ihren Sohn Gabrielius in die Heimat zu ‘entführen’, was aber misslang.
Das Image Norwegens ging damals in Litauen den Bach runter. Zwei Jahre später kippte die Stimmung allerdings ins Gegenteil um. In einem Dorf bei Kėdainiai wurde ein Kleinkind vom Lebensgefährten der Mutter schwer misshandelt und starb bald darauf. Das Schicksal von Matukas bewegte das Land kaum weniger als Gabrielius zuvor. Um solche tragischen Fälle in Zukunft zu verhindern, wurde bis zum Sommer 2017 zügig an einem neuen Kinderschutzgesetz gearbeitet – zum Vorbild nahmen sich dabei die Politiker ausgerechnet das norwegische Modell. Das neue Gesetz rauschte ohne Gegenstimme durchs Parlament. Der Boden dafür war lange bereitet, denn zahlreiche litauische Einrichtungen wurden über viele Jahre hinweg mit norwegischen Mitteln gefördert. Die „Barnevernet“-Ideale sickerten auf diese Weise auch in Litauen ein. So träumte die Kinderschutzbeauftragte schon lange von einer gleichsam allmächtigen Behörde des norwegischen Typus. Sie konnte erreichen, dass der Kinderschutz, bisher Sache der Landkreise, in Litauen zentralisiert wurde.
In diesem Jahr trat das neue Gesetz in Kraft. Den litauischen Kinderschützern fehlen zwar manche Befugnisse der Norweger, aber auch sie können nun Kinder bei bloßem Verdacht von Gefahr für deren Gesundheit und Sicherheit ohne großes Federlesen den Eltern wegnehmen. Innerhalb von vier Monaten gerieten Väter und Mütter in rund 8000 Fällen ins Visier; über 800 Kinder wurden in Gewahrsam genommen – nicht selten direkt aus Kita oder Schule heraus. Blaue Flecken, Schrammen am Bein, aber auch Schlafstörungen, nicht verabreichte Medikamente oder einfach „unpassende“ Erziehungsmethoden – irgendetwas macht man sicher falsch, und so geraten Eltern ganz schnell auf den Radar der Kinderschützer. Nun genügt schon ein böswilliger Anruf des Nachbarn, und wenig später stehen sie mit Polizei vor der Tür. Wehe, man verweigert sich der staatlichen „Hilfe“ und besucht nicht Nachhilfekurse für „positive“ Erziehung.
Der Fall einer gläubigen Familie aus Kaunas, denen die Kinder aus fadenscheinigen Gründen für Monate weggenommen worden waren, brachte das Fass zum Überlaufen. In Internetportalen und sozialen Medien schwoll die Empörung über den staatlichen Kindesraub an. Mit Demonstrationen und Petitionen wehren sich nun viele gegen die massiven Eingriffe in elterliche Kompetenz und Freiheit.
Auch manche Parlamentarier denken nun um und haben eine Novelle des Gesetzes im Seimas eingebracht. Sie soll die schlimmsten Auswüchse eindämmen. Seltsam nur, dass die Abgeordneten der Konservativen auf Geheiß der Parteiführung dabei nicht mitmachen dürfen – wo doch gerade eine konservative, christdemokratische Partei der Entmachtung der Familien widerstreben müsste.