Handbuch für Hirten

Handbuch für Hirten

[Der folgende Beitrag ist eine deutliche Erweiterung dieses Textes vom Juli]

Martin Bucer (1491–1551) kann als der dritte große deutsche Reformator neben Luther und Melanchthon bezeichnet werden. Dennoch galt er lange als der am wenigsten bekannte unter ihnen, und das, obwohl sein Einfluss auf die gesamte protestantische Bewegung erstaunlich groß war und dem von Luthers Freund Melanchton gewiss nicht nachstand.

Bucer ist zum Beispiel der Begründer der evangelischen Konfirmation, die aus den Diskussionen mit den Täufern geboren wurde. Ihm ging es immer darum, dass der Glaube persönlich angenommen und bekannt wird und auch den Alltag prägt. Der Akzent auf Seelsorge und Kirchenzucht spiegelt sich ebenfalls in den von Bucer verfassten bzw. geprägten Kirchenordnungen wieder (Straßburg 1534, Ziegenhain und Kassel 1539, Köln 1543). Bucer setzte sich immer intensiv für die Einheit der Evangelischen ein.

In den Jahren 1538 bis 1541 hielt sich Johannes Calvin bei Bucer in Straßburg auf und betreute eine französischsprachige Gemeinde. Calvin lernte bei dem Elsässer die Gemeindepraxis näher kennen und übernahm zahlreiche Elemente der Lehre von der Kirche und ihren Ämtern. Bei seinem anschließenden zweiten Aufenthalt in Genf setzte Calvin viele der Prinzipien Bucers um (man denke hier an die Laienältesten, die Aufgabentrennung von Kirche und Obrigkeit oder auch an den Gemeindegesang, der via Bucer bei den Reformierten Einzug fand).

Bucer kann außerdem als protestantischer Pionier der Pastoraltheologie gelten. 1538 erschien seine deutschsprachige Schrift Von der wahren Seelsorge und dem rechten Hirtendienst (leider liegt heute in moderner Sprache nur die englische Ausgabe Concerning the True Care of Souls vor). Der Reformator verbindet darin eine evangelische Ekklesiologie mit einer ausführlichen Erläuterung der konkreten Aufgaben der Pastoren bzw. Hirten.

Für Seele und Leib

Auch Christen sündigen und irren weiterhin, brauchen daher Korrektur, Lehre und Ermahnung. Sie sind außerdem aufgerufen, sich ihrem Haupt, Christus, immer mehr zu ergeben. Er selbst „herrscht in seiner Kirche, er ernährt sie, er kümmert sich um sie, er führt ihr die umherirrenden Schafe zu, und er wacht über die Schafe, versorgt sie…“, so Bucer. Christus ist König, Herr, Hirte, Lehrer, Arzt der Kirche.

Er regiert, lehrt usw. durch sein Wort, das von Dienern der Kirche verwaltet wird, die seine Werkzeuge oder Instrumente sind. Bucer betont, dass daher niemand für sich selbst und eigenwillig Autorität in der Kirche beanspruchen darf. Gemeindeämter, die es nach der Apostelzeit bis heute noch gibt, sind in seinen Augen Pastoren-Lehrer und diejenigen, die sich um die leiblichen Bedürfnisse der Menschen kümmern, also die Diakone. „Die allgemeine Aufsicht in der Kirche wird zu allen Zeiten von diesen beiden Ämtern ausgeführt: der Dienst der Sorge um die Seelen und der Dienst für die leiblich Bedürftigen.“

Bemerkenswert ist, dass Bucer direkt neben (also nicht unter!) das Amt des Hirten oder Lehrers das des Diakons stellt – die Sorge um den Leib ist dem um die Seele nicht untergeordnet! Auffällig ist außerdem, dass er sogar zuerst das Amt der Diakone erläutert, die sich um das leibliche Wohlergehen der Gemeindemitglieder zu kümmern haben. Er bedauert ausdrücklich, dass dieser Dienst in der Kirche in Vergessenheit geraten war; dies Amt müsse wiedereingeführt werden. Bucer ist überzeugt: Wo das Amt der Seelsorge richtig geordnet und ausgeführt wird, da wird es auch am Dienst für die leiblichen Nöte nicht mangeln. Die Erneuerung des Diakonats in vielen reformierten Kirchen geht tatsächlich vor allem auf Bucer zurück.

Sorge um die Schafe

Anschließend erläutert Bucer die Aufgaben der Hirten: „lehren, ermahnen, warnen, disziplinieren, trösten, verzeihen, versöhnen“. Ihre Tätigkeiten in allen ihren Facetten können als eine Anwendung des „ganzen Wortes Gottes“ bezeichnet werden.

Bucer nennt fünf Hauptaufgaben der Pastoren: Erstens sollen sie diejenigen zu Christus und in die Gemeinschaft mit ihm führen, die von ihm durch falschen Gottesdienst (also die römische Kirche) getrennt oder in „fleischlichen Exzessen“ gefangen sind; gemeint sind also solche, die nicht Christen sind und nie waren. Zweitens sollen all die wieder zurückgebracht werden, die sich aus verschiedenen Gründen von der Kirche entfernt haben. Drittens soll bei denen, die immer in der Kirche geblieben sind, aber in ernster Weise geirrt oder gesündigt haben, „wahre Reformation“ anregt werden. Viertens haben Pastoren die Aufgabe, diejenigen Christen, die im Glauben schwach und krank sind, christlich aufzubauen und zu stärken. Schließlich sind alle Schafe vor Angriffen und Gefahren zu schützen.

Der Hirtendienst stellt sich also als vielfältig dar (s. auch Hes 34,16). Jeweils in Bezug auf die verschiedenen Arten der Schafe (d.h. im Hinblick auf die verschiedenen Bedürfnisse der Christen und auch der Verlorenen) erläutert Bucer in dem Werk ausführlich das unterschiedliche weiden und leiten. Daneben haben sie keine besonderen Aufgaben, was bedeutet, dass die Pastoren für die Schafe da sind; sie sollen sie sammeln, bewahren, nähren usw. Sie sind daher für Menschen da, sollen sich um konkrete Personen kümmern. Dies bedeutet, dass Christen, die sich hervorragend in der Theologie auskennen, aber im Umgang mit Menschen ernste Schwierigkeiten haben, besser keine Pastoren werden sollten. Auch ein Schwerpunkt bei Administration und Verwaltung passt nicht zum Dienst eines Pastors.

Natürlich sind in gewisser Weise alle Christen berufen, sich um Mitmenschen und Geschwister zu kümmern. Dies gilt auch für die Gaben und Dienste in der Kirche: Jeder Christ soll evangelisieren (Mt 28,19), lehren und ermahnen (Hbr 5,12; 3,13) sowie teilen, anderen helfen und Barmherzigkeit zeigen (Eph 4,28; Röm 16,2; Jak 2,13) – jeder Christ ist also ein Stück weit zum Evangelisten, Pastoren-Lehrer und Diakon berufen!

Pastoren, Älteste und Diakone, alle Diener der Kirche, tun gewisse Arbeiten intensiver als die übrigen Christen, so auch Bucer immer wieder. Die Dienste an sich sind aber im Grunde die gleichen. Am Ende des mit Abstand längsten Kapitels über die verwundeten Schafe betont Bucer, dass all das Genannte die Aufgabe aller Christen ist: „Dermaßen sollen nun die schwachen und siechen Schafe Christi gestärkt und getröstet werden, und das von allen Christen. Da Christus in allen seinen Gliedern lebt, will er auch seinen Hirtendienst in allen ausführen.“

Nicht alle können und sollen das Amt des ordinierten oder öffentlich berufenen Hirten, des Pastoren, ausfüllen. Die Seelsorger sind in besonderer Weise dazu berufen und müssen daher besonderen Fleiß an den Tag legen. In der reformiert-presbyterianischen Tradition wird nun aber die pastorale Verantwortung auf alle Älteste ausgedehnt, d.h. auch auf Nichtordinierte. So wird das biblische Prinzip umgesetzt, dass nicht nur eine Person in einer Gemeinde Hirtendienst tut (auch wenn es nur einen ordinierten und bezahlten Pastoren gibt).

Es ergeben sich damit drei Ebenen des pastoralen Dienstes: am intensivsten wirken einige ordinierte (und oft von der Kirche bezahlte) Hirten, Pastoren; ihnen stehen Älteste zur Seite, die im Grunde dieselbe Verantwortung tragen; beide Gruppen handeln im Auftrag der Gemeinde und mit besonderer Autorität. Darunter, auf der Ebene aller Gemeindeglieder, wird in eher persönlicher Art Hirtendienst geleistet.

Zum Hirtenamt gehört viel wie die Gaben zu lehren, zu ermahnen, zu trösten usw. Gefordert sind von den Amtsträgern außerdem „Ansehen, [Gottes]Furcht und ein Vorbild des Lebens“. Sie müssen hohen Ansprüche an Moral, Heiligkeit und Disziplin gerecht werden und darin Vorbilder sein. Die wichtigsten Tugenden sind Liebe zur Wahrheit und zu den Menschen. Die verschiedenen Dienste sollen „dermaßen verrichtet werden, dass alle und jede der Erwählten Besserung erlangen können“. Der Dienst der Hirten muss sich also am Wohl und Wachstum der Schafe orientieren.

Bucer betont daher die sorgfältige Auswahl der Pastoren. Die Ortsgemeinde hat dabei eine wichtige Rolle zu spielen; in jedem Fall ist ihre Zustimmung nötig. Jede Kritik an Kandidaten muss vorgebracht werden können.

Von Ältesten und Pastoren werden dabei nicht andere charakterlichen Qualitäten als wie von jedem Christen gefordert (wie dies bei den Priestern und Mönchen in der römischen Kirche der Fall ist, z.B. Ehelosigkeit). Sie sollen diese Tugenden aber in größerem Maß besitzen. An die Verantwortlichen in der Kirche wird ein strengeres Maß angelegt und mehr Vorbildlichkeit gefordert, als von den anderen Christen.

Mission und Evangelisation

Die Reformation wird in der Regel als eine Epoche angesehen, in der die Kirche von Grund auf erneuert wurde. Mission und Evangelisation verbindet man meist aber nicht mit ihr. Tatsächlich wurde erst ab etwa 1800 deutlich intensiver (Welt-)Mission betrieben, doch schon bei Bucer finden wir eine erstaunliche Betonung des evangelistischen Wirkens der Kirche und ihrer Diener, der Pastoren.

Bucer bedauert z.B., dass man bisher die „Juden und Türken“, die exemplarisch für die nichtchristliche Welt stehen, nicht missioniert hat, vielmehr sie bekriegt und nur nach ihrem Eigentum und Land strebt; deshalb erfährt man nun gleichsam als Strafe Gottes, dass sie die Christen in Europa angreifen und berauben (die Bedrohung durch das Osmanische Reich war ja damals groß).

Der Reformator hält grundsätzlich fest: „Es ist nicht der Wille des Herrn uns die Geheimnisse der Erwählung zu offenbaren [d.h. wer die zum Heil Erwählten im Einzelnen sind]. Vielmehr befiehlt er uns in die Welt zu gehen und das Evangelium aller Kreatur zu predigen. Er sagte in die ganze Welt und zu jeder Kreatur. Die Tatsache, dass alle Menschen von Gott geschaffen sind, sollte genug Grund für uns sein, zu ihnen zu gehen und mit der äußersten Treue danach zu trachten, sie zum ewigen Leben zu führen.“ Menschen werden sich erst dann als wmgl. nichterwählt erweisen, wenn man sie sehr fleißig gesucht, eingeladen und aufgerufen hat, zu Christus zu kommen und sie dann dennoch diesen Ruf abgelehnt haben.

Deutlich stärker als die Mission in fremden Ländern und unter anderen Völkern betont Bucer das Wirken in der eigenen Kultur. Verlorene Schafe sind auch diejenigen, die der Kirche ganz fremd und verloren sind – „mögen sie auch in der Kindheit getauft sein oder nicht“. Er fordert, dass den einst Getauften, die nun aber fern der Kirche sind, intensiv nachgegangen wird. Es die Verantwortung der Hirten, sich um die all die Verlorenen zu kümmern, vor allem natürlich diejenigen, die schon einmal zur Gemeinde gehörten.

Auffallend ist, mit welchem Nachdruck Bucer betont, dass anhaltend und intensiv evangelisiert werden soll. Hirten müssen sich um die einst Getauften kümmern; wenn nicht, können sie selbst kaum vor dem Gericht Gottes bestehen. Das Kapitel schließt er mit einer ausdrücklichen Warnung an die Hirten nach Hes 34,4; sie sind mitverantwortlich, wenn diese verlorenen Schafe nicht zurückgewonnen werden (s. auch Hes 33,8–9).

Bucer betont, dass die Sonntagspredigt hierzu bei weitem nicht ausreicht (sie erreicht die ersten beiden Gruppen in der Regel ja nicht). Nötig sind persönliches Nachgehen, persönliche Anwendung des Wortes Gottes, persönliche Einladung und Ermahnung.

Mission und Evangelisation soll in die Gemeinde hineinführen; und sie ist eine Aufgabe der Kirche, der Ortsgemeinden. Pastoraler Dienst hat eindeutig auch eine evangelistische Dimension, schließlich sollte sich schon der Hirte/Pastor Timotheus auch als Evangelist betätigen (s. 2 Tim 4,5). Heute wird Evangelistion leider nicht selten und weitgehend an christliche Werke und Missionen ausgelagert. Diesem Trend kann man entgegentreten, indem Kirchen und Gemeinden eigene Evangelisten oder Pastoren mit evangelistischem Schwerpunkt beschäftigen. Der reformierte Theologe Henry Krabbendam ist überzeugt, dass jede Gemeinde Diakone, Pastoren-Lehrer und Evangelisten haben sollte.

Sich um die einst Getauften und all diejenigen kümmern, die nicht mehr zu Kirche kommen? Dafür ist nun wahrlich keine Zeit, schließlich habe man ja in der Gemeinde mit den Mitgliedern, die regelmäßig kommen, genug zu tun – so die Antwort vieler Pastoren-kunigai. Der eine oder andere fügt noch ein „wer suchet, der findet“ (d.h. findet uns, die Gemeinde) hinzu. Wie sollen aber verlorene Schafe selbst den Weg zurück finden?? Tatsächlich sind Gemeinden mit diesem Dienst nicht überfordert; überfordert ist allerhöchstens ein einziger Pastor, der für alles zuständig sein soll oder will. Die Hirtentätigkeit ist eben so umfangreich, dass nur ein ganzes Team sie leisten kann (s.u.).

Stärkung der Schwachen und Verzagten

Die Behandlung der dritten Gruppe, der Verwundeten, nimmt den meisten Raum im Buch ein. Es sind diejenigen Schafe gemeint, die in der Gemeinde sind, die aber offen und grob sündigen. Das Missachten und Übertreten von Gottes Geboten schafft also innere Wunden, Probleme, und hinter Problemen stecken meist auch Sünden. Bucer betrachtet also die Verletzten, die Lasten im Herzen mit sich tragen, nicht einfach nur als Opfer (wie dies heute nicht selten geschieht). Er drischt aber auf die seelisch Verwundeten auch nicht bloß ein, moralisiert nicht billig. Hinter seinem Denken steht die Überzeugung, dass vor allem Sünde – ob nun die eigene oder die anderer – zu Not, Unglück, Leid usw. führt.

Typisch protestantisch geht es nun aber in der Gemeinde nicht in erster Linie um Strafe oder Bußleistungen (wie in der römischen Kirche), sondern um Heilung. Aufrichtung oder Wiederherstellung ist das oberste Ziel der Gemeindedisziplin. Damit unterscheidet sich die kirchliche Disziplin deutlich von der Strafjustiz des Staates. Die Kirche kennt vor allem den Ausschluss vom Abendmahl als Sanktion, aber diese hat eben vor allem zurechtbringende, gleichsam pädagogische Funktion. Bucer wie später dann Calvin spricht sich daher klar für eine eigenständige Disziplin der Kirche und nicht nur der Obrigkeit aus (in den lutherischen, aber auch in manchen reformierten Territorien kontrollierte damals die zivile Obrigkeit weitgehend die Strafmaßnahmen in der Kirche).

Gemeindedisziplin ist die Aufgabe der Ältesten und Pastoren. Alle Gemeindeglieder haben eine (zu) gute Meinung über sich, so Bucer nüchtern; von Natur aus lässt sich der Sünder kaum etwas sagen, auch nicht in der Gemeinde. Respekt und Achtung vor denen, die Autorität in der Gemeinde haben, müssen daher eingefordert werden. Diese Personen mit größerer Autorität werden aber nicht einfach von einem Bischof von oben über die Gemeinde gesetzt. Ganz evangelisch betont Bucer, dass die Gemeinde sich ihre Hirten selbst wählt, um dann auf sie zu hören. Mit Nachdruck schreibt er:

„Wir müssen uns ein für allemal entscheiden, ob wir wirklich Christen sein wollen. Wenn wir Christen und des Herrn Schafe sein wollen, müssen wir wirklich auf seine Stimme hören, uns selbst verleugnen und uns ihm hingeben… Wir müssen solche Älteste wählen, wie es vom Herrn verlangt wird, und dann das Werk des Herrn in und durch sie anerkennen und anwenden. Wenn wir dafür nicht mit aller Ernsthaftigkeit beten und uns danach nicht mit ganzem Herzen sehnen, dürfen wir uns nicht mit Stolz wahre Christen nennen.“

Bucer beschäftigt sich ausführlich mit der Stärkung der schwachen Schafe und den   verschiedene Arten und Ursachen der Schwachheit. Alle gehen letztlich, so der Reformator, auf Mangel an Glauben zurück. (Hier formuliert Bucer wieder ganz lutherisch; Luther definierte Sünde vor allem als Unglauben.) Der wahre Glaube wiederum kommt aus dem Wort, und daher gilt: „alle Stärkung der schwachen und verzagten Schafe hängt davon ab, dass das Wort Gottes treu dargelegt wird.“

Daher nennt Bucer es das Wichtigste, dass die Verwundeten „mit allem Fleiß die Versammlungen der Kirche besuchen“ und eifrig auf das Wort Gottes hören. Sie müssen Freunde und Leidenschaft für diese Versammlung entwickeln. Disziplin und Heilung geschieht also im Kontext der Gemeinde, in ihr; und sie ist vom aufbauenden Wort geprägt, nicht so sehr vom Strafhandeln und Bußleistungen wie in Teilen immer noch im Katholizismus.

Die Heilung der verwundeten Schafe ist nicht von der Nährung und dem Schutz der gesunden Schafe zu trennen. Auch dies geschieht vor allem mit dem Wort Gottes. Und auch hier gilt wieder: alle Christen haben an dieser Aufgabe je nach Berufung und Gaben mitzuarbeiten.

Gegen Ende des Werkes betont Bucer wieder mit der Nüchternheit des Gemeindepraktikers, dass das Lernen des Evangeliums  wegen unserer gefallenen Natur durchaus schwierig ist und viel Ausdauer und Fleiß und einen langen Lehrprozess verlangt – vor allem natürlich auf Seiten der Hirten und Lehrer. Sie dürfen sich nicht damit begnügen, öffentlich zu predigen und zu lehren; die persönliche Anwendung und Seelsorge muss hinzukommen; dies sei sogar wesentlich oder entscheidend. Dies erfordert z.B. Hausbesuche, und hier sind die Möglichkeiten eines Amtsträgers naturgemäß begrenzt.

Hirtenteams

Dies führt uns zu einem letzten wichtigen Punkt. Die Aufgaben der Pastoren sind, wie gesagt, sehr vielfältig, und so „mag jeder Christ wohl erkennen, wie auch mancherlei und vornehme Gaben und Geschicklichkeiten – neben dem allerernsten Eifer – zur rechten Leitung des Hirtenamtes erforderlich sind.“ Dies liegt auch daran, dass die Menschen, die gewonnen werden sollen, „nicht von einerlei Art sind“. Es gibt allgemein viele Menschen in der Kirche, und ihre Eigenarten und Schwächen sind vielfältig. All diesen kann ein Hirte der Ortsgemeinde gar nicht gerecht werden, denn er allein besitzt nicht alle nötigen Gaben für alle Menschen: „So gibt der Herr auch einem jeden [der Pastoren] seine eigene Gabe und Werk [Aufgabe] und nicht einem oder zweien alle Gaben; er will vielmehr, dass einer des andere Hilfe bedürfe.“

Bucer hatte sehr gut erkannt, dass nicht jeder Pastor alles gleich gut kann und nicht in der Lage ist, den von der Bibel geforderten Dienst allein abzudecken. Er gibt folgende Beispiele: Der eine kann gut lehren, ist aber weniger geneigt zum Ermahnen; der eine kann warm und ernsthaft zugleich ermahnen, ist aber nicht so stark in der Schriftauslegung; der eine kann den seelisch Verwundeten gute Hilfe leisten, ist aber in der Lehre weniger begabt. Die im pastoralen Dienst Stehenden brauchen also die gegenseitige Hilfe – damit sie wiederum den Gemeindegliedern gut helfen können.

Gerade auf Bucer geht die Erneuerung des Ältestenamts zurück, was Luther noch weitgehend ignoriert hatte. In der Seelsorgeschrift stellt Bucer dar, dass die Ältesten das Hirtenamt und all seine Pflichten ausführen sollen, dass also Hirten, Pastoren, Lehrer, Seelsorger und Älteste im Grunde Ausprägungen oder Namen eines Amtes sind. Mehrfach betont der Reformator, dass Älteste unterschiedliche Gaben haben und auch aus verschiedenen sozialen Schichten kommen und nicht nur Gelehrte und Beredsame berufen werden sollten – schließlich ist ja auch das Gemeindevolk vielfältig.

Dem Reformator zufolge müsse es in jeder Gemeinde eine „beträchtliche Anzahl von Ältesten“ geben, „Älteste, die alle Hirten und Bischöfe sind, d.h. Aufseher, um das Amt der Seelsorge und der Pastoren auszuüben.“ Unter den Ältesten kann einer ausgewählt und beauftragt werden, um den Vorsitz auszuüben, meist eben der Hauptpastor.

Bucer vertritt folglich ein eindeutig plurales Leitungsmodell der Kirche wie es sich dann im Genf Calvins und in den presbyterianischen Kirchen durchgesetzt hat. Er kritisiert, dass „die Bischöfe alle Gewalt in der Kirche an sich gezogen haben“. Wie Gott allein regiert, so solle das nach ihrer Meinung auch der Bischof tun, doch, so Bucer, die Bischöfe erweisen sich als ganz anders als Gott – sündig, begrenzt und fehlerhaft. „Außerdem erfordert die Seelsorge so viel, dass sie auch in kleinen Gemeinden durch einen oder wenige nicht gut verrichtet werden kann.“ Die rechte Seelsorge verlangt so viel, „dass auch die Allergeschicktesten in diesem Dienst allein oder mit nur wenigen nicht viel ausrichten werden. Denn alle Geschicklichkeit und alle Gaben kommen von Gott, der sein Werk in seiner Gemeinde durch viele und nicht durch wenige ausrichten will.“ Sätze, die allen Pastoren heute einen Spiegel vorhalten.

Bucer bezieht sich auf Bibelabschnitte wie Röm 12, 1 Kor 12 und Eph 4 und stellt grundsätzlich fest: „Der Herr will im Kirchendienst eine Gemeinschaft haben und will dazu mancherlei Menschen gebrauchen“; in jeder Gemeinde sind „viele verständige und eifrige Männer“ nötig, um der Sorge um die Seelen der Einzelnen in rechter Weise pflegen zu können. Bucer hält also gar nichts von dem Modell eines Pastors als Einzelkämpfers, dem allein die gesamte Lehre, Wortverkündigung und Seelsorge anvertraut ist und dem alle anderen in der Gemeinde unterstehen. Er plädiert letztlich für pastorale Teams, die sich die Aufgaben des Hirtendienstes untereinander teilen.

Natürlich kann eine Gemeinde einen Pastor anstellen, der vollzeitlich und hauptberuflich seinen Aufgaben nachgeht. Er muss dann aber in ein Team von Ältesten eingebunden sein. So heißt es z.B. sehr gut in der Kirchenverfassung (2010) der Evangelisch-reformierten Kirche Westminster Bekenntnisses in Österreich und der Schweiz: „Die Presbyter [Kirchenältesten] leiten die Gemeinde im Kollektiv und tragen gemeinsam sowohl die organisatorische, als auch die geistliche Verantwortung. Kraft ihres Hirtenamtes sind die Presbyter Seelsorger der Gemeinde. Alle Seelsorge wird gemeinsam verantwortet und im Auftrag des gesamten Presbyteriums durchgeführt.“ (§ 3.1 (3–4), kursiv H.L.)

Auf der Linie Bucers können wir also sagen, dass ein Ein-Mann-Leitungssystem den Absichten Gottes widerspricht. In der Regel kann eine Person alleine nicht alle unterschiedlichen Leitungsbegabungen besitzen und es daher sowohl der Beratung als auch der gegenseitigen Kontrolle und brüderlichen Korrektur bedarf.

Außerdem ist zu bedenken, dass auch ein anfangs begabter, gut ausgebildeter Nachfolger Christi und treuer Hirte der Gemeinde, der über Jahre hinweg die Gemeinde faktisch als einziger Leiter dominiert, nur zu leicht subtil das eigene Selbstverständnis verändert. In sein Denken und Handeln drohen Absolutheit, Selbstherrlichkeit und Unbelehrbarkeit einzuschleichen. Außerdem ist die Gefahr nicht gering, dass der Gemeindeleiter argwöhnisch wird und jegliche ‘Kritik’ in der Gemeinde als Infragestellung oder gar als Angriff auf seine Person und Stellung missinterpretiert. Zunehmend versteht er die Gemeinde als ‘seine’ Gemeinde und sich selbst als ihr Haupt, dem sich alle anderen unterzuordnen hätten. Die Gegen- und Vorsichtsmaßnahme ist im Grunde einfach: echte plurale Leitung.

In Straßburg selbst war Bucer mit seinem Programm der konsequenten Kirchenreform jedoch kein nachhaltiger Erfolg gegönnt. In der Stadt warf ihm die zivile Obrigkeit, obwohl protestantisch, nicht wenige Knüppel zwischen die Beine. Im Jahr 1549 musste der Reformator die Stadt verlassen, da er das Augsburger Interim wegen zu großer Nähe zum Katholizismus nicht mittragen wollte. Auch die Reformation im Erzbistum Köln gelang trotz Bucers intensivem Einsatz nicht. Er ging nach England und gab der dortigen Kirche, die sich von Rom gelöst hatte, in seinen letzten Lebensjahren wichtige Impulse.

Johannes Calvin musste 1538 ebenfalls den Ort seines Wirkens, Genf, verlassen. Für etwa drei Jahre lebte er in Straßburg und lernte viel von seinem fast zwanzig Jahre älteren Mentor Bucer. Was dieser in seinem Seelsorgebuch nur skizziert hatte und in seiner Heimat nur in Teilen verwirklicht wurde, wurde dann in Genf in den Zeiten Calvins (dort wieder ab 1541) und Theodore Bezas (1519–1604) umgesetzt. Calvin wiederum hatte und hat großen Einfluss in der protestantischen Welt. Zu erwähnen sind schließlich auch die Impulse für den späteren Pietismus durch die Bucerschen „christlichen Gemeinschaften“.

Dennoch lohnt es sich, zu Bucer selbst zurückzukehren. Seine Vorstellungen vom pastoralen Dienst erweisen sich immer noch als ungewohnt aktuell. Bleibt nur zu hoffen, dass irgendwann wenigstens Auszüge seiner Werke in moderner deutscher Sprache erscheinen werden (s. aber auch schon hier die wissenschaftliche Ausgabe seiner Werke in dt. Sprache).