Die wahre Aufklärung
Vernunft in dunkler Zeit?
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ So lautet die berühmte Definition der Aufklärung aus der Feder Immanuel Kants. Der Philosoph gab sie in der Dezembernummer der „Berlinischen Monatsschrift“ aus dem Jahr 1784 unter der Überschrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“.
Kant war kein Atheist, doch auch er meinte in dem Text, dass die meisten Menschen „in Religionsdingen“ noch sehr weit davon entfernt seien, sich selbst ihres Verstandes ohne fremde Leitung zu bedienen. Der Kirchenglaube oder das kirchliche Christentum hinkt der Aufklärung zumindest hinterher (s. dazu auch Kants Vom Streit der Facultäten). Philosophen und Autoren in Frankreich gingen darüber hinaus und verwarfen das Christentum nicht nur als zurückgeblieben, sondern in Bausch und Bogen als ein Übel, das den Fortschritt aufhält. Die Früchte sah man bald in der Französischen Revolution.
Interessant ist, dass Kants Artikel „Was ist Aufklärung?“ erst 1784 erschien, also schon gegen Ende der Epoche der Aufklärung. Wie Prof. Daniel von Wachter in „Der Mythos der Aufklärung Teil 1: Eigenlob stinkt“ sehr gut darstellt, ging es vor etwa zweihundertfünfzig Jahren darum, das Christentum als abergläubisch und naiv hinzustellen. „Mit der Ausnahme von Kant… haben die Aufklärer keine ernstzunehmenden Argumente vorgetragen“, so von Wachter. „Der Begriff ‘Aufklärung’ wurde von Gegnern des Christentums erfunden, um den Eindruck zu erwecken, die Christen seien naiv und intolerant, und im 18. Jahrhundert sei dagegen schließlich langsam die Vernunft zur Geltung gebracht worden, was zur Entstehung der Naturwissenschaft, zu Fortschritten in der Philosophie und zur Religions- und Meinungsfreiheit geführt habe. Die sich selbst als ‘Aufklärer’ Bezeichnenden wollten sich als epochemachend stilisieren.“
Natürlich bedienten sich auch die voraufklärerischen Philosophen in intensiver Weise ihres Verstandes, ja vor 1700 war die Philosophie „im Christentum von Höchstform zu Höchstform gegangen“. Von Wachter: „Vergessen sind diese Namen vor allem, weil ‘die Aufklärung’ solche nüchterne, präzise philosophische Arbeit und vor allem Philosophen, welche die christliche Lehre glaubten, analysierten und begründeten, verachtete und vergessen machen wollte.“
Die Aufklärung wurde laut von Wachter weitgehend von „Popularphilosophen“ getragen, „die sich auf journalistischem Niveau bewegten“ (man denke an Voltaire). Diesen begabten Autoren gelang es den „Mythos zu erschaffen, daß die Vernunft wie die Morgenröte ins Dunkel des christlichen Mittelalters gedrungen sei und schließlich zum Entstehen der Wissenschaft und zur Ablehnung des traditionellen Christentums geführt habe.“
Vernunft und Verstand wären mit der Aufklärung zum Durchbruch gekommen. Dass dies offensichtlich falsch ist, zeigen allein schon die Philosophen-Theologen des Mittelalters wie Thomas von Aquin. Später dann, ab etwa 1600, bemühten sich die protestantischen Scholastiker „mit beträchtlichem Erfolg um Klarheit, Präzision, Logik und scharfe Argumentation… Die Aufklärer [dagegen] argumentierten nicht gründlich, brüsteten sich dafür aber umso mehr damit, endlich der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen und die Welt vom abergläubischen Christentum zu befreien.“
Von Wachter erkennt in dem Vorgehen der Aufklärer eine „mustergültige Immunisierungsstrategie. Damit kann man die eigentliche Frage vermeiden: Was haben jene christentumskritischen Autoren, die sich selbst als ‘Aufklärer’ bezeichnet haben, wirklich geleistet, und welche Argumente hatten sie für ihre Christentumskritik? Ob man die Christen oder die Christentumskritiker für vernünftig hält, ist Diskussions- und Ansichtssache. Doch die Diskussion wollen die Aufklärer vermeiden, sie wollen Menschen durch Bluff und Gefühle beeinflussen.
Licht in finsterer Seele
Die Aufklärer sahen sich als Lichtbringer in einer von Geistern, Dämonen und überhaupt Religion durchdrungenen Welt an. Diese Linie führt bis hin zu Carl Sagans Bestseller The Demon-Haunted World (1995), dessen Untertitel ganz im aufklärerischen Stil „Science as A Candle in the Dark“ – die Wissenschaft als Leuchte im Dunkeln – lautet. In den verschiedenen Sprachen wird die Aufklärung oft noch deutlicher als im Deutschen mit dem Licht und dem Lichtbringen verbunden (engl. „Age of Enlightenment“, franz. „Le siècle des Lumières“).
Allein an dieser Metapher wird die antichristliche Ausrichtung der Aufklärung deutlich, denn es war in der vom Christentum geprägten Kultur des 18. Jahrhunderts auch den Skeptikern, Agnostikern und Atheisten nur zu klar, dass das Bild vom Licht in der Bibel eines der wichtigsten ist – und es wurde frech vereinnahmt.
Das Wesen Gottes wird an zahlreichen Stellen der Bibel als Licht beschrieben, wobei 1 Joh 1,5 am eindeutigsten formuliert: „Gott ist Licht…“ Er ist der „Vater des Lichts“ (Jak 1,17), der im Licht wohnt (1 Tim 6,16; Off 22,5). Die Rede ist vom „Licht des Herrn“ (Jes 2,5); er ist Licht und Heil der Gläubigen (Ps 27,1). Sein Wort schenkt Licht (Ps 119,105). In Jesus ist das Licht selbst in die Welt gekommen (Joh 3,19).
Johannes Calvin schreibt, dass das Ebenbild Gottes im Menschen „vor dem Fall hell erstrahlte“ (Inst. I,15,4) – der Mensch spiegelte etwas von dem Gott des Lichts wider. Doch mit dem Sündenfall ist Dunkelheit ins Herz des Menschen eingezogen. Gott offenbart sich immer noch klar, ja leuchtend in der Natur (s. Röm 1–2), doch, so Calvin, die „brennenden Fackeln im Gebäu der Welt“ leuchten uns vergeblich. Der Mensch muss „durch Gottes innere Offenbarung ereuchtet werden“(I,5,14). Sünde hat das Denken des Menschen verfinstert (Röm 1,21; 1 Kor 1,21; 2,14; Eph 4,18, 5,8), weshalb eine Erneuerung des Verstandes nötig ist (Röm 12,2; Ef 4,23; hier und im nächsten Absatz folge ich Herman Bavinck, Reformed Dogmatics, Bd. 3.)
Diese Erneuerung vollzieht Gott selbst durch seine Offenbarung; er nimmt das weg, was die wahre Erkenntnis behindert (Mt 11,25; 16,17; Gal 1,16). Er tut dies durch die Gabe seines Heiligen Geist, der der Geist der Wahrheit und der Offenbarung ist (Eph 1,17) und in alle Wahrheit leitet (Joh 16,13), alle Dinge lehrt (Joh 14,26; 1 Joh 2,20) und dazu befähigt, Gott zu erkennen, da er selbst „alle Dinge erforscht, auch die Tiefen der Gottheit“ (1 Kor 2,10f). So wie in der Schöpfung Gottes durch sein mächtiges Wort Licht in der Dunkelheit schien, so kam auch der Sohn als Licht in die Finsternis (Joh 1,5) und so werden durch den Geist die Herzen der Menschen erleuchtet (2 Kor 4,6), die Augen des Herzens erleuchtet (Eph 1,18). Daher können die Gläubigen erkennen, was ihnen von Gott m Evangelium geschenkt ist (1 Kor 2,12) und erlangen eine zutiefst persönliche Erkenntnis Gottes des Vaters (Mt 11,27; 2 Kor 4,6; Eph 1,17), des Sohnes (Mt 16,17) und der Dinge, die aus dem Geist sind (1 Kor 2,14 u.a.).
Christen sind daher Kinder des Lichts (Lk 16,8; Eph 5,8; 1 Thess 5,5), sie haben Anteil am Reich des Lichts (Kol 1,12; 1 Pt 2,9), wandeln im Licht (Eph 5,8; 1 Joh 1,7; 2,9–11), „im Licht leben“ (s. Mt 6,22–23; Joh 8,12; 12,46; Röm 13,12; 1 Kor 4,5; 2 Kor 6,14) und Licht sein (Mt 5,14). – Das ist die wahre Aufklärung.
(Bild o.: die Vernunft als Lichtbringerin – Frontispiz des Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, 1765/72)