Gegen den Wind?
Skulpturen berühmter Nichtlitauer muss man in Litauen suchen. Papst Johannes Paul II. steht in Kaunas und Šiauliai; in Vilnius findet man sogar eine Frank Zappa-Büste. Im Juni wurde nun Jean-Paul Sartre in Bronze verewigt. Die mannshohe Skulptur des berühmten französischen Philosophen, Schriftstellers und Aktivisten hat ihren Platz auf der Hohen Düne bei Nida gefunden, unweit der Grenze zu Russland.
Sartre (1905–1980) war einst selbst an diesem Ort. Im Frühsommer 1965 besuchte er einmal wieder die Sowjetunion. Mit Lebensgefährtin Simone de Beauvoir machte er Station in Vilnius und in Palanga an der Ostsee. Für einige Stunden hielt sich das Paar auch in Nida (Nidden) auf und bestieg die große Düne südlich des Ferienortes. Sie erhebt sich auf über 50 Meter, weshalb der Meereswind hier umso kräftiger weht. Der damals noch junge litauische Fotograph Antanas Sutkus im Tross der Franzosen schoss ein berühmtes Bild: der leicht nach vorn geneigte Sartre in einer wüstenartigen Landschaft schreitet gegen den Wind voran.
Es ist bis heute eine der berühmtesten Aufnahmen des Vordenkers des Existentialismus. Nach diesem Foto fertigte Bildhauer Klaudijus Pūdymas sein Kunstwerk. Als künstlerisch hochwertig kann es nicht gelten, und sicher ging es der Stadtverwaltung von Neringa (das Verwaltungsgebiet erstreckt sich über fast die gesamte litauische Hälfte der Kurischen Nehrung) nicht um große Kunst. Man wollte schlicht einen neuen Anziehungspunkt für Touristen schaffen. Neben dem Thomas Mann-Haus ist der Sartre aus Bronze ein zweiter literarischer Gedenkort in Nida.
Mann hatte sich 1930 an der Haffseite ein Sommerhaus bauen lassen, schrieb hier u.a. an den Josephromanen. 1933 floh der berühmte deutsche Schriftsteller mit seiner Familie vor den Nazis aus München und kehrte auch nie mehr nach Litauen zurück. Der große Humanist und Aristokrat Mann konnte mit der pöbelnden Diktatur Hitlers gar nichts anfangen und widerstand ihr von Anfang an.
Mann war fast sechzig, als er Deutschland den Rücken kehrte, Sartre besuchte mit sechzig die Sowjetrepublik Litauen – und diente den Sowjets als williges Propagandainstrument. 1965 feierte man 25 Jahre kommunistische Herrschaft in der Baltenrepublik. Ein so angesehener Gast sollte das Image aufpolieren.
Sartres persönliche Geschichte mit dem Marxismus und Kommunismus war wechselhaft und kompliziert. 1952 schlug er sich öffentlich auf die Seite der Kommunisten Frankreichs ohne aber Mitglied der Partei zu werden. Erstmals 1954 besuchte er die UdSSR und fand recht positive Worte zum Herrschaftssystem – Worte, die er selbst Jahre später als Lüge bezeichnete. Nach dem unterdrückten Ungarnaufstand 1956 ging er wieder auf Distanz zur KP seiner Heimat.
Mit der UdSSR brach er aber vorerst nicht. In den 60er Jahren besuchte er mehrfach die Sowjetunion, darunter Länder wie Georgien und Estland. Erst nach dem Prager Frühling 1968, den Sartre unterstützte und dem die Warschauer Pakt-Mächte ein Ende bereiteten, fuhr der Franzosen nicht mehr gen Osten. Dafür wuchsen seine Sympathien für den Maoismus und verschiedene Formen des Anarchismus. Sartre war schließlich nie ein dogmatischer Marxist, jedoch immer für Revolution, dabei zutiefst antibürgerlich und antiamerikanisch gesinnt.
„Gegen den Wind“ (lit. „prieš vėją“) heißt es auf dem Sockel der Skulptur, gegen den Wind auf der Düne – und gegen das politische System des Westens, die parlamentarische und kapitalistische Demokratie. So fragt man sich, warum man dem „größten Egoisten“ (Paul Johnson in Intellectuals über Sartre), der immer mit dem Wind des linken Zeitgeistes segelte, ausgerechnet im postkommunistischen Litauen ein Denkmal gesetzt wurde. Mit kritischen Stimmen konfrontiert hieß es aus Nida schon, man hätte nur dem Foto von Sutkus gedacht – und nicht dem Philosophen selbst. Das ist dann wohl Dialektik und gedankliche Akrobatik à la Sartre.