Einzelkämpfer?

Einzelkämpfer?

Martin Bucer (1491–1551) kann als der dritte große deutsche Reformator neben Luther und Melanchthon bezeichnet werden. Allerdings ging vom Straßburger Reformator keine eigene Lehrtradition aus. So es gibt es nun zwar Lutheraner, Calvinisten und Mennoniten, aber keine Bucerianer. Das wäre auch ganz und gar nicht in seinem Sinne gewesen, hatte sich Bucer doch immer intensiv für die Einheit der Evangelischen eingesetzt und Lagerbildungen versucht zu vermeiden.

Bucer war lange der unbekannteste der großen Reformatoren, und das, obwohl sein Einfluss auf die gesamte protestantische Bewegung erstaunlich groß war. Bucer ist zum Beispiel der Begründer der evangelischen Konfirmation, die aus den Diskussionen mit den Täufern geboren wurde. Ihm ging es immer darum, dass der Glaube persönlich angenommen und bekannt wird und auch den Alltag prägt. Der Akzent auf Seelsorge und Kirchenzucht spiegelt sich ebenfalls in den von Bucer verfassten bzw. geprägten Kirchenordnungen wieder (Straßburg 1534, Ziegenhain und Kassel 1539, Köln 1543).

bucer

In den Jahren 1538 bis 1541 hielt sich Johannes Calvin bei Bucer in Straßburg auf und betreute eine französischsprachige Gemeinde. Calvin lernte bei dem Elsässer die Gemeindepraxis näher kennen und übernahm zahlreiche Elemente der Lehre von der Kirche und ihren Ämtern. Bei seinem anschließenden zweiten Aufenthalt in Genf setzte Calvin viele der Prinzipien Bucers um (man denke hier an die Laienältesten oder auch an den Gemeindegesang, der via Bucer bei den Reformierten Einzug fand).

Bucer kann außerdem als protestantischer Pionier der Pastoraltheologie gelten. 1538 erschien in deutscher Sprache Bucers Schrift Von der wa[h]ren Seelsorge und dem rechten Hirtendienst. Der Reformator verbindet darin eine evangelische Ekklesiologie mit einer ausführlichen Erläuterung der konkreten Aufgaben der Pastoren bzw. Hirten. Er differenziert dabei zwischen verschiedenen Arten der Schafe, d.h. der Christen, fordert z.B., dass den einst Getauften, die nun aber fern der Kirche sind, intensiv nachgegangen werden muss. Pastoraler Dienst hat nach Bucer auch eine klare evangelistische Dimension.

Dem Neuen Testament folgend sieht Bucer die beiden Ämter Hirten oder Lehrer sowie Diakone vor (die Erneuerung des Diakonats in vielen reformierten Kirchen geht ebenfalls auf Bucer zurück!). Er schildert dabei zuerst das Amt der Diakone, die sich um das leibliche Wohlergehen der Gemeindemitglieder zu kümmern haben. Anschließend erläutert er die Aufgaben der Hirten, deren Tätigkeiten in allen ihren Facetten als eine Anwendung des „ganzes Wort Gottes“ bezeichnet werden kann.

Jeweils in Bezug auf die verschiedenen Arten der Schafe (d.h. im Hinblick auf die verschiedenen Bedürfnisse der Christen) stellt Bucer ausführlich den Hirtendienst dar. Zum Hirtenamt gehört viel, so der Reformator, wie konkret das Lehren, Ermahnen, Disziplinieren und Trösten. Gefordert sind von den Amtsträgern außerdem „Ansehen, [Gottes]Furcht und ein Vorbild des Lebens“. Alle diese verschiedenen Dienste sollen „dermaßen verrichtet werden, dass alle und jede der Erwählten Besserung erlangen können“. Der Dienst der Hirten muss sich also am Wohl und Wachstum der Schafe orientieren.

Die Aufgaben der Pastoren sind sehr vielfältig, und so „mag jeder Christ wohl erkennen, wie auch mancherlei und vornehme Gaben und Geschicklichkeiten – neben dem allerernsten Eifer – zur rechten Leitung des Hirtenamtes erforderlich sind.“ Dies liegt auch daran, dass die Menschen, die gewonnen werden sollen, „nicht von einerlei Art sind“. Es gibt allgemein viele Menschen in der Kirche, und ihre Eigenarten und Schwächen sind vielfältig. All diesen kann ein Hirte der Ortsgemeinde gar nicht gerecht werden, denn er allein besitzt nicht alle nötigen Gaben für alle Menschen: „So gibt der Herr auch einem jeden [der Pastoren] seine eigene Gabe und Werk [Aufgabe] und nicht einem oder zweien alle Gaben; er will vielmehr, dass einer des andere Hilfe bedürfe.“

Bucer hatte sehr gut erkannt, dass nicht jeder Pastor alles gleich gut kann und den von der Bibel geforderten Dienst nicht allein abdecken kann. Seine Beispiele: Der eine kann gut lehren, ist aber wenig geneigt zum Ermahnen; der eine kann warm und ernsthaft zugleich ermahnen, ist aber nicht so stark in der Schriftauslegung; der eine kann den seelisch Verwundeten gute Hilfe leisten, ist aber in der Lehre weniger begabt. Die im pastoralen Dienst Stehenden brauchen also die gegenseitige Hilfe – damit sie wiederum den Gemeindegliedern gut helfen können.

Gerade auf Bucer geht die Erneuerung des Ältestenamts zurück, was Luther ja noch weitgehend ignoriert hatte. In der Seelsorgeschrift stellt Bucer dar, dass die Ältesten das Hirtenamt und all seine Pflichten ausführen sollen, dass also Hirten, Pastoren, Lehrer, Seelsorger und Älteste im Grunde Ausprägungen oder Namen eines Amtes sind. Mehrfach betont der Reformator, dass Älteste unterschiedliche Gaben haben und auch aus verschiedenen sozialen Schichten kommen sollten – schließlich ist ja auch das Gemeindevolk vielfältig.

Bucer vertritt folglich ein plurales Leitungsmodell der Kirche wie es sich dann im Genf Calvins und in den presbyterianischen Kirchen durchgesetzt hat. Er kritisiert, dass „die Bischöfe alle Gewalt in der Kirche an sich gezogen haben“. Wie Gott allein regiert, so solle das nach ihrer Meinung auch der Bischof tun, doch, so Bucer, die Bischöfe erweisen sich als ganz anders als Gott – sündig, begrenzt und fehlerhaft. „Außerdem erfordert die Seelsorge so viel, dass sie auch in kleinen Gemeinden durch einen oder wenige nicht gut verrichtet werden kann.“ Die rechte Seelsorge verlangt so viel, „dass auch die Allergeschicktesten in diesem Dienst allein oder mit nur wenigen nicht viel ausrichten werden. Denn alle Geschicklichkeit und alle Gaben kommen von Gott, der sein Werk in seiner Gemeinde durch viele und nicht durch wenige ausrichten will.“

Dass es mehrere Kirchendiener oder Pastoren braucht, macht auch die lange Liste ihrer Aufgaben deutlich, die Heinrich Bullinger in seinem Zweiten helvetischen Bekenntnis auflistet: „Den Dienern liegt es ob, die Gemeinde zum Gottesdienst zu versammeln, darin das Wort Gottes auszulegen und die ganze Lehre dem Bedürfnis und dem Nutzen der Gemeinde entsprechend anzuwenden, damit das, was gelehrt wird, allen Hörern nützlich sei und die Gläubigen erbaue. Den Dienern liegt es also ob, die Unwissenden zu lehren, jene zu ermahnen und vorwärts zu drängen, die auf dem Wege des Herrn stille stehen oder allzu langsam vorwärts schreiten, die Ängstlichen zu trösten und zu stärken und sie zu schützen gegen die mannigfaltigen Anfechtungen des Teufels, die Sünder zu bestrafen, die Irrenden auf den rechten Weg zurückzubringen, die Gefallenen aufzurichten, die Widersprechenden zu überweisen und endlich die Wölfe vom Schafstall des Herrn zu verjagen. Laster und Lasterhafte sollen sie mit Klugheit und mit Nachdruck tadeln und gegen Schandtaten weder nachsichtig sein noch schweigen. Ferner sollen sie auch die Sakramente verwalten und zu ihrem rechten Gebrauch ermahnen und alle zu ihrem Empfang durch die reine Lehre vorbereiten, die Gläubigen auch in heiliger Einheit bewahren, Spaltungen verbieten, die Kinder unterweisen, die Notdurft der Armen der Gemeinde ans Herz legen, die Kranken und von mancherlei Anfechtungen Bedrückten be-suchen, unterweisen und auf dem Weg des Lebens erhalten; außerdem sollen sie in Zeiten der Not öffentliche Bet- und Bußtage, verbunden mit Fasten, das heißt heiliger Enthaltsamkeit, anordnen und alles, was zur Ruhe, zum Frieden und zum Heil der Gemeinden dient, mit größter Sorgfalt besorgen.“ (XVIII,18)

Gegen Ende des Werkes betont Bucer nüchtern, dass das Lernen des Evangeliums  wegen unser gefallenen Natur durchaus schwierig ist und viel Ausdauer und Fleiß verlangt – vor allem natürlich auf Seiten der Hirten und Lehrer. Sie dürfen sich nicht damit begnügen, öffentlich zu predigen und zu lehren; die persönliche Anwendung und Seelsorge muss hinzukommen. Dies erfordert z.B. Hausbesuche, und hier sind die Möglichkeiten eines Amtsträgers naturgemäß begrenzt.

Bucer bezieht sich auf Bibelabschnitte wie Röm 12, 1 Kor 12 und Eph 4  und stellt grundsätzlich fest: „Der Herr will im Kirchendienst eine Gemeinschaft haben und will dazu mancherlei Menschen gebrauchen“; in jeder Gemeinde sind „viele verständige und eifrige Männer“ nötig, um der Sorge um die Seelen der Einzelnen in rechter Weise pflegen zu können.

Diese Konzeption der kirchlichen Ämter und Aufgaben erweist sich als sehr realistisch.  Menschen in den Gemeinden sind sehr verschieden, so dass ihnen ein Kirchendiener allein gar nicht gerecht werden kann. Außerdem hat der Einzelne längst nicht alle nötigen Gaben in der Fülle, um allein die vielen Aufgaben stemmen zu können. Bucer hält also gar nichts von dem Modell eines Pastoren als Einzelkämpfers, dem allein die gesamte Lehre, Wortverkündigung und Seelsorge anvertraut ist. Er plädiert im Ergebnis für pastorale Teams, die sich die Aufgaben des Hirtendienstes untereinander teilen.

Dies schließt natürlich nicht aus, dass die Gemeinden einen Pastoren anstellt, der vollzeitlich und hauptberuflich seinen Aufgaben nachgeht. Er ist dann aber eingebunden in ein Team von Ältesten. So heißt es z.B. sehr gut in der Kirchenverfassung (2010) der Evangelisch-reformierten Kirche Westminster Bekenntnisses in Österreich und der Schweiz: „Die Presbyter [Kirchenälteste] leiten die Gemeinde im Kollektiv und tragen gemeinsam sowohl die organisatorische, als auch die geistliche Verantwortung. Kraft ihres Hirtenamtes sind die Presbyter Seelsorger der Gemeinde. Alle Seelsorge wird gemeinsam verantwortet und im Auftrag des gesamten Presbyteriums durchgeführt.“ (§ 3.1 (3–4))

Auf der Linie Bucers schreibt übrigens auch Fritz Weber in „Ein Recht auf Verletztsein?“ („Bibel und Gemeinde“, 2/18). Er betont, „dass ein ‘Ein-Mann-Leitungssystem’ den Absichten Gottes widerspricht. Abgesehen davon, dass in der Regel eine Person alleine nicht alle unterschiedlichen Leitungsbegabungen besitzen kann (sie sind nämlich durch den Geist Gottes der Gesamtgemeinde gegeben) und es daher sowohl der Beratung als auch der gegenseitigen Kotrolle und brüderlichen Korrektur bedarf…“

Weber gibt außerdem zu bedenken, dass auch ein anfangs „hingegebener, begabter, gute ausgebilderter Nachfolger Christi und treuer Hirte der Gemeinde“ , der über Jahre hinweg die Gemeinde faktisch als einziger Leiter dominiert,  subtil das eigene Selbstverständnis verändert. „Die Gefahr besteht…., dass sich in seinem Denken und Handeln Absolutheit, Selbstherrlichkeit und Unbelehrbarkeit einschleichen“. Außerdem besteht die Gefahr, „dass der Gemeindeleiter argwöhnisch wird und jegliche ‘Kritik’ als Infragestellung oder gar als Angriff auf seine Person und Stellung missinterpretiert. Zunehmend versteht er die Gemeinde als ‘seine’ Gemeinde und sich selbst als ihr Haupt, dem sich alle anderen unterzuordnen hätten.“

Bucers Vorstellungen vom pastoralen Dienst erweisen sich als ungewohnt aktuell. Leider gibt es so gut wie keine Ausgaben seiner Schriften in moderner deutscher Sprache. Dafür liegt seit einigen Jahren eine gute englische Übersetzung vor: Concerning the True Care of Souls. Einen sehr guten Überblick zu Bucers Leben und Werk aus der Feder von Thomas Schirrmacher in englischer Sprache gibt es hier.