Buchträger – damals und heute

Buchträger – damals und heute

1863 hatten sich viele Polen und Litauer gegen die Zarenherrschaft erhoben. Der Aufstand war trotz so mancher Erfolge zum Scheitern verurteilt. Die Strafmaßnahmen der russischen Obrigkeit waren hart, ja drakonisch. Per Ministerentscheid wurden 1865 im Gebiet Litauens alle Bücher mit lateinischen Buchstaben verboten – der Druck im kyrillischen Alphabet der Russen sollte mit purer Gewalt durchgesetzt werden. Die nationale Identität der Litauer und ihr katholischer Glaube wurden gezielt aufs Korn genommen. Denn betroffen von dem Verbot waren vor allem religiöse Schriften.

Das Verbot währte rund vierzig Jahre, wurde aber von Anfang an massiv unterlaufen. Hauptsächlich im nahen Ostpreußen entstanden Zentren der litauischen Buchproduktion. Insg. mehrere Millionen Schriften wurden wie althergebracht mit lateinischen Buchstaben gedruckt. Die Bücher schmuggelten sog. knygnešiai, Buchträger, über die Grenze ins russische Litauen. Über ein erstaunlich dichtes Netz von Verteilzentren wurde die Literatur im Land vertrieben.

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Die Buchträger, meist einfache Männer (s.o. Bild vom Ende des 19. Jhdt.), nahmen ein nicht geringes Risiko auf sich. Bis heute ist diese Zeit der Unterdrückung fest im historischen Bewusstsein der Litauer verankert. Wie bei so vielen Zwangsmaßnahmen und Versuchen, nationale Identität auszuradieren, war das Ergebnis das Gegenteil: Ab etwa 1900 erwachte das litauische Nationalbewusstsein vollends und führte 1918 zur Unabhängigkeit.

In der litauischen Sowjetrepublik konnten litauische Bücher ohne Probleme in lateinischen Buchstaben gedruckt werden. Langfristig sollte aber auch hier das Russische die Oberhand gewinnen. Christliche Schriften wie Bibeln konnten so gut wie gar nicht erscheinen. Die Gottesdienste ließ man den Kirchen noch, aber neben der äußerst begrenzt erlaubten theologischen Ausbildung war die Literatur das Gebiet, in dem die kommunistische Repression am stärksten war. Im Vergleich dazu war die Situation selbst in der DDR noch rosig.

All dies ist Gott sei Dank Vergangenheit. Heute ist die Pressefreiheit in Litauen sehr gut verwirklicht. So gut wie alles kann gedruckt und vertrieben werden. Verlage brauchen außerdem, anders als noch vor gut zwanzig Jahren, keinerlei Druckerlaubnis mehr. In den letzten 30 Jahren sind so auch schon zahlreiche christliche Bücher auf den Markt gekommen (hier ein Überblick über die christliche Verlagslandschaft). Das Glas ist wahrlich nicht voll; immer noch gibt es deutlich zu wenig gute theologische Literatur. Doch nach und nach bessert sich die Lage. Im vergangenen Jahr erschien bspw. Paul Washers Gospel’s Power and Message, in diesem Jahr werden noch das Niederländische Bekenntnis und Gordon Fees Klassiker der Hermeneutik How to Read the Bible… in litauischer Sprache gedruckt werden.

Die Buchproduktion ist das Eine, der Vertrieb das andere. In den 90er Jahren gab es gerade in den Großstädten nicht wenige christliche Buchhandlungen. Über die meisten vertrieben wir damals auch das christliche Journal „Prizmė“. So gut wie alle haben inzwischen dicht gemacht, und das gilt sogar für die katholischen. Nur unter größerem Dach wie z.B. am Sitz des Bischofs von Šiauliai gibt es nun noch Buchverkaufsorte.

Die meisten allgemeinen Buchhandlungen haben auch Bibeln und einige theologische Schriften im Angebot, vor allem natürlich die der katholischen Verlage. Evangelische Literatur wird vielfach direkt und vor allem vom Reformierten Literaturzentrum (ganz unabhängig von unserer Kirche) vertrieben; mit dem jungen Leiter des Verlags und des Internetvertriebs verstehen wir uns sehr gut.

Daneben gibt es noch den Buchvertrieb der „Wort der Wahrheit“-Gemeinde in Šiauliai. Neben den Büroräumen der Gemeinde unterhalten die Geschwister eine kleine Buchhandlung und ein Buchlager. Seit vielen Jahren haben sie mit Aras Petronaitis (s.u. Foto)einen Mitarbeiter für diesen Dienst freigestellt. Er kümmert sich engagiert um den Vertrieb christlicher Literatur aller Art, läuft so gut wie jedem neuen Buch auf dem Markt hinterher. Auf der Internetseite der „elektronischen Buchhandlung“ können zahlreiche Titel bestellt werden.

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Dennoch wollen viele Kunden Bücher immer noch anfassen und vor dem Kauf durchblättern. Über Neuerscheinungen erfahren so manche erst dadurch, dass sie die Bücher auch tatsächlich vor Augen sehen. Der Internethandel hat also die christliche Buchhandlungen weitgehend abgelöst. Doch moderne Buchträger braucht es immer noch, die die Literatur potentiellen Leser präsentieren und ihnen physisch nahe bringen.

Seit vielen Jahren nutzt Holger jede Gelegenheit aus und präsentiert auf kleinen oder größeren Büchertischen eine empfehlenswerte Auswahl christliche Literatur in litauischer Sprache: Autoren wie C.S. Lewis, Bonhoeffer, Stott, Packer und Berkhof, Bibeln, Katechismen und Bekenntnisse. Ein, zwei Curver-Boxen ins Auto oder den Rucksack vollgemacht – und schon kann’s losgehen. Wie damals im 19. Jahrhundert müssen Bücher auch vom Verlagsort und den Lagern an die Leser gebracht werden.

Nimmt er bei einer Veranstaltung der Studentenmission LKSB teil, ist er bei so gut wie jeder auch mit einem Büchertisch vertreten. Bei der Synode der reformierten Kirche hat er schon neun Mal in Folge ein Auswahl an Büchern angeboten. Der Andrang ist, anders noch als vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren, nicht mehr stürmisch. Doch immer noch kann das eine und andere Buch an interessierte Leser und vor allem natürlich Leserinnen gebracht werden. Bei Gottesdiensten ist eine kleine Box mit dem Mindestprogramm von einem Dutzend Titeln wie Bibelausgaben oder dem Heidelberger Katechismus im Einsatz.

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Eng kooperiert Holger dabei mit Aras. Für diesen lohnt sich der Aufwand, persönlich mit einem großen Büchertisch präsent zu sein, nur bei größeren Veranstaltungen. Holger nimmt zu den Orten, zu denen er sowieso fährt, ein paar Dutzend Titel aus seinem Bestand mit und rechnet anschließend über den Verkauf mit ihm ab. So kommt mit relativ geringem Aufwand die Literatur unters Volk und der Umsatz von Aras Buchhandlung steigt. Über die Jahre hinweg sind auf diese Art Bücher für wohl mehrere Tausend Euro an die Leser gebracht worden.

Nicht zu unterschätzen ist auch die persönliche Kontaktaufnahme, die das Internet ja auch kaum ersetzen kann. Die Leute erwarten schon, dass Holger Bücher mitbringt und sie die Gelegenheit zum Kauf haben; sie erkundigen sich nach neuer Literatur, fragen, wie einzelne Titel aus evangelikaler Sicht zu bewerten sind, suchen Bücher für Nichtgläubige, Fragende usw. Das persönliche Risiko, dem die Buchträger im 19. Jahrhundert ausgesetzt waren, gibt es heute nicht mehr. Umso intensiver gilt es nun, die beste Botschaft auf dem immer noch aktuellen Weg der Literatur zu verbreiten.