„Wir sind ja alle Priester“
„Alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes“
Die Reformation im 16. Jahrhundert führte zu einem ganz neuen Verständnis der Ämter in der christlichen Gemeinde. Damals wie heute hält die katholische Theologie an der klaren Drei- bzw. Vierteilung fest: Laien, also das Gemeindevolk, Priester, Bischöfe und der Papst als Bischof mit besonderen Vollmachten. Martin Luther räumte damit in seinen frühen Schriften aus den Jahren 1520 bis 1523 auf und betonte das Priestertum aller Gläubigen. Ein spezielles Priestertum leugnete er.
In der Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (1520) unterstreicht der Reformator, „dass wir eine Taufe, ein Evangelium, einen Glauben haben und gleiche Christen sind. Denn die Taufe, das Evangelium und der Glaube, die machen allein geistlich und ein Christenvolk“. Alle Christen werden „durch die Taufe zu Priestern geweiht“. Alle Gläubigen haben im Grunde „das gleiche Recht“ im Hinblick auf Gott und die Mitmenschen. „Wir sind ja alle Priester“, und daher gesteht er auch allen Gläubigen „die Macht zu schmecken und zu beurteilen, was im Glauben recht oder unrecht ist“ zu.
Luther lehnt daher die grundlegende Unterscheidung zwischen Laien und Geistlichen, zwischen unterschiedlichen Ständen vor Gott, radikal ab: „Man hat’s erfunden, dass Papst, Bischof, Priester, Klostervolk der geistliche Stand genannt wird, Fürsten, Herren, Handwerks- und Ackerleute der weltliche Stand, was eine gar feine Erdichtung und Täuschung ist. Doch soll sich niemand deswegen einschüchtern lassen, und das aus dem Grund: Alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes, und es ist zwischen ihnen kein Unterschied als allein des Amts wegen.“
„Alle sind geistlichen Standes…, haben aber nicht ein und dieselbe Tätigkeit“. Manche wie die Pastoren tun das, was allen Christen geboten ist, auf intensivere Weise. Nur diese sind durch „Einwilligung und Wahl“ zu bestimmten Diensten oder Ämtern beauftragt. Luther vergleicht die Amtsträger oder Diener in der Kirche mit Beamten, die für gewisse Zeit ihr Amt ausüben; tun sie dies nicht mehr, sind sie einfache Bürger wie alle anderen. Dies gilt auch für die Kirche, wobei die katholische Kirche dies bis heute anders sieht: einmal Priester, immer Priester.
Ähnlich äußert sich Luther auch in Von der Freiheit eines Christenmenschen aus demselben Jahr: „Du fragst: Was ist denn für ein Unterschied zwischen den Priestern und den Laien in der Christenheit, wenn sie alle Priester sind? Antwort: Es ist den Worten „Priester“, „Pfarrer“, „Geistlicher“ usw. damit Unrecht geschehen, dass man ihren Gebrauch von der Allgemeinheit auf die kleine Schar eingeschränkt hat, die man jetzt „den geistlichen Stand“ nennt. Die heilige Schrift macht keinen andern Unterschied, als dass sie die Gelehrten oder Geweihten ministri, servi, oeconomi nennt, d. h. „Diener“, „Knechte“, „Verwalter“, die den andern Christus, den Glauben und die christliche Freiheit predigen sollen. Denn obwohl wir alle gleichmäßig Priester sind, können wir doch nicht alle dienen oder verwalten und predigen.”
Eine kleine, viel zu wenig beachtete Schrift Luthers aus dem Jahr 1523 trägt die Hauptaussage gleich im Titel: Daß eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursache aus der Schrift. „Denn das kann niemand leugnen, dass ein jeglicher Christ Gottes Wort hat und von Gott gelehrt und zum Priester gesalbt ist… Ist es aber so, dass sie Gottes Wort haben und von ihm gesalbt sind, so sind sie auch schuldig, es zu bekennen, zu lehren und auszubreiten”, so Luther. Nur die Amtsträger sind beauftragt öffentlich, im Namen der Kirche und daher mit einer in gewisser Weise größeren Vollmacht zu lehren, „aber die Schafe sollen urteilen, ob sie die Stimme Christi oder die Stimme der Fremden lehren”. Naturgemäß kann nicht jeder in der Gemeinde Hirte (Pastor) sein; manche Christen haben höhere Kompetenz in der Weitergabe von geistlicher Nahrung, dem Wort Gottes. Das Gemeindevolk, die anderen Schafe, kann aber urteilen, ob es auf gute Weiden geführt wird und Nahrung erhält.
Luther geht auf den Einwand ein, dass ein Christ zwar „Recht und Vollmacht hat, das Wort Gottes zu lehren”, doch „wenn er nicht berufen ist, so darf er ja nicht predigen”. Wie ist dies zu verstehen? Der Reformator antwortet, dass die konkrete Situation des Christen berücksichtigt werden muss: „Hier sollst du feststellen, dass ein Christ an zweierlei Ort sein kann. Erstens, wenn er an einem Ort ist, wo keine Christen sind: Da bedarf er keiner anderen Berufung, als dass er ein Christ ist, von Gott inwendig berufen und gesalbt. Da ist er schuldig, den irrenden Heiden oder Unchristen zu predigen und das Evangelium zu lehren, aus Pflicht brüderlicher Liebe, obgleich ihn kein Mensch dazu beruft.”
Im Alltag wie vor allem am Arbeitsplatz ist jeder Christ berufen, das Evangelium weiterzusagen und in gewissem Rahmen zu lehren. „Wenn er aber an einem Ort ist, wo Christen sind, die mit ihm gleiche Vollmacht und gleiches Recht haben: Da soll er sich selbst nicht hervortun, sondern sich berufen und hervorziehen lassen, dass er anstelle und mit Auftrag der anderen predige und lehre.” Fehlt es an Lehrern und Lehre unter Christen, hat der einzelne Christ aber auch „so viel Vollmacht, dass er auch mitten unter Christen ohne Berufung durch Menschen auftreten und lehren kann”, allerdings soll es auch dann „gesittet und züchtig zugehen”.
„Christus ist Priester, also sind die Christen Priester“
Am ausführlichsten nimmt Luther zum Amtsverständnis und dem Priestertum in seiner lateinischen Schrift De instituendis ministris ecclesiae aus dem Jahr 1523 Stellung. Anlass war eine konkrete Anfrage von böhmischen Christen, Nachfahren der Hussiten. Trotz ihres evangelischen Glaubens schickten sie angehende Priester immer noch nach Rom, die sich dort von Bischöfen gegen Schmiergelder weihen ließen. Eigene Bischöfe in apostolischer Sukzession hatte man nämlich nicht mehr, und irgendwie müsse man doch an die nötigen Weihen kommen. Was also tun?
Von den durch die Böhmen „gekauften und eingeschleusten papistischen Weihen“ hält Luther jedoch gar nichts. Er polemisiert heftig gegen das „unzerstörbare Prägemal“, das sich durch die Priesterweihe angeblich in der Seele des Geistlichen befindet. Der evangelische Pastor hat das „öffentliche Amt des Wortes“ inne, doch „an Stelle von Dienern des Wortes weihen sie Opferpriester“.
Luther betont, dass auch „ein Hausvater die Seinen durch das Wort mit dem Nötigsten versorgen“ kann. Wenn also „niemand da ist, der lehren könnte“ oder wenn diejenigen, „die da sind, nicht richtig lehren“, dann hat „jeder Einzelne das Recht und sogar den Auftrag zum Dienst am Wort“.
Es ist für Luther ein „weit verbreitetes und allerstärkstes Ärgernis“, „dass man damit angefangen hat, diejenigen, welche die Bischöfe geschoren und gesalbt haben, in menschlichem Irrtum ‘Priester’ zu nennen“. Dies sei ein „aufgeputzter Name“, mit dem „Satan betrügerisch dahergekommen“ ist. „Diesen Skandal wirst du nicht in den Griff bekommen, wenn du hier nicht mit geschlossenen Augen an allem vorbeigehst, was Brauch, Alter und Menge verlangen, und stattdessen mit offenen Ohren dich ganz an das Wort Gottes hältst“, so Luther.
Es müsse „felsenfest und unerschütterlich gelten, dass im Neuen Testament niemand Priester ist oder sein kann durch äußerliche Salbung“. Priestersalbung gab es in Israel, Christus setzte diesem Priesterdienst durch sein Werk und Opfer ein Ende. Gibt es heute nun doch diejenigen, die sich Priester nennen, hat diese Praxis kein „Wort in den Evangelien oder in den Briefen der Apostel auf ihrer Seite“, es ist eine „menschliche Erfindung“.
Zum Priester im Neuen Testament wird man durch „geistliche Geburt“, Wiedergeburt: „Alle Christen sind Priester, und alle Priester sind Christen. Und verflucht sei die Behauptung, Priester könne ein anderer sein als jemand, der ein Christ ist.“ Wieder unterstreicht Luther, dass die Ernennung von Priestern in der Kirche das Wort Gottes nicht auf seiner Seite hat, man müsse sich daher auf römischer Seite „auf Menschenwort oder auf das Alter des Brauches oder auf die Menge derer, die solche Meinung sind“ stützen. Es sei sogar „ein Frevel und eine Gräuel, aus all dem irgendetwas zu einem Glaubensartikel zu machen…“ Luther fasst zusammen: „Christus ist Priester, also sind die Christen Priester… Dass wir seine Brüder sind, das sind wir nur durch eine neue Geburt. Also sind wir auch Priester wie er, Söhne wie er, Könige wie er. “
Alle Christen sind „gleichermaßen Priester“, und Luther beweist dies aus den „priesterlichen Ämtern“: „lehren, predigen und das Wort verkündigen, taufen, konsekrieren oder Abendmahl halten, binden und lösen der Sünden, Fürbitte halten, opfern, urteilen über alle Leute Lehren und Geist“. „Das Erste und das Größte“ darunter ist „das Wort Gottes zu lehren“. Der „Dienst am Wort“, „das erste Amt“, ist „allen Christen gemeinsam“. Denn nach 1 Pt 2,9 gibt der Apostel den Christen „nicht nur das Recht, sondern auch das Gebot, die Wohltaten Gottes zu verkündigen, was sicher nichts anderes heißt, als das Wort Gottes zu predigen.“
Luther lehnt die Vorstellung eines „zweifachen Priestertums“, also ein allgemeines aller Christen und ein spezielles der Opferpriester, wieder als Erfindung ab. Er spricht sich hart gegen die Auffassung „Wir allein sind Priester, ihr seid Laien“, aus. Dahinter sieht er diese Haltung: „Wir allein sind Christen und haben die Macht des Gebetes; ihr seid Heiden und habt diese Macht nicht, aber euch kann durch unsere Gebete geholfen werden“.
Dagegen hält Luther fest, dass grundsätzlich alle Christen das Recht haben, „über die Lehre zu urteilen und zu beschließen“, schließlich werden wir im Neuen Testament gemahnt, „Irrlehren keinen Glauben zu schenken“ und Einsicht zu gewinnen, „worin unser eigenes Heil besteht“, Gewissheit zu haben, „was er glaubt und befolgen will“. Woher haben dann „die Papisten die Stirn, lauthals zu verbreiten: Die Laien müssen uns glauben, nicht sich selbst?“ Sie haben sich zu überlegenen Lehrmeistern aufgeschwungen, „so dass ihnen erlaubt wäre zu lehren, was immer sie wollten, wobei sie niemandes Urteil zu fürchten hätten“.
Es ist also das „gemeinsame Recht der Christen“ zu lehren, und dennoch „ist keinem erlaubt, in die Mitte zu treten und sich allein anzueignen, was allen gehört.“ „Aber die Gemeinsamkeit des Rechs erzwingt, dass einer – oder wie viele eine Gemeinschaft für angemessen hält – ausgewählt oder angenommen werden, die anstatt und im Namen aller, die gleichen Rechts sind, diese Ämter öffentlich ausüben, damit keine hässliche Verwirrung im Volke Gottes eintritt…, sondern alles ehrbar und ordentlich vor sich geht“. Die Ämter wie das des Pastoren sind also vor allem um der Ordnung wegen da. Sie werden bei einer Gemeindeversammlung „durch gemeinsame Stimmabgabe aus der eigenen Mitte“ ausgewählt und öffentlich in ihr Amt eingesetzt.
Luther wiederholt die Bekräftigung, dass diejenigen, die die Sakramente und das Wort verwalten, „nicht Priester genannt werden können oder dürfen. Dass sie aber Priester genannt werden, das stammt entweder aus heidnischem Brauch oder es ist eine Hinterlassenschaft des jüdischen Volkes und danach zum großen Schaden der Kirche gutgeheißen worden. Im Übrigen würden sie nach den evangelischen Schriften besser Diener, Diakone, Bischöfe oder Haushalter genannt werden.“
Paulus will „nicht etwa einen Stand, einen Orden, ein Recht oder eine gewisse Würde aufrichten“; er betont „das jeweilige Amt und Werk“, „Recht und Würde des Priestertums lässt er der Gemeinschaft. Wenn sie nur Diener sind, verschwindet schon jenes ‘unzerstörbare Prägemal’, und jene Ewigkeit des Priestertums erweist sich als frei erfunden. Aber ein Diener kann abgesetzt werden, wenn er aufhört, treu zu sein… Ja, der Diener in geistlichen Angelegenheiten ist weit weniger sicher im Amt als irgend ein Diener in bürgerlichen Angelegenheiten, sofern er nämlich, wenn er untreu geworden ist, schwerer zu ertragen ist als jener, der nur in den Dingen dieses Lebens Schaden anrichten kann, während dieer Verwüstung anrichtet in Bezug auf die ewigen Güter.“
Luther spricht hier wirklich Bemerkenswertes aus: Die beauftragten Diener am Wort Gottes, die Pastoren, sind strenger zu kontrollieren als Amtsträger in der bürgerlichen oder politischen Welt. Denn sie haben mit „ewigen Gütern“ zu tun, wo Missbrauch umso schwerer wiegt, weil die Folgen in die Ewigkeit hinein reichen. Die Praxis, auch in den evangelischen Kirchen, war jedoch bald eine andere. Nicht zuletzt durch das Kirchenregiment der Landesherren, auch später durch die Einflussnahme des Staates und die Übernahme staatsähnlicher Strukturen (Quasi-Verbeamtung der Pastoren) ist dieser Grundsatz Luthers faktisch zur Makulatur geworden. Schlechte Buchhalter oder Manager sind ihren Job schnell los, aber ein schlechter Lehrer oder Pastor wird im besten Fall versetzt…
„Das Amt des Wortes, wie es jedem Getauften anvertraut ist”
Durch die frühen Schriften Luthers zieht sich der Grundsatz „Wo das Wort ist, da ist Kirche“. Im verkündigten Wort Gottes wird der Heilige Geist gegeben, der zum Christen macht und so aus einer Versammlung von Menschen die Kirche schafft. Die Wortverkündigung ist die Hauptaufgabe der Amtsträger der Kirche, doch sie haben eben, wie wir sahen, kein Monopol auf die Weitergabe des Wortes und des Evangeliums.
In vielen lutherischen Kirchen, und in Litauen ist dies heute geradezu exemplarisch, ja fast schon in Extremform zu beobachten, ist Luthers Devise umgedeutet worden: Wo der Pfarrer ist, da ist Kirche. Natürlich steckt ein Wahrheitselement in dieser Aussage. Aber die Reihenfolge darf nicht vertauscht werden. Das Wort Gottes hat Priorität, dann kommen die Verkündiger, die sich auch an diesem Auftrag messen lassen müssen. (Anders ist dies wieder im Katholizismus: Der Bischof ist in seiner Person in gewisser Weise die lokale Kirche.)
Dies ist auch bei der Interpretation des Augsburger Bekenntnisses aus dem Jahr 1530 zu beachten. In dem wichtigsten Bekenntnisdokument der Lutheraner aus der Feder Melanchtons geht es in den ersten Artikeln über Gott, die den Menschen von ihm trennende Sünde, den Sohn Gottes und die Rechtfertigung aus Glauben. Es folgt Artikel 5: „Vom Predigtamt”: „Um diesen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, das Evangelium und die Sakramente gegeben, durch die er als durch Mittel den Heiligen Geist gibt, der den Glauben, wo und wann er will, in denen, die das Evangelium hören, wirkt…”
Dieser Artikel steht an zentraler Stelle im Bekenntnis, zwischen Rechtfertigung und dem neuen Gehorsam. Prof. Oswald Bayer aus Tübingen, ein herausragender Lutherexperte in Deutschland, nennt ihn sogar den „wichtigsten Artikel des Augsburger Bekenntnisses“, weil er das „Zünglein an der Waage“ ist (Martin Luthers Theologie). Denn hier wird geschildert, wie der Glaube durch den Geist gewirkt wird. Der Heilige Geist hat sich an das Wort gebunden und schafft Glauben durch dieses „Mittel”.
Bayer gibt nun zu bedenken: „Gegen den ersten Anschein – der Gebrauch des Wortes ‘Predigtamt’ scheint dies nahezulegen – ist hier nicht etwa nur das ordinationsgebunde Amt, das Pfarramt, gemeint; davon ist in großem Abstand erst im Artikel 14 die Rede… Artikel 5 spricht nicht speziell vom Pfarramt, sondern vom ‘ministerium… evangelii’ ganz grundsätzlich, d.h. vom Amt des Wortes, wie es jedem Getauften anvertraut ist.” Genau dies ist ja auch das oben ausführlich geschilderte Verständnis Luthers.
Die öffentliche Predigt im Namen und mit der vollen Autorität der Kirche bedarf der Berufung und Einsetzung durch die Kirche, so kurz in Artikel 14. Dies schließt keineswegs die Lehre der Nichtordinierten aus. Auch die Laien Genannten nehmen am Verkündigungsauftrag der Kirche teil.
Ähnlich ist auch Frage 65 im reformierten Heidelberger Katechismus zu verstehen: „Wenn nun allein der Glaube uns Anteil an Christus und allen seinen Wohltaten gibt, woher kommt solcher Glaube? Der Heilige Geist wirkt den Glauben in unseren Herzen durch die Predigt des heiligen Evangeliums und bestätigt ihn durch den Gebrauch der heiligen Sakramente.” Der Glaube kommt nicht nur die öffentliche Predigt des Pastors zu den Menschen, aber natürlich auch dadurch. Wo immer das Wort Gottes, dessen Kern das Evangelium ausmacht, ausgelegt und gelehrt wird, wirkt der Geist Gottes souverän und schafft hier und da Glauben.
„Eine besondere List des leidigen Teufels”
Die lutherischen Kirchen mutierten trotz allem häufig zu Pastorenkirchen. Ein krasses Beispiel bietet die jüngste Entwicklung der lutherischen Kirche Litauens. Allgemein sind starke hochkirchliche Tendenzen zu erkennen (der Bischof wird nun mit „Seine Exzellenz” angeredet); im Kirchenstatut von 1995 wurden die Vollmachten des Pfarrers (lit. kunigas, Priester) gestärkt, und diese kommen auch zur Geltung; im Konsistorium haben die Pfarrer eine Zweidrittelmehrheit; das Ansehen der Pfarrer steht dem der Priester in der katholischen Kirche des Landes wohl in nichts nach, was nicht zuletzt am gleichen Namen liegt.
Vor kurzem brachte die Kirche einen an sich guten Überblick der lutherischen Lehre heraus: Liuteronybė – kas tai? (Was ist Lutherum?), eine überarbeitete Übersetzung von Lutheranism 101 der lutherischen Missouri-Synode aus den USA. Mit der recht großen, theologisch konservativen amerikanischen Kirche kooperieren die litauischen Lutheraner schon eine Weile. Auch sie bezeichnen sich nun ausdrücklich als orthodox und konservativ.
Im Grunde ist dies zu begrüßen. Doch ein Lapsus im Buch zeigt die andere Seite der orthodoxen Medaille. Im Abschnitt über die Pastoren ist von der „šventoji kunigystė”, der heiligen Priesterschaft, die Rede – und kunigai, Priester, werden in Litauen eben die Pastoren genannt (leider auch bei den Reformierten und den Methodisten im Land). Im englischen Original steht hier gewiss „holy ministry”, ein Begriff, der unter konservativen Lutheranern und Reformierten gerne verwendet wird. „Ministry” kann nun aber in diesem Zusammenhang keinesfalls mit Priestertum übersetzt werden. Denn die heilige Priesterschaft ist ja in 1 Pt 2,9 in genau dieser Ausdrucksweise eindeutig eine Bezeichnung für alle Christen bzw. Gläubigen, die an Jesu Salbung Anteil haben und mit ihm Priester sind (s. auch Heidelberger Katechismus, 32), nicht nur die Pfarrer oder lit. Priester.
An dieser Stelle schreiben sich also die lutherischen Pfarrer etwas zu, was ihnen einfach nicht zusteht – nicht auf Grund der Bibel und auch nicht (s.o.) auf Grund der Lehre Luthers. Dieser nimmt auf den Vers bei Petrus in De instituendis ausdrücklich Bezug und lehnt die Interpretation, wie sie sich nun im neuen litauischen Buch befindet, vehement ab: die heilige Priesterschaft sind keineswegs nur die Pfarrer, sondern alle Christen.
Die große Tragik der heutigen lutherischen Kirche Litauens ist die grobe Vernachlässigung des Dienstes der Laien. Alle Arten von Wortverkündigung und Lehre sind Aufgabe der Pfarrer. Einzige Ausnahme: Sonntagsschule der Kinder. Selbst mit theologisch ausgebildeten Laien kann die Kirche praktisch nichts anfangen.
All dies liegt auch daran, dass der Pietismus, der einst im Memelland (wie in ganz Ostpreußen) äußerst lebendig war, aus Litauen so gut wie ganz verschwunden ist. Dies ist hauptsächlich Folge des letzten Weltkrieges. Leider wird nun an diesem großen Erbe in keiner Weise angeknüpft; nichts wird für seine Neubelebung getan.
Es war nämlich der Pietismus, der erneut das allgemeine Priestertum betonte und auch den Nichtordinierten Möglichkeiten der Wortverkündigung zugestand. In Litauen waren dies die sog. sakytojai, die (wörtl.) Redner, also Stundenhalter oder Prediger. Manche von ihnen waren noch bis in die 50er und 60 er Jahre aktiv, einige wurden nach dem letzten Krieg aufgrund des Pfarrermangels ordiniert. Heute würden solche Laienverkündiger dringend gebraucht.
In Philipp Jakob Speners Pia desideria aus dem Jahr 1675, der wohl wichtigsten Reformschrift des Pietismus, ist gleich der zweite Punkt im Reformprogramm des Frankfurter Pfarrers „Die Aufrichtung und fleißige Übung des geistlichen Priestertums”. Genau dies ist eines der Mittel, um Punkt 1 zu verwirklichen: „das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen”.
Spener nimmt direkt Bezug auf Luthers oben zitierte Schrift „an die Böhmen, wie man die Diener der Kirche wählen und einsetzen soll”. Dies solle man, so Spener, lesen, „da wird er sehen, wie stattlich erwiesen sei, dass allen Christen insgesamt ohne Unterschied alle geistlichen Ämter zustehen, obwohl deren ordentliche und öffentliche Verrichtung den dazu bestellten Dienern anbefohlen ist, und nur im Notfall von Anderen verrichtet werden mögen; die aber, welche nicht zu den öffentlichen Verrichtungen gehören, sollen immerfort zu Hause und im gemeinen Leben von Allen getrieben werden.”
Spener nennt es „eine besondere List des leidigen Teufels”, dass es „im Papsttum” dahin gekommen ist, „dass alle solche geistlichen Ämter allein der Klerisei überwiesen (die sich daher auch hochmütiger Weise allein den Namen „Geistlichen,“ welcher allen Christen tatsächlich zugehört, aneignet) und die übrigen Christen davon ausgeschlossen sind, als käme denselben nicht zu, in dem Wort des Herrn fleißig zu forschen, geschweige denn andere neben sich zu unterrichten, zu vermahnen, zu strafen, zu trösten, und das privatim zu tun, was dem Kirchendiener öffentlich zu tun obliegt; sondern als wären dies lauter Dinge, die an dem Predigtamte allein hingen.” Spener spricht von Rom, meint damit gleichzeitig aber auch seine lutherische Kirche.
Die fatale Folge der monopolisierten Wortverkündigung: „Die sogenannten Laien” sind „zu dem, was sie billig mit angehen sollte, träge gemacht, und so ist eine schreckliche Unwissenheit und Wesen entstanden.” Die „sogenannten Geistlichen” dagegen konnten nun „tun, was sie wollten, da ihnen Niemand in die Karte sehen oder die geringste Einrede tun durfte. Daher ist dieses angemaßte Monopol des geistlichen Standes neben der oben angedeuteten Abhaltung von der Schrift eins der vorzüglichsten Mittel im Papsttum, womit Rom seine Gewalt über die armen Christen befestigt hat…” Harter Tobak.
Ganz wie Luther unterstreicht Spener, dass „alle Christen zu den geistlichen Ämtern berufen” sind, „wenn auch nicht der öffentlichen Verwaltung derselben, wozu die Verordnung der das gleiche Recht besitzenden Gemeinde gehört.“ Jeder Christ ist nicht nur verpflichtet „in dem Wort des Herrn emsig zu forschen, sondern auch anderen absonderlich seine Hausgenossen, nach der Gnade, die ihm gegeben ist, zu lehren, zu strafen, zu ermahnen, an ihrer Bekehrung zu arbeiten, zu erbauen, ihr Leben zu beobachten, für alle zu beten und für ihre Seligkeit nach Möglichkeit zu sorgen.” Spener widerspricht der Auffassung, dass allein der Pfarrer zur „Beschäftigung mit Gottes Wort, Beten, Studieren, Lehren, Vermahnen, Trösten, Strafen u.s.w.” berufen sei und „dass andere sich nichts darum zu bekümmern hätten”.
Spener gibt zu bedenken, dass durch „den ordentlichen Gebrauch dieses Priestertums”, also durch die geordnete Teilnahme von Laien, „dem Predigtamte so gar kein Abbruch” geschieht. Vielmehr ist der Mangel der Laien „eine der wichtigsten Ursachen, warum das Predigtamt nicht alles das ausrichten kann, was es billig sollte”. Denn „ohne die Hilfe des allgemeinen Priestertums ist es zu schwach”; wenn, wie in der Kirche die Regel, nur einem Mann die Seelsorge anvertraut wird, kann dieser gar nicht „auszurichten, was zur Erbauung nötig ist. Wenn aber die Priester (also die Christen, die Laien) ihr Amt tun, so hat der Prediger als ihr Direktor und ältester Bruder eine bedeutende Hilfe in seinem Amte und dessen öffentlichen und besonderen Verrichtungen, so dass ihm die Last nicht zu schwer wird.”
Der Pastor allein kann all den Anforderungen von Verkündigung und Seelsorge gar nicht nachkommen. Diesen Gedanken hatte schon Martin Bucer in Von der wahren Seelsorge (1536) formuliert. Nötig sind pastorale Teams oder auch die Aufwertung des Amts des Ältesten, von denen der (meist hauptberufliche) Pastor dann nur einer ist.
Bucer war über drei Jahre hinweg Lehrer des jungen Johannes Calvins, und über Calvin haben viele Gedanken Bucers Eingang in die reformierte und presbyterianische Tradition gefunden. Spener stammte wie Bucer aus dem Elsaß und kannte daher wahrscheinlich auch die Schriften des Straßburger Reformators.
Die lutherische und die reformierte Kirche Litauens blicken auf eine lange Geschichte zurück (gegr. 1555 bzw. 1557). Gegenreformation, Kriege und Kommunismus konnten sie nicht auslöschen. Auch der theologische Liberalismus ist zur Zeit keine ernsthafte Bedrohung. Doch Orthodoxie, konservative Rechtgläubigkeit, allein reicht nicht, um das Schrumpfen der Kirchen aufzuhalten. Ihre Zukunft wird wohl davon abhängen, ob das Priestertum aller Gläubigen, die Indienstnahme der Laien, neu entdeckt wird. An den Reformatoren selbst und pietistischen Vätern wie Spener kann dabei, Gott sei Dank, angeknüpft werden.