Der behutsame Reformator
„Rasender Grobianismus“
Im vergangenen Jubiläumsjahr der Reformation war viel von Martin Luther die Rede. Natürlich wird der Reformator allgemein geachtet und als einer der wichtigsten Deutschen aller Zeiten betrachtet. Außerhalb des Luthertums wie in Teilen der Freikirchen hält sich die Begeisterung über seine Persönlichkeit jedoch in Grenzen.
Jens Stangenberg, Baptistenpastor in Bremen, hat in seiner Podcast-Serie „Radikale Reformation“ Persönlichkeiten und Strömungen der Reformationsepoche untersucht und sich dabei auf den täuferischen, anabaptistischen Flügel konzentriert. Im Hossa-Talk #82 („Reformation – Kirche zwischen Macht und Ohnmacht“) gab er offen zu, sein Lutherbild habe dabei Schaden genommen.
Er sei mehr und mehr genervt über die Mainstream-Reformationsströmungen (also Lutheraner und Reformierte), die die Reformation machtpolitisch durchgesetzt haben; der radikale Flügel sei da leider „nicht zum Zuge gekommen“, „gesellschaftliche Umbruchsenergie“ unterdrückt worden. Wer nicht Luthers Meinung war, so die Behauptung, wurde ausgegrenzt. Die andere Seite Luther war „erschreckend“. Wenn Luther sich durchsetzte, setzte er die anderen ins Abseits.
Der Vorwurf, Luther hätte Missliebige „ins Abseits“ gedrängt, tauchte ebenso in Stangenbergs Podcast Nr. 15, einem Exkurs zu Erasmus von Rotterdam, auf. Dabei kommt auch Stefan Zweig mit seiner Erasmus-Biographie mehrfach zu Wort. Der große Humanist Erasmus kritisierte, so Zweig, vor allem den demagogischen Tonfall Luthers; von allen Menschen sei dieser wohl der „fanatischste, unbelehrbarste, unfügsamste und unfriedsamste“ gewesen. Zweig wird außerdem zitiert, wenn er Luther „rasenden Grobianismus“ und „berserkerische Besessenheit“, also Fanatismus und Neigung zur Gewalt, vorwirft. Erasmus sei wie andere „von Luthers rabiater Art überrollt“ worden, so Stangenberg; „Luther und seine Mitstreiter fingen an, die Kirchenlandschaft umzuwühlen“.
Stefan Zweig als verlässliche Quelle in Fragen der Kirchengeschichte zu zitieren ist mehr als fragwürdig. Bekanntlich zeigte sich der berühmte und bis heute populäre Schriftsteller in einigen seiner historischen Werke als sehr parteiisch; im Buch zu Calvin und Castellio betrieb er unverhohlene Propaganda gegen den Reformator. Der Wahrheitsgehalt von Stangenbergs sonst an sich recht solider Information nimmt dabei selbst Schaden.
Der intolerante, machtorientierte, grobe, ja rabiate Luther? Sicher würde eine Persönlichkeit wie die Luthers heute aus der Zeit fallen. Doch das gilt auch für die von Stangenberg so geliebten Anführer der radikalen Reformation. Sie waren nicht selten aus ähnlichem Holz geschnitzt und konnten verbal ganz wie der Wittenberger über die Strenge schlagen. So kam in Ostfriesland Superintendent Johannes a Lasco den Täufern entgegen – und niemand anders als der friedliche Menno Simons verwarf kaum weniger polternd als Luther jede Einigung.
Es stimmt natürlich, dass Luther grob auszuteilen wusste. Hier und dort ist auch damals schon ein Übermaß an Schärfe bemängelt worden. Luther konnte die päpstliche Kirche, die aufständischen Bauern und gegen Lebensende die Juden sehr heftig angehen. Auch ich würde nicht jeden Satz in Luthers Schrift gegen Erasmus De servo arbitrio (Vom unfreien Willen) unterschreiben. Doch in den Hauptfragen hatte er Recht – und Erasmus lag daneben. Heiko A. Oberman ist nur zuzustimmen: „Die Nachwelt kann nur dankbar sein, dass Luther die Auseinandersetzung mit dem Rotterdamer aufgenommen hat. So konnte die Sache des erasmianischen Humanismus klar vom Anliegen der Reformation unterschieden werden.“
„Immer zurückhaltend und ehrfürchtig“
Um ein ausgewogenes Bild von Luther zu gewinnen, sollte man weniger Zweig und mehr Luther selbst lesen. Hat der Reformator die Neuordnung der Kirche wirklich so rabiat vorangetrieben, wie Stangenberg zu verstehen gibt und viele heute glauben?
Wer das Berserkerhaft sucht, wird hier und da auch fündig werden. Wen wundert’s bei gesammelten Werken, die in religiös heißen Zeiten entstanden und rund sechs Regalmeter einnehmen. In wichtigen Texten an entscheidenden Stationen der kirchlichen Erneuerung zeigte sich Luther aber von einer Seite, die dem Bild des Grobians so gar nicht entsprechen will.
Der behutsame Luther, der ganz und gar nicht überrollen will, wird besonders in der Ordnung der Messfeier und Kommunion für die Wittenberger Kirche (lat. Formula missae et communionis) aus dem Jahr 1523 erkennbar (in der lateinisch-deutschen Studienausgabe, Band 3, übersetzt von Jörg Neijenhuis).
Im sechsten Jahr nach dem Thesenanschlag war der Gottesdienst immer noch nicht grundlegend reformiert worden – allein dies ist schon Beleg dafür, dass man damals vorsichtig vorging. Im Jahr 1522 kam es auch in Wittenberg unter Karlstadt (Luther war anfangs noch abwesend) zu Unruhen und Bildersturm – radikale Reformation… Luther hielt von den Exzessen gar nichts und stoppte im Frühjahr die Gewalt. Dennoch musste nun jedoch an eine Neugestaltung des Gottesdienstes gedacht werden. Luther beginnt seine Schrift wie folgt:
„Bisher habe ich bei den Menschen mit Schreiben und Predigten versucht, die Herzen zuerst einmal von den verderblichen Ansichten über die kirchlichen Handlungen abzubringen. Ich nahm an, dass ich Christliches und Passendes täte, wenn ich dafür Sorge trüge, dass der Gräuel ohne Gewalt vernichtet würde, den der Satan durch den sündhaften Menschen an heiligem Orte aufgerichtet hat. Deswegen habe ich nichts mit Gewalt oder Befehl versucht, Altes nicht mit Neuem getauscht, bin immer zurückhaltend und ehrfürchtig gewesen, einerseits wegen im Glauben schwachen Seelen, denen man nicht unvermutet so Altes und Verwurzeltes wegnehmen und auch nicht so eine neue und ungewohnte Art und Weise Gott zu verehren einprägen kann, andererseits vor allem wegen jener ungeduldigen und hochmütigen Geister. Die stürmen gleichwie unreine Säue los, ohne Glauben und ohne Vernunft. Die wollen sich allein um des Neuen willen ergötzen…“
Luther spielt gegen Ende des Zitats an die Unruhen im Vorjahr an. Bemerkenswert ist die Rücksichtnahme auf die „im Glauben schwachen Seelen“, denen man Gewohntes eben nicht rabiat einfach so wegnehmen dürfe. Aber natürlich begriff Luther auch, dass nun etwas getan werden muss: „Nun aber besteht Hoffnung: Da viele Herzen durch Gottes Gnade erleuchtet und gestärkt wurden – und die Sache selbst es erfordert, dass doch endlich die Ärgernisse aus dem Reich Christi entfernt werden – muss im Namen Christi etwas gewagt werden.“ Nun gilt es den Menschen konkrete „Hilfe [zu] gewähren“, denn „alle Gräuel“ der römischen Messe dürfen nicht weiter befestigt werden. Luther will nun „darlegen, wie man in einer gottesfürchtigen Weise Messfeier halten und zur Kommunion gehen kann“.
Der Reformator bekräftigt, „dass es niemals in unserem Sinn gewesen ist noch war, allen Gottesdienst abzuschaffen, sondern den, wie er jetzt gebräuchlich, aber durch schlechteste Zusätze verderbt ist, zu reinigen und einen gottesfürchtigen Gebrauch aufzuzeigen. Denn wir wollen doch nicht abstreiten, dass Messfeier, Kommunion von Brot und Wein, eine Ordnung ist, die Christus in göttlicher Weise eingesetzt hat.“
Eben typisch lutherisch will er das Gute behalten und nur die Missstände, die „gottlose Fürsten“, „unsere Bischöfe und Pfarrer“, eingeführt hatten, beseitigen. Vor allem der Opfercharakter der römischen Messe ist Luther ein Dorn im Auge: „Da fing die Messfeier an, ein Opfer zu werden…“ Seine Kritik richtet sich auch auf das ganze Drumherum: „Dann noch die äußeren Zusätze der Gewänder, der Gefäße, der Kerzen, der Altartücher, alsdann die Orgeln und die ganze Musik, die Bilder – was soll ich sagen? In der ganze Welt gibt es so gut wie kein Handwerk, das nicht einen großen Teil seines Handels und Gewinns von der Messfeier hat und dadurch ernährt wird.“
Luther skizziert einen Gottesdienstablauf, der auch heute noch in der Liturgie vieler lutherischer Kirchen erkennbar ist. Er zeigt dabei durchaus Grenzen auf: „Wir Wittenberger trachten, allein die Sonntage und Feste des Herrn zu feiern und alle Feste der Heiligen ganz und gar abzuschaffen.“ Dennoch wolle man auch „nachsichtig sein gegenüber der allgemeinen Gewohnheit.“
Selbst die „Predigt in der Muttersprache“ oder ein kompletter Ablauf des Gottesdienstes in deutscher Sprache wurde nicht durchgedrückt (bekanntlich schuf erst Thomas Müntzer im Jahr 1525 die erste rein deutsche Gottesdienstliturgie). Luther hatte dies aber als Ziel vor Augen: „Sollte es in Zukunft möglich sein, die Messfeier in der Muttersprache zu halten – dazu möge Christus seine Gunst geben –, muss man sich Mühe geben, dass in der Messfeier aus den Episteln und den Evangelien die besten und gewichtigsten Stellen gelesen werden.“
Bei der Abendmahlsliturgie selbst sieht Luther den meisten Reformbedarf: „Es folgt nun jener ganze Gräuel, dem zu dienen all das gezwungen wurde, was in der Messfeier voranging, weshalb er auch Opfergang genannt wird. Und ab hier klingt und stinkt alles nach Opferdarbringung…“ Deshalb soll alles verwerfen werden, „was nach Opfer klingt, mitsamt dem ganzen Messkanon. Wir halten fest, was rein und heilig ist…“
Anderes wird mit klaren Empfehlungen versehen: „Es gehört sich nicht, die Fastenzeit oder die Karwoche oder den Karfreitag durch besondere Riten oder in welcher Weise auch immer hervorzuheben…“ Wieder bei anderen Fragen – purer oder verdünnter Wein? – will Luther „gegen die Freiheit kein abergläubisches Gesetz einführen“. Auch die Kultgewänder kann man „frei gebrauchen“, soll sie aber nicht weihen und segnen und nicht für heiliger als andere Kleider halten.
Abschließend formuliert er zum Ablauf des Gottesdienstes: „In allen diesen Dingen sollte vermieden werden, dass wir aus der Freiheit ein Gesetz machen“, womit man „die Gewissen verstrickt und plagt“. Wer eine andere Ordnung im Rahmen des Erlaubten bevorzugt, soll dafür nicht gerichtet und verachtet werden. Schließlich machen „die äußerlichen Ordnungen… uns vor Gott nicht empfehlenswert.“
Luther nimmt auch in diesem Text an einigen Stellen kein Blatt vor den Mund. In Wittenberg gäbe es immer noch „Abgötterei“ in einem „Haus des Verderbens“ – gemeint ist das Messopfer nach römischem Ritus. Dennoch hält er fest: „Es gehört sich aber nicht, mit Gewalt oder Zwang gegen sie zu wüten, denn es geziemt sich für uns Christen, nur mit dem kraftvollen Schwert des Geistes zu kämpfen.“
Abgesehen vom Opfercharakter der Messe gilt, „dass die Freiheit in diesen Dingen regieren soll und man die Gewissen nicht mit Gesetzen und Vorschriften gefangen nehmen darf. Deshalb schreibt die Schrift in diesen Dingen nichts vor, sondern sie lässt die Freiheit des Geistes nach seiner Überzeugung walten je nach Beschaffenheit des Ortes, der Zeit und der Personen.“
Sicher wäre aus reformierter Perspektive zum Thema Gottesdienst einiges zu ergänzen, und es stimmt natürlich auch, dass Luther ein paar Jahre später (nach der Erfahrung der Bauernkriege) nicht mehr so vollmundig von Gewissensfreiheit sprach. Aber dieser Luther – gleichzeitig prinzipienfest und einfühlsam – gehört eben auch zum Gesamtbild des Reformators. Er wollte die Menschen mitnehmen, sie nicht überrollen. Luther verfolgte einen pädagogischen Ansatz wie auch bei der Frage der Bilder: Besser man kommt irgendwann ganz ohne sie aus; entsprechende müssen die Menschen aber vorher unterweisen und belehrt werden.
Luther war Universitätsprofessor, aber eben auch – wie praktisch alle Reformatoren – Gemeindepastor. In dem zitierten Text kommt der Seelsorger und Hirte zu Wort, der auf seine Schafe nicht eindrischt, sondern sie behutsam führt und weidet. Auch die anabaptistischen Freunde sollte mehr und breit Luther lesen – das Lutherbild wird sich wohl eher aufhellen.