Perle und Sauerteig
Was ist die Aufgabe der Kirche? Und was ist das Evangelium? Dies sind ganz zentrale Fragen, die heute gerne so beantwortet werden: Die Kirche muss sich mehr um Menschen in Not kümmern; sie muss mehr Gutes tun und sich auf den Weg machen zu denen, die Gott besonders am Herzen liegen, also den Armen, Elenden, Hilfsbedürftigen – „erst Diakonie, dann Verkündigung“, so die These.
Die entsprechende Gute Nachricht ist ein Evangelium der Nächstenliebe; „Lebt so, wie Jesus gelebt hat“ (T. Hebel); „Wenn möglich helfen Sie anderen, und wenn Sie dies nicht können, dann tun Sie ihnen zumindest nichts Böses“ (Dalai Lama) – auf jeden Fall kein „Bekehrungsevangelium“.
Natürlich sind Diakonie und Nächstenliebe, das Kümmern um die Armen und das Tun von möglichst viel Gutem genau das: gut. Dennoch bleibt die Vorordnung der Tat vor dem Wort in der Beantwortung der Eingangsfragen problematisch. Zwei große Neocalvinisten aus den Niederlanden gaben um 1900 bessere Antworten, und sie verloren dabei das nun so geschätzte Soziale keineswegs aus den Augen.
Reformation statt Revolution
Herman Bavinck (1854–1921) gehört zweifellos zu den wichtigsten reformierten Theologen in der Kirchengeschichte. Jahrzehntelang lehrte er in Kampen, später an der Freien Universität in Amsterdam. Seine reformierte Dogmatik liegt seit einigen Jahren in vier Bänden in englischer Sprache vor und besticht durch Kenntnisreichtum, Aktualität und Klarheit.
Bavincks Schriften zeugen von hervorragenden Kenntnissen in vielen Wissenschaftsgebieten. Es gibt kaum ein gesellschaftliches Thema der Zeit, zu dem er nicht Stellung genommen hätte. Inzwischen liegt eine Sammlung von Essays on Religion, Science and Society aus der Feder Bavincks vor, darin der Aufsatz „Christian Principles and Social Relationships“.
Bavinck betont darin, dass der einzige Weg in das Reich Gottes in Wiedergeburt, innerem Wandel, Glaube und Bekehrung besteht. In dieser Hinsicht sind alle Menschen vor Gott gleich. Die Wiedergeburt führt so zur Geburt einer neuen Menschheit. Die Erretteten, die erwählte Familie Gottes, ist eine heilige Nation, eine heilige Priesterschaft, ein Leib mit vielen Gliedern.
Selbst wenn keine sozialen Veränderungen von dieser geistlichen und heiligen Gemeinschaft ausgegangen wären, so Bavinck weiter, hätte sie an sich einen unvergleichlichen Wert – genau so, wie die „kostbare Perle“, mit der Jesus in Mt 13,45–46 das Reich Gottes vergleicht. Der Theologe schlussfolgert: „Die Bedeutung des Evangeliums hängt nicht von seinem Einfluss auf die Kultur ab, von seiner Nützlichkeit für das Leben heute; es ist in sich selbst ein wahrer Schatz – selbst wenn es kein Sauerteig wäre.“
Nun betont Bavinck sogleich aber auch, dass das Evangelium ebenfalls wie ein Sauerteig wirkt. Das Bild stammt aus dem gleichen Kapitel bei Matthäus (Mt 13,33). Das Evangelium hatte und hat große Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen; die Gnade erneuert alle unsere menschlichen Beziehungen. Die Schöpfungsordnungen werden nun durch die Barmherzigkeit Christi geprägt.
Das Evangelium darf jedoch nicht zu einem politischen Programm werden. Es konzentriert sich direkt allein auf die Aufhebung der Sünde; es ist eine Reformation, die am Herzen des Einzelnen ansetzt. Solch veränderte Menschen durchdringen dann mit ihrem reformierten Wertesystem Familie, Wirtschaft und Arbeit, staatliche Einrichtungen und die Kultur im Allgemeinen. Die Frucht des Evangeliums ist eine Umwandlung des Denkens und Lebens, von ganzen Kulturen und Gesellschaften. In dieser Weise wirkt das Evangelium als alles durchdringender Sauerteig.
Säkulare Heilsideologien wie Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus bekämpfen hingegen, so Bavinck, nicht die Sünde im Herzen des Menschen. Sie identifizieren Sünde, das Böse, mit dem wahrgenommenen natürlichen Zustand. Und da sie keinen Sündenfall kennen, werden Schöpfung und Fall vermischt und so die Familie selbst oder die Wirtschaftsordnung oder Obrigkeit an sich zum Problem. Dann heißt die Schlussfolgerung nicht Reformation, sondern Revolution.
Das Evangelium ist also zuerst kostbare Perle, an sich wertvoll und als solche hochzuschätzen. Das Evangelium hat, mit Bonhoeffer gesprochen, mit dem Letzten zu tun, den ewigen Heil. Von dieser Priorität her kann es dann auch im Vorletzten, in den natürlich Ordnungen dieser Welt als Sauerteig wirken.
Die anstößige Gabe
Soziale Aktivität, gesellschaftliches Engagement und Diakonie usw. werden heute gerne als das „plausiblere Zeugnis des Christentums“ bezeichnet. Wer hat schon etwas gegen das Tun des Guten durch Christen?
Auf eine gewisse Weise ist dies wahr – und umso fataler. Im Mittelpunkt des Evangeliums steht bekanntlich aber das „Wort vom Kreuz“ (1 Kor 1,18), die Botschaft von Jesu Opfer auf Golgotha. Nichts konnte damals unplausibler sein. Dies Wort vom stellvertretenden Tod des Sohnes Gottes ist das Herz der Guten Nachricht und wird in den Augen der Welt immer eine „Torheit“ bleiben.
Denn wer an der Torheit nicht festhält, an der provozierenden Andersartigkeit des Evangeliums, der wird auch die positiven Folgen für Kultur und Gesellschaft verlieren. Man vergesse nämlich nicht, dass die vielfachen segensreichen Veränderungen, die das Christentum im Laufe der Zeit mit sich brachte, anfangs nicht selten ebenfalls anstößig anders und in den Wahrnehmung der Zeitgenossen töricht waren. Dies gilt z.B. für das Abtreibungsverbot, den allgemeinen Ruhetag, die Krankenfürsorge, die Sicht zur Sklaverei usw. Es war ja keineswegs so, dass die nichtchristliche Umwelt einhellig von einer plausiblen christlichen Sozialethik leicht überzeugt worden wäre. Viele Kernüberzeugungen der Christen setzten sich deshalb auch nur langsam durch, nicht selten gegen Widerstand.
Dieser Zusammenhang kann auch an Luthers Unterscheidung von Christus als Gabe und Vorbild in Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll (1522) deutlich gemacht werden. Das Evangelium schenkt dem Glaubenden Christus als Gabe, so Luther: „Das Hauptstück und der Grund des Evangeliums ist, dass du Christus, ehe du ihn zum Vorbild nimmst, zuvor entgegennimmst und erkennst als eine Gabe und ein Geschenk, das dir von Gott gegeben und dein eigen ist.“ Diese Gabe ist zuerst anzunehmen, und hier haben unsere Werke und guten Taten nichts verloren. Der Glaube allein rettet, aber er bleibt nicht allein oder faul, wie Luther sagte. Wer die Gabe empfangen hat und seine Größe begreift, wird dann gerne dem Vorbild Jesu folgen.
Wer das Evangelium direkt plausibel machen will, der wird gerne auf Jesus als Vorbild verweisen. Und tatsächlich ist der weise Menschheitslehrer und das moralische Vorbild Jesus kaum jemandem ein Anstoß. Diesen Jesus können Buddhisten und Muslime, Esoteriker und Agnostiker ohne große Probleme in ihr jeweiliges Weltbild integrieren. Selbst eingefleischte Atheisten wie einst Bertrand Russell oder nun Richard Dawkins können zu diesem Jesus positive Worte finden. Aber der Jesus als Gabe? Als Gott und Mensch, als derjenige, der für sein Volk starb und auferstand und der alles tat, damit Menschen gerettet werden können, der also uns am Heil noch nicht einmal unseren Anteil tun lässt, der wird immer ein Anstoß bleiben.
Die Gabe begründet also das Vorbild, die Perle das Wirken als Sauerteig.
Kirche als Institution und Organismus
Bavincks Vorgänger als Professor für Dogmatik an der Freien Universität in Amsterdam war Abraham Kuyper (1837–1920). Der Theologe, Staatsmann und Journalist unterschied zwischen der Kirche als Institution und als Organismus (so schon in seiner Antrittspredigt als junger Geistlicher in Amsterdam, nun in Rooted & Grounded). Dieser Unterscheidung steht mit den obigen in enger Verbindung.
„Institution“ ist die organisierte, sichtbare Kirche mit ihren Ämtern, Ordnungen, Gottesdiensten, Sakramenten usw. Die Kirche als „Organismus“ ist weitgehend unsichtbar und durchdringt alle Lebensbereiche, denn Christen leben ihren Glauben überall im Licht des Evangeliums und der göttlichen Wahrheiten. Der einen Kirche entspricht das Bild eines Gebäudes, sie wird gebaut; die andere kann mit organischen Bilder umschrieben werden, sie wächst.
Die Kirche als Institution ist gleichsam die Heimat der besonderen Gnade. Ihre erste und direkte Berufung ist es, „die Heiligen [die Gläubigen]… zu sammeln und zu vervollkommnen“ (Westminster-Glaubensbekenntnis, 25.3). Vor allem hier nutzt der Heilige Geist die Bibel und das gepredigte Wort sowie die Sakramente, um Glauben zu schaffen. Die Aufgabe der Kirche ist es, dies Wort möglichst umfassend und klar zu lehren. Die Kirche als Institution soll also vor allem treu das Evangelium und die Gebote verkündigen.
Damit ist aber noch nicht alles gesagt. Kuyper knüpft am biblischen Bild des Lichts an. Christus ist das „Licht der Welt“ oder „der Heiden“ bzw. Völker (Jes 42,6; 49,6; Joh 3,19; 8,12). Gott selbst ist Licht (1 Joh 1,5). Daher sollen auch die Gläubigen Licht sein und ihren Herrn widerspiegeln. Christen sind aufgerufen „als Lichter in der Welt“ (Phil 2,15) zu scheinen, „Kinder des Lichts“ (Eph 5,8; 1 Thes 5,5) zu sein.
Die Kirche versammelt alle, in deren Herzen Gott einen „hellen Schein“ gegeben hat (2 Kor 4, 6), all diejenigen, die aus der Dunkelheit ins Licht getreten sind (1 Pt 2, 9). Jesu bekannte Wort in der Bergpredigt (Mt 5,14–16): „Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind. So laßt euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“
Dies Bild erweiternd bemerkt Kuyper nun: „Obwohl die Lampe der christlichen Religion nur innerhalb der Wände der Institution [der Kirche] brennt, scheint sein Licht durch dessen Fenster weit hinaus, erhellt alle Bereiche und Vereinigungen, die im weiten Spektrum des menschlichen Lebens und der menschlichen Aktivitäten erscheinen. Justiz und Recht, das Heim und die Familie, Geschäftsleben, öffentliche Meinung und Literatur, Kunst und Wissenschaft und vieles andere mehr werden durch das Licht erhellt; und die Erleuchtung wird umso stärker und durchdringender sein, je heller und klarer die Lampe des Evangeliums in der Kirche selbst scheint.“ („Common Grace“)
Die Stadt auf dem Hügel ist die Kirche als Institution. Sie muss sich von ihrer Umgebung unterscheiden. Kuyper fordert daher auch eine klare Trennung von Kirche und Bürgergesellschaft bzw. Staat. Damit die Lampe des Glaubens leuchten kann, braucht die Kirche volle Freiheit, um Kirche nach den eigenen Grundsätzen zu sein (ohne staatliche Einmischung). Sie muss ihren besonderen Charakter als Gemeinschaft der Erretteten bewahren und sich in diesem Sinne um Reinheit bemühen.
Ist dies gewährleistet, leuchtet sie nach draußen, „weit hinaus“ in die breite Gesellschaft hinein. Dies ist der Bereich der allgemeinen Gnade, und in diesem wächst die Kirche als Organismus und zwar durch „mutiges Handeln der Kirchenmitglieder in allen Bereichen des Lebens“.
Kuyper gibt nun aber zu bedenken, dass „die Segnungen des Christentums nur dann im weiten Bereich des menschlichen Lebens wirksam sein können“, d.h. die Kirche als Organismus nur dann wachsen wird, „wenn sich die institutionelle Kirche an den Forderungen der Schrift orientiert“, also das tut, wozu sie zuerst berufen ist. Er warnt vor einer falschen Vermischung von Kirche und Welt. Wenn die Kinder des Lichts in die eigenen Reihen zu viele Kinder der Finsternis lassen, wird das Licht selbst verblassen oder womöglich ganz zu leuchten aufhören. Nur wenn die Gläubigen ihre Identität als Lichtträger bewahren, kann ihr Licht das Dunkel in der Welt erhellen. Nur wenn die Kirche anders als die weltliche Gesellschaft ist, können sie einen Einfluss auf diese nehmen.
Der „helle Schein“ wird den Gläubigen gegeben, es ist Christus als Gabe, es ist die kostbare Perle als Geschenk. All dies steht im Mittelpunkt des Wirkens der Kirche als Institution. Das Licht, das durch das Fenster dieser Kirche weit hinaus scheint, das „mutige Handeln der Kirchenmitglieder in allen Bereichen des Lebens“, das Nachfolgen Jesu als Vorbild, Christen als Sauerteig in der Welt – das ist die Kirche als Organismus.
Damit ergibt sich ein klares Bild dieser verschiedenen Stimmen: Das Evangelium ist Perle, wertvoll an sich, dann aber auch Sauerteig; Christus ist Gabe, dann aber auch Vorbild; Kirche ist Heilsinstitution, dann aber auch Veränderung schaffender Organismus; das Christentum hat einen anstößigen Kern, dessen Wirkungen sich aber auch der Welt als segensreich erweisen; wer zuerst das Letzte wählt, dem wird auch das Vorletzte geschenkt, wer auf die Ewigkeit ausgerichtet ist, der wird in dieser Welt verändernd und segnend wirken.