Der Hellseher
Die Standhaften
Der Zweite Weltkrieg schlug eine breite Schneise durch Europa und Asien. Besonders hart traf es die „bloodlands“, so Timothy Snyders Buchtitel, die blutgetränkten Länder zwischen Baltikum und Ukraine. Rund sechs Millionen Polen kamen in den sechs Jahren um; in Litauen wurde die jüdische Bevölkerung bis auf ein paar Tausend vollständig ausgerottet; und in Weißrussland blieben wohl kein einziges Dorf und keine einzige Stadt von Zerstörung verschont.
Grausige Zahlen hat der Krieg auch in Asien zu bieten. Insgesamt zweihunderttausend Tote kostete allein die Eroberung von Okinawa von April bis Juni 1945. Zigtausende starben unmittelbar durch die Bombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki Anfang August. Der wohl tödlichste Tag, den es je in der Geschichte menschlicher Kriege gegeben hatte, war aber der 9./10. März 1945: Beim Brand von Tokyo kamen nach einem Großeinsatz von Bombern bis zu einhundertfünfzigtausend Menschen um.
Der volle Einsatz von drei Staaten war nötig, um die Achsenmächte niederzuringen. Die Sowjetunion war das Land, das die meisten Opfer zu verzeichnen hatte: kaum fassbare 25 Millionen Soldaten und Zivilisten. Die Zahl ist nicht zuletzt auch wegen Stalins törichten strategischen Entscheidungen und seiner großen Menschenverachtung so hoch.
Die USA hatten neben den Sowjets die größte Zahl von Männern unter Waffen (12 Millionen), aber die mit Abstand geringste Verlustrate (eine Viertelmillion Gefallene). Ihre Logistik, Luft- und Marineschlagkraft war überragend. Dank ihrer gewaltigen, ja fast unendlichen Produktionskapazitäten erdrückte das Material Deutschland und Japan.
Großbritannien war die einzige Macht im Weltkrieg, die vom ersten bis zum letzten Tag des Krieges kämpfte; das einzige Land, das dem Dritten Reich eine Weile ganz allein gegenüber stand; der einzige Staat, der in den Krieg zog, um einem Verbündeten zu helfen (nämlich Polen) – nicht, weil er angegriffen worden war (USA, UdSSR) oder um auf Eroberungszug zu gehen (Deutschland, Japan, Italien).
Der russische Blutzoll und die amerikanischen Fabriken waren nötig, um Hitler den Garaus zu machen. So kam es am Ende, 1945. Zig Millionen ließen ihr Leben für den Sieg der Alliierten. Aber es hätte alles noch schlimmer kommen können, viel schlimmer.
1940 war Stalin noch treuer Verbündeter der Nazis, und in den USA dachte niemand im Traum an einen Kriegseintritt in Europa. Die Wehrmacht überrannte die Niederlande, Belgien und Frankreich, und auf einmal standen die Briten allein da. Wären sie nicht standhaft geblieben, hätten sie nicht weitergekämpft, hätte sich Hitler auf dem Kontinent häuslich einrichten können. Aus fünf Jahren Naziherrschaft wären womöglich Jahrzehnte geworden. Schon 1941 hätte der Diktator alle Kräfte bündeln und dann wohl sogar ein Angriff auf die Sowjetunion siegreich beenden können. Ein braunes Europa vom Atlantik bis zum Ural – man mag es sich gar nicht ausdenken.
Die Briten blieben im Juni 1940 jedoch standhaft. Genauer gesagt: Ein Mann weigerte sich, mit den Nazis auch nur zu verhandeln. Der britische Premier Winston Churchill (1874–1965) lehnte trotz der Niederlage Frankreichs und Großbritanniens einen Ausgleich mit Hitler konsequent ab. Hätte Churchill dem Drängen in seinem Kriegskabinett, vor allem durch Außenminister Lord Halifax, nachgegeben, wäre das Schicksal Europas wohl für viele Jahre besiegelt gewesen.
„Wir werden uns nie ergeben“
In das Ringen der entscheidenden Wochen im Mai und Juni 1940 führt der Film „Die dunkelste Stunde“ (Darkest Hour) hinein. Gewiss dramatisiert der Film die Ereignisse etwas, aber der historische Ablauf der Wochen, ja Tage wird korrekt nachgezeichnet. Gary Oldman glänzt als britischer Premier und ist natürlich für einen „Oscar“ in diesem Jahr nominiert.
Churchill-Filme gab es schon einige. Im vergangenen Jahr konzentrierte sich „Churchill“ auf die Landung in der Normandie 1944. Der Film spielte aber nicht einmal seine Produktionskosten ein. Weitgehend positiv bewertet wurde dagegen der TV-Film „The Gathering Storm“ (2002) mit Albert Finney in der Hauptrolle, der die 30er Jahre abdeckte.
„Die dunkelste Stunde“ spannt den Bogen zwischen zwei wichtigen Reden Churchills. Der Film beginnt mit dem 9. Mai, einen Tag vor der Ernennung zum Regierungschef einer Allparteienkoalition durch den König. Am Tag des Amtsantritts beginnt Hitler auch seinen Westfeldzug – was für ein Zufall! Am 13. Mai sehen wir Churchill im Unterhaus in London bei seiner ersten großen Rede, die heute nach dem berühmten Satz „I have nothing to offer but blood, toil, tears, and sweat“ (Ich habe nichts außer Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß zu bieten) benannt wird.
Die französische Armee brach bald überraschend schnell zusammen. Die britische Armee wurde im nordfranzösischen Dünkirchen (Dunkerque) eingeschlossen, konnte aber in der Aktion „Dynamo“ in wenigen Tagen bis Anfang Juni über den Kanal nach England evakuiert werden (Thema des Films „Dunkirk“ im vergangenen Jahr, Christopher Nolan erhielt den „Oscar“ für die beste Regie). Wären die über dreihunderttausend Soldaten der Briten in deutsche Gefangenschaft geraten, hätte die Insel ohne Armee dagestanden.
„Die dunkelste Stunde“ endet mit Churchills großer Rede nach der geglückten Rettung der Soldaten am 4. Juni. Hitler hatte im Westen gesiegt, aber Churchill impfte seinen Landsleuten Widerstandsgeist ein: „Wir werden bis zum Ende gehen. Wir werden in Frankreich kämpfen, wir werden auf den Meeren und Ozeanen kämpfen. Wir werden mit wachsender Zuversicht und wachsender Stärke in der Luft kämpfen. Wir werden unsere Insel verteidigen, was immer es kosten mag. Wir werden an den Stränden kämpfen, wir werden an den Landungsplätzen kämpfen, wir werden auf den Feldern und auf den Straßen kämpfen, wir werden in den Hügeln kämpfen. Wir werden uns nie ergeben.“
Zwischen beiden Reden lagen die dramatischen Stunden Ende Mai, die auch den Höhepunkt des jüngsten Films darstellen. Als sich die Niederlage gegen Deutschland klar abzeichnete, machte Außenminister Lord Halifax den Vorschlag, mit den Nazis Verhandlungen zu beginnen. Ein entsprechender Vermittlungsvorschlag Mussolinis war eingegangen. Dahinter stand natürlich niemand anders als Hitler selbst.
Boris Johnson, selbst nun Außenminister des Königreichs, widmete „Hitlers Angebot“ das erste Kapitel in seinem Der Churchill-Faktor. Die im Film als hoch emotional dargestellte Diskussion im Kriegskabinett war tatsächlich, so der Politiker der Tories, ein „Wendepunkt in der Weltgeschichte“. „Die wichtigste geostrategische Erkenntnis vom Mai 1940 war, dass Großbritannien, das Britische Empire, allein war. Es gab keine realistische Aussicht auf Hilfe, jedenfalls eine unmittelbar vorbestehende Aussicht“, meint Johnson. Alle in Churchills Kabinett hatten im Ersten Weltkrieg gekämpft; die Erinnerung an das Gemetzel war noch recht frisch. Sie und viele Briten wollten eine „vernünftige“ Lösung – zumal nicht wenige den deutschen Diktator als das kleinere Übel im Vergleich zum Kommunismus und Stalin sahen. Expremier Lloyd George besuchte Hitler sogar auf dem Berghof und plauderte nett mit dem Tyrannen.
Alles hing damals tatsächlich von der Entscheidung des Premiers ab. Es stand alles auf Messers Schneide. „How One Man Made History“, wie ein Mann Geschichte schrieb, so der Untertitel von Johnsons Buch im Original. Churchill war genau der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. 1940 hätte wohl tatsächlich niemand anderes das zustande gebracht, was Churchill damals tat.
„Das Überleben der christlichen Zivilisation“
Churchill war, anders als allen seinen Politikerkollegen, schon sehr früh klar, welche Gefahr von Hitler ausging. Er sah schon 1924 deutlich, dass das Deutsche Reich auf Revanche aus war und diese auch aktiv suchen werde. Ab 1930 hatte er Hitler deutlich auf dem Radar, und ihm war von da an bewusst, wohin die Reise mit „diesem Mann“ gehen würde. Schließlich hatte er auch Mein Kampf gelesen. 1935 formulierte Churchill schon konkret die Gefahr einer Unterwerfung Europas durch Hitler.
Der Sohn einer Amerikanerin und eines englischen Aristokraten hatte nicht wenige charakterliche Schwächen (eine oder andere wird auch im Film deutlich) und machte so manchen großen Fehler in seiner politischen Karriere. Doch Churchill brachte einen großen Erfahrungsschatz als Soldat, Journalist und in vielen Regierungsämtern mit. Vor allem hatte er einen ungeheuer klaren Blick für das Böse. Er sah geradezu hellseherisch voraus, wozu Hitler (aber auch Stalin) fähig sein würde. Persönlich nicht religiös veranlagt, begriff Churchill aber dennoch, welch große Errungenschaft die Werte unserer westlichen und christlichen Zivilisation darstellen.
„Er war bereit, den Blutzoll zu zahlen, weil er in Wirklichkeit die Lage klarer als Halifax einschätzte“, so Johnson. „Er hatte den enormen und fast schon aberwitzigen Mut, sich einzugestehen, dass ein Weiterkämpfen entsetzlich, eine Kapitulation aber noch schlimmer wäre. Er hatte Recht.“ Kapitel 2 von Der Churchill-Faktor gab Johnson den Titel „Das Universum ohne Churchill“. Man mag sich im Rückblick gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wären die Briten auf den ‘vernünftigen’ Kurs des Halifax eingeschwenkt. Die Isolationisten in den USA wären gestärkt worden. Denn wenn die Briten den Kampf gegen Hitler nicht riskieren wollen, so die Amerikaner, warum dann wir?
„Wenn Großbritannien im Jahr 1940 einen Handel eingegangen wäre…, dann hätte die Befreiung des Kontinents nicht stattgefunden. Dieses Land wäre dann kein Schutzhafen des Widerstands gewesen, sondern ein finsterer Vasallenstaat einer grausamen Nazi-EU.“ Hätte Churchill nicht in den entscheidenden Stunden die richtigen Weichen gestellt, „dann wäre der Nazi-Zug weitergerollt.“
Johnsons fasst zusammen: „Ich glaube kaum, dass sich viele Menschen meiner Generation, geschweige denn der Generation meiner Kinder, ganz darüber im Klaren sind, wie nahe wir diesem Szenario waren; wie einfach sich Großbritannien, unauffällig und durchaus mit einiger Berechtigung im Jahr 1940 aus dem Krieg hätte zurückziehen können. Etliche ernstzunehmende und einflussreiche Stimmen plädierten dafür, in ‘Verhandlungen’ zu treten.“
Am 18. Juni hielt Churchill eine weitere große Rede: „Their Finest Hour“, ihre größte Stunde. Die „Battle of Britain“, die Schlacht um Britannien, stand noch bevor; aus ihr wurde im Sommer und Herbst 1940 zum Glück nur eine Luftschlacht und keine Invasion (nicht zuletzt auch deshalb, weil die Briten große Teile der französischen Flotte in Besitz nahmen oder zerstörten, damit sie nicht in Hitlers Hände geraten konnte). Von diesem Kampf „hängt das Überleben der christlichen Zivilisation ab“, so der Premier dramatisch. „Hitler weiß, dass er uns auf dieser Insel brechen muss oder er wird den Krieg verlieren“. Wenn Großbritannien standhält, gibt es vielleucht Hoffnung auf Freiheit. Wenn nicht, dann droht der Kontinent „in den Abgrund eines neuen Dunklen Zeitalters [zu] fallen“, und durch moderne Technologien und eine „pervertierte Wissenschaft“ werde dieses dunkle Zeitalter böser und unheimlicher als frühere.
Im selben Jahr 1940 hielt ein anderer Veteran des Ersten Weltkrieges einen Vortrag zum Thema „Why I Am Not a Pacifist“, Warum ich kein Pazifist bin. C.S. Lewis betont darin: „Natürlich ist Krieg etwas sehr Schlimmes. Aber das ist gar nicht die eigentliche Frage. Die Frage lautet, ob Krieg das schlimmste Übel auf der Welt ist, so dass jeder andere Zustand, den eine Unterwerfung zur Folge haben könnte, auf jeden Fall vorzuziehen wäre. Und für diese Auffassung sehe ich keine wirklich zwingenden Gründe.“ Die vollständige Ausrottung einer „höherentwickelten Kultur“ – und damit meinte Lewis natürlich unsere westliche, christlich geprägte Welt – sei noch schlimmer als die „Katastrophe“ eines Krieges.
Nach dem Sommer 1940 sollte noch Schlimmes kommen, viele Millionen starben gerade 1944/45, mehrere Hunderttausend Briten ließen noch ihr Leben. Aber wenigstens halb Europa war am Ende frei, und fünfzig Jahre später der ganze Kontinent. Nicht zuletzt Churchill, den Gott zum hellen und klaren Seher gemacht hat, ist diese Entwicklung zu verdanken.
Mit dem anderen Film meinst du wohl “Dunkirk”?