„Unser Vater im Himmel“ (I)

„Unser Vater im Himmel“ (I)

„O Gebärer(in)! Vater-Mutter des Kosmos, Bündele Dein Licht in uns – mache es nützlich: Erschaffe Dein Reich der Einheit jetzt. Dein eines Verlangen wirkt dann in unserem – wie in allem Licht, so in allen Formen…“ So verschwommen beginnt ein esoterisches ‘Vaterunser’, das angeblich die wahre Bedeutung des Gebets Jesu widergibt. Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie, beginnt seine Version so: „Vater, der du warst, bist und sein wirst in unser aller innerstem Wesen!“ Das Vaterunser aus dem Matthäusevangelium gehört heute anscheinend allen. Und jeder macht damit, was er will. Neal Donald Walsch stellt es in Gespräche mit Gott, Band 3 sogar ganz auf den Kopf. Dort sagt Gott zu den Menschen: „Meine Kinder, die ihr im Himmel seid, geheiligt ist euer Name. Euer Reich ist gekommen, und euer Wille wird geschehen…“

Dies ist die alte Taktik des Teufels: Er nimmt das Wort Gottes und verdreht es. Die Wörter behalten ihren religiösen Klang. Aber sie haben mit Gott und dem Glauben nur noch die Form gemein. Tatsächlich ist das Vaterunser das Gebet der Christen, der wirklich glaubenden Christen; all derjenigen, die das Evangelium persönlich angenommen haben. Was für ein Gebet ist dies? Bevor wir auf die Anrede Gottes eingehen, seien hier nur drei Dinge genannt.

Kürze

Das Vaterunser ist ein umfassendes Gebet, das aber gleichzeitig recht kurz ist. Im Abschnitt der Bergpredigt Mt 6,5f über das Gebet betont Jesus ja vor allem diesen Aspekt. „Beim Beten sollt ihr nicht leere Worte aneinander reihen wie die Heiden“, so in Vers 7. Diese versuchen durch eine Fülle von Worten die Götter zu beeindrucken. Echtes Gebet muß jedoch von Herzen kommen. Es ist in der Regel einfach und klar und meist kurz. Natürlich gibt es in der Bibel auch längere Gebete wie z.B. das Bußgebet in Daniel 9, aber ein anderes vorbildliches Bußgebet besteht aus einem Satz: „Gott, vergib mir sündigem Menschen meine Schuld!“ (Lk 18,13)

Auch die Anrede Gottes fällt knapp aus, und dies ist alles andere als selbstverständlich. Man betrachte zum Vergleich nur ein buddhistisches Gebet an die Göttin Tara, in dem eingangs nicht weniger als 108 Namen aneinandergereiht werden. All dies seien wundersame Namen, und wer sie drei Mal wiederholt, und zwar bewusst, sauber gewaschen und in Andacht, derjenige könne selbst die königliche Ehre erlangen.

Die Bibel nennt natürlich auch viele Namen und Titel Gottes. Aber von uns Gläubigen wird nun eben nicht verlangt, diese alle (oder möglichst viele davon) im Gebet aufzuzählen oder auch seine Eigenschaften aneinanderzureihen. Außerdem hat das Sprechen von Gottesnamen keinerlei magische Wirkung. Jesus sagt uns hier im Prinzip: Ihr könnt Gott ganz einfach anreden und dürft euch auf einen Titel beschränken: Vater.

Freiheit

Das Gebet ist ein zentrales Element im Glaubensleben. In der Bibel begegnen wir verschiedenen Gebetsweisen und -traditionen. So betete der Prophet Daniel drei Mal am Tag und zwar auf Knien (Dan 6,11). Jesus gab nun hier den Jüngern und damit ja auch der ganzen Kirche Anweisung, wie zu beten sei. Aber hier und auch sonst finden wir im Neuen Testament keine konkreten Vorschriften von Gebetszeiten oder -positionen oder -orten; nichts zur Kleidung und Kopfbedeckung; nichts von Reinigungen.

Diese ‘Regellosigkeit’ unterscheidet das Christentum von so gut wie allen Religionen. Gerade die Römer waren Fanatiker des exakten Ablaufs bei Opfer und Gebet. Es mussten genau die richtigen ‘Passwörter’ in der richtigen Reihenfolge an der richtigen Stelle gebraucht werden. Unterlief ein Fehler, musste das Ritual womöglich ganz von vorne wiederholt werden – sonst hören die Götter nicht.

Betrachten wir zum Vergleich den Islam näher, in dem ja auch zu einem einzigen Gott gebetet wird. „Salāt“, das rituelle Gebet, oberste Pflicht der Muslime und eine der fünf Säulen des Islam. Alle gesunden Muslime ab acht Jahren müssen es fünf Mal am Tag verrichten. Die Gebetszeiten sind dabei recht streng vorgeschrieben. Der fromme Muslim muss vorbereitet sein, sich rituell waschen, die Schuhe ausziehen und nach Mekka ausrichten. Das Salāt besteht aus mehreren Zyklen und auf Arabisch auszusprechenden Formeln, die von klar vorgeschriebenen Körperbewegungen begleitet sein müssen. Es gibt auch ein informelles, privates Gebet, „Dua“. Dies kann frei formuliert werden, ist aber weniger ‘wertvoll’ oder verdienstvoll als das rituelle. Der Gebetsernst der Muslime ist in gewisser Hinsicht vorbildlich, doch im Christentum ist das Grundprinzip Freiheit.

Wie ist dann aber die Einleitung des Vaterunsers „ihr sollt so beten“ zu verstehen? Sollen Christen genau so und in keinem Fall anders beten? Sicherlich nicht, denn wir haben ja noch viele andere Gebete der ersten Christen mit einem anderen Wortlaut in der Bibel. Von den meisten Bibelauslegern werden die Einleitungsworte heute so interpretiert: auf diese Art oder nach diesem Muster sollt ihr beten. Der große Prediger Martyn Lloyd-Jones drückte dies so aus: Dies Gebet enthält alle Prinzipien für das christliche Gebet, deckt alle Elemente des Gebets ab; es gibt uns gleichsam alle Überschriften.

Eine Meinungsverschiedenheit unter den Kirchen gibt es darüber, ob dieses Gebet mit genau diesem Wortlaut z.B. im Gottesdienst gesprochen werden soll. Einige Kirchen tun dies, andere nicht. Der Große Westminster-Katechismus formuliert hier diplomatisch: „Das Gebet des Herrn dient nicht nur zur Anweisung als ein Muster, nach dem wir andere Gebete formen sollen, sondern es kann [d.h. es muß nicht] auch als Gebet gebraucht werden“ (187 kl.).

Normale Sprache

In vielen Religionen gibt es gleichsam heilige Sprachen. Im Islam gilt der Koran nur im arabischen Original als heilige Schrift, und die wichtigsten Gebete müssen auch von Nichtarabern in Arabisch gesprochen werden. Im Judentum zur Zeit Jesu sprachen die Menschen Aramäisch, viele Gebete waren aber auf Hebräisch. Bis zum Mittelalter wurde das Hebräische dann endgültig die heilige Sprache des Gottesdienstes der Juden (Alltagsprache war in Europa meist Jiddisch). In anderen Religionen gibt es Formeln, Ritualsprüche, Gebete, die kaum ein normaler Mensch versteht.

Das Christentum dagegen betont Verständlichkeit: Gott hat mit dem Menschen in normalen, verständlichen Worten geredet (so ist das Neue Testament in Koine-Griechisch verfasst, was übersetzt heißt das „allgemeine o. einfache Griechisch“, d.h. das Griechisch, das auf der Straße gesprochen wurde). Und die Menschen antworten ihm im Gebet in ihrer Alltagssprache. Das Christentum kennt keine heiligen Sprachen, die in Gottes Ohren schöner als andere klängen.

Das Vaterunser hat in vielen Kulturen einen sehr liturgischen Klang. Die Wortfolge der älteren Version „Vater unser, der Du bist im Himmel“ erscheint uns gar nicht als Alltagssprache. Die Wortstellung „unser“ nach „Vater“ folgt aber dem griechischen und lateinischen Text. Die angemessene und richtige Übersetzung lautet einfach „unser Vater im Himmel“ (so nun auch die allermeisten deutschen Übersetzungen). Luther übersetzte im NT korrekt „Unser Vater“; in der Liturgie des Gottesdienstes und im Katechismus behielt er jedoch die alte Wortstellung bei. Dadurch wird aber nicht richtig deutlich, dass es sich hier nicht um Poesie im eigentlichen Sinne (wie oft in den Psalmen), sondern um Prosa handelt: völlig normale Rede. Auch wenn wir die Freiheit haben, am traditionellen „Vater unser“ festzuhalten, ist „Unser Vater“ biblischer und wird z.B. von den Reformierten seit jeher bevorzugt.

Wir können uns also an Gott in einfachen, normalen Worten unserer Muttersprache wenden. Wir haben dabei große Freiheit bei der Wahl von Zeiten, Orten und Worten. Wir müssen keine langen Reden schwingen, alles mit frommen Phrasen ausschmücken und brauchen keine Angst haben, wichtige Passwörter zu vergessen. Gott erwartet nicht, dass wir in seinem Angesicht zu Dichtern werden. Verlangen Eltern von ihren Kindern, dass diese sich in Reimform an sie wenden?? Damit kommen wir zum ersten der drei Begriffe der Anrede. (Fortsetzung folgt.)

(Bild o.: Jean-Francois Millet, Das Angelusläuten,1857/59)