Bessere Ideen für Litauen?

Bessere Ideen für Litauen?

In einigen Wochen wird in Litauen groß gefeiert, denn am 16. Februar sind genau einhundert Jahre seit der Ausrufung der Unabhängigkeit vergangen. Damals, im Winter 1918, proklamierte der Litauische Landesrat „die Wiederherstellung eines unabhängigen auf demokratischen Grundlagen aufgebauten litauischen Staates mit der Hauptstadt Wilna“. Erst im vergangenen Jahr wurde ein handschriftliches Original dieses „Beschlusses“ überraschend in Berlin aufgefunden (hier mehr).

Tatsächlich hat die Idee eines freien Landes vielen Litauern im 20. Jahrhundert Ansporn gegeben. Nach fast fünfzig Jahren sowjetischer Besatzung wurde 1991 erneut an 1918 angeknüpft und die Trennung von Moskau ausgerufen. Die Menschen der freien Republik Litauen haben seitdem viel erreicht. 2004 folgte der Beitritt zu EU und Nato. Und auch die wirtschaftlichen Daten lassen sich sehen: Von 30% der Wirtschaftsleistung der EU brachte man es auf nun 70%.

Endlich ist man da angekommen, wo die große Mehrheit der Balten seit 1918 hinwollte. Und was kommt nun? Die feste Integration in den westlichen Bündnissen wird in Litauen (anders als in Polen oder Ungarn) kaum in Frage gestellt. Aber die großen politischen Ideen sind ausgegangen. Worauf steuert man nun zu? Gibt es Ideen, die die Bürger noch einmal neu zusammenbringen und motivieren können?

Diese Überlegungen gaben den Anstoß zur Initiative „Idee für Litauen“ (idėja Lietuvai). Dahinter stehen die marktbeherrschenden Internetportale „Delfi“ und „15min“ sowie der öffentlich-rechtliche Sender LRT (Radio und TV). Im September 2017 startete die von Anfang an groß aufgezogene Kampagne, für die sich auch die Staatspräsidentin stark machte. Besonders engagiert zeigte sich der wohl bekannteste litauische TV-Journalist und Produzent Edmundas Jakilaitis. Alles, was im Land Rang und Namen hat, wurde ins Boot geholt.

Nicht kleckern, sondern klotzen. Die Masse macht’s. Auf dem Portal der Initiative konnte jeder seine Idee posten, und so geisterten in den vergangenen Monaten auch so manche Vorschläge – von ernst bis skurril – durch die Weiten des Internets. Über 1500 Ideen kamen insgesamt zusammen. Da sollte doch etwas Ordentliches dabei sein, sollte man denken.

Vor einem Jahrzehnt gab es schon einmal eine ähnliche Initiative: Drei Mal rief die inzwischen eingestellte Wochenzeitschrift „Atgimimas“ den Wettbewerb „Schenk Litauen eine Vision“ (Padovanok Lietuvai vizija) aus. Wie bei „Idee für Litauen“ waren jeweils konkrete Themenfelder vorgegeben. Allerdings mussten solide und schriftlich formulierte Konzeptionen eingereicht werden. Eine hochkarätig besetzte Auswahlkommission siebte aus mehreren hundert Vorschlägen die besten heraus. Unternehmen wie vor allem „Eika“ von Baumagnat Robertas Dargis stifteten Preise. Beim Wettbewerb 2007 konnte sich die Kommission auf keinen ersten Platz verständigen. Dafür gab es zwei zweite Preisträger. Einer davon war der Autor dieser Zeilen mit „Beziehungsrevolution – Hoffnung für Litauen“ (Santykių revoliucija – viltis Lietuvai), einem durch und durch christlichen Text.

„Schenk Litauen eine Vision“ war noch ein Kind eines Printmediums und als Projekt noch nicht von den sozialen Medien und großen Internetportalen gekennzeichnet (Delfi macht aber auch dort schon mit). Die Visionsbeiträge wurden bis zur Preisverleihung nicht öffentlich gemacht, und auch dann erblickten tatsächlich nur die besten das Licht der Medien. Die Ergebnisse konnten sich durchaus sehen lassen.

Die „Idee für Litauen“ wurde ganz anders durchgeführt. Im Internet konnte über die Ideen abgestimmt werden; repräsentative Umfragen wurde durchgeführt; das Journal „Reitingai“ (Ratings) befragte 600 Leiter; auch eine Expertengruppe vergab Punkte und wählte aus 30 besten Vorschlägen die drei Ideen aus, die in der Zukunft Wandel voranbringen sollen.

Die Masse macht’s nicht

Bei einer „Großen Konferenz für Ideen und Wandel“ am 1. Februar im Messezentrum von Vilnius wurden die drei Siegerideen mit viel Tamtam präsentiert. Allem Hype zum Trotz ist das Resultat einfach nur enttäuschend.

Idee Nr. 1: Lehrer soll bis zum Jahr 2025 (wieder) ein prestigeträchtiger Beruf werden. Damit wird natürlich auf die Dauerkrise des Schulsystems reagiert. Als verlängerter und mehr und mehr die ganze Gesellschaft erziehender Arm des Staates wird der Lehrkörper mit Aufgaben massiv überfrachtet. Die Bezahlung ist eher mäßig, und vor allem fehlt es an Nachwuchs. In einigen Fächern wie den Naturwissenschaften wird der Mangel schon in den nächsten Jahren gravierend sein. Nichts gegen die Lehrer (meine Groß- und Urgroßväter übten diesen Beruf aus), aber kann man Ansehen und Prestige einfach so verordnen? Muss so etwas nicht langsam wachsen? Ist es überhaupt steuerbar? Und warum ausgerechnet die Lehrer? Warum macht der Staat nicht einfach seine Hausaufgaben, bezahlt sein Lehrpersonal ordentlich und lässt dessen Verantwortungsbereich nicht ausufern? Wann wird endlich eine Bildungsreform durchgeführt, die diesen Namen auch verdient? Man wird den Verdacht nicht los, dass hier die Sowjetzeit nachklingt, der nicht wenige Lehrer tatsächlich nachtrauern. Damals waren sie ein äußerst wichtiges Instrument, um die staatliche, kommunistische Indoktrination voranzutreiben – und der Familie Konkurrenz zu machen.

Idee Nr. 2: die doppelte Staatsbürgerschaft; sie müsse endlich her und in der Verfassung verankert werden. Hintergrund ist der Versuch, die Hundertausenden Litauer und ihren Nachwuchs in der Arbeitsemigration weiter fest an sich zu binden. Dem steht bisher die litauische Verfassung entgehen, die – bis auf Ausnahmen – keine doppelte Staatsbürgerschaft zulässt. Das Verfassungsgericht machte erst im vergangenen Jahr erneut klar, dass der Weg zur Änderung nur über eine Volksabstimmung gehen kann. Und hier bestehen recht hohe Hürden. Die Abstimmung wird kommen (parallel zu einer der kommenden Wahlen im Land), aber es soll offensichtlich auch durch diese Idee ordentlich Druck auf die Wahlbürger aufgebaut werden, damit diese auch ja für eine Verfassungsänderung stimmen. Was eine doppelte Staatsbürgerschaft wirklich ändern würde, bleibt offen, ja man muss wohl von Symbolpolitik sprechen. Was solch eine Idee mit grundlegendem Wandel in der Zukunft zu tun haben soll, ist schlicht ein Rätsel.

Idee Nr. 3 – wegen gleicher Punktezahl ein Doppelpack. 3a: Junge Familien sollen zu erleichterten Bedingungen Wohneigentum erwerben können. Nett gemeint; gegen so eine Wohltat ist kaum jemand (außer irgendwelche Liberalen). Aber aus einem Topf mit diversen Förderungsmaßnahmen ließe sich noch manch andere Finanzhilfe zaubern. Warum junge Familien? Und warum Wohnraum? Gebaut wird in Litauen schließlich nicht zu wenig, die Zinsen sind niedrig, die Einkommen steigen. Lässt man allgemein abstimmen, kommen solche Ideen dabei heraus…

Idee 3b: Die Bürokratisierung soll abgebaut und die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung vorangetrieben werden. Sehr gut. Die Digitalisierung hat man sich von den Esten abgeschaut, die da schon viel weiter sind. Weniger Bürokratie? Meine Güte, kann man da nur sagen – der Staat soll endlich seinen Laden in Ordnung bringen. Das ist keine Idee, sondern in einem modernen Staatswesen selbstverständlich. Auch hier liest sich vieles wie der Maßnahmenkatalog für die Politik, für Parteien wie Regierungen. Sollte ein breit aufgestellter gesellschaftlicher Ideenwettbewerb nicht Interessanteres hervorbringen?

Ein Traum von der guten alten Zeit, staatspolitische Propaganda, Wohlfühlmaßnahmen aus der staatlichen Wundertüte und Aufgaben, die der Staat sowieso machen sollte – nur zu deutlich sieht man, dass das Ausnutzen der neuen technischen Möglichkeiten des Internets, nicht wenig Geld und viel guter Wille keineswegs Qualität garantiert. Und die Masse macht’s eben doch nicht.

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Bei der Ideenkonferenz am 1. Februar: Am Pult Präsidentin Dalia Grybauskaitė, ein paar Meter links von ihr Edmundas Jakilaitis

Vom Wert der besseren Ideen

Tatsächlich ist der Mensch dank seiner Kreativität ein großer Ideenfabrikant. Und das ist gut so, denn gute Ideen wird es nie zu viele geben. Wir entwickeln ständig neue Ideen, große wie weniger bedeutende, gute wie auch schlechte. Der Ideenwettbewerb litt jedoch erstens daran, dass nirgendwo genauer definiert wurde, was denn überhaupt eine Idee ist. Ganz allgemein kann schließlich so gut wie alles zu einer Idee erklärt werden, doch dies hilft bei solch einem Projekt ja kaum weiter. So machte man sich z.B. nicht die Mühe, die Maßnahmen der Politiker von Ideen abzugrenzen. Alles lief leider auf ein weitgehend ungeordnetes großes Brainstorming hinaus.

Außerdem sieht es danach aus, dass die hinter „Idee für Litauen“ stehenden gesellschaftlichen Eliten zumindest in Teilen einem Machbarkeitswahn verfallen sind. Wandel soll aktiv gestaltet werden; also nehmen wir unsere medialen Möglichkeiten, sammeln möglichst viele Ideen zusammen, lassen über sie abstimmen – und heraus kommen unsere Leitsterne. Und an denen solle sich man dann auch gefälligst orientieren. Doch so geschieht kein gesellschaftlicher Wandel. Er lässt sich in keiner Weise durchdrücken, verordnen und ‘machen’. Gute Ideen setzen sich bestimmt nicht auf dem durch die Initiative vorgegebenen Weg durch. Geradezu hilflos mutet es nun an, wenn man aufgerufen wird, seine Unterschrift unter einen feierlichen „Beschluss“ (Idėja Lietuvai aktas) zu setzten und damit verspricht, an der Umsetzung mitzuwirken.

Es ist sogar kaum mit den Grundsätzen einer freien Gesellschaft zu vereinbaren, dass nun allgemein solche doch recht inhaltlich präzisen Ziele gleichsam vorgegeben werden. Wäre es nicht viel besser und liberaler, wenn man darüber nachdenkt, wie jeder Bürger seine eigenen Ideen am besten umsetzen kann? Unternehmerische Ideen? Ideen aus dem Bereich Kultur, Kirche usw.? Und dann sieht man einfach, was sich organisch entwickelt.

Übersehen wurde schließlich, dass Ideen oft im Konflikt miteinander stehen. Ideen gibt es viele, und sie ringen nicht selten miteinander. In der Marktwirtschaft ist dies ja täglich zu sehen (hinter Produkten stehen auch Ideen). „Idee für Litauen“ hat nun aber Ideen herausgefiltert und ihnen einen gewissen Segen verliehen, so dass diese nun kaum noch scharf kritisiert werden (sollen). Wirklich gute Ideen für ganz Litauen wären dagegen auf einer gleichsam höheren Ebene Meta-Ideen, die z.B. diesen Konflikt der Ideen befördern können (und darüber hinaus keine konkreten Ziele vorgeben). Denn in der wirklich harten Debatte und in der Wirklichkeit könnten sich die tatsächlich besseren Ideen herauskristallisieren.

Im Herbst 1958 hielt der Ökonom Ludwig von Mises (1881–1973) sechs Vorlesungen vor Studenten in Buenos Aires. Sie wurden gedruckt als Economic Policy: Thoughts for Today and Tomorrow, die deutsche Ausgabe trägt den Titel Vom Wert der besseren Ideen. Mises betont darin in klassisch liberal Manier, dass alles in unserer sozialen Welt das Ergebnis von Ideen ist, „Gutes wie Schlechtes“. Nötig sei der Kampf gegen die schlechten Ideen. „Wir müssen schlechte Ideen durch bessere ersetzen… Ideen und nur Ideen können Licht ins Dunkle bringen… Wir brauchen nichts anderes als den Austausch von schlechten Ideen durch bessere“. Eine große nationale Kraftanstrengung wie „Idee für Litauen“ will aber gar keinen echten Kampf, sondern die besten Ideen gleichsam aus diesem Ringen herausheben. Manche der Experten verschweigen gar nicht, dass sie z.B. Idee 3a für nicht sinnvoll halten. Aber wer wird nun wagen, diese als wirklich „schlecht“ zu bezeichnen?

Eine wirklich gute Idee, für die es sich wirklich zu kämpfen lohnt, und ein echte Meta-Idee ist und bleibt die Freiheit. Sie ist keineswegs veraltet. Sie muss in diesen Tagen nur aus der großen und globalen Politik heruntergeholt werden. Denn Herausforderungen gibt es genug. Auch in Litauen macht sich in letzter Zeit ein immer frecherer Paternalismus breit, der zur Entmündigung der Bürger und zur Schwächung der Familien führt. Die Ideen 1 und 3 sind letztlich nur mit mehr staatlichen Geldern, also Steuern, umzusetzen, und so werden auch sie absurderweise dazu beitragen, Freiheit zu reduzieren. Die Idee, allgemeine Probleme mit dem Geld anderer Leute lösen zu wollen, war schon immer eine große Versuchung und schlecht.

Überfliegt man die vielen Ideen, fällt auch hier und da etwas Heidnisches oder Katholisches ins Auge, sympathisch ist natürlich „Sonntag – Familientag“. In die engere Wahl kam jedoch keine Idee, die einmal an die weltanschaulichen und religiösen Wurzeln geht. „Freiheit“, nebenbei bemerkt, ist auch solch eine tiefgehende und letztlich weltanschaulich verankerte Idee. Das Ausblenden alles Religiösen und Christlichen wundert nicht, haben doch die Verantwortlichen an der Spitze von Delfi und LRT wie auch Jakilaitis und die Präsidentin allemal mit Kirche und Christentum wenig am Hut. Man ist in Litauen auch unter ihnen natürlich nicht aggressiv säkular eingestellt. Es ist aber eine wirklich schlechte Idee, wenn man glaubt, den Diskurs über die Zukunft des Landes ohne Religion, Glauben und Gott meint führen zu können.