Reformation des Menschenbildes

Reformation des Menschenbildes

Dem Christentum geht es um die Wiederherstellung wahren Menschseins. Was zeichnet das Menschsein aber aus? „Was ist der Mensch, dass du [Gott] seiner gedenkst…?“ (Ps 8,5) Die Frage nach dem Menschen führt auch zu der Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu Gott. Denn offensichtlich unterscheidet sich der Mensch von den übrigen Säugetieren, aber auch von einem Gott. Die Frage nach dem Wesen des Menschen, seinen Möglichkeiten und Grenzen, ist dabei nicht nur grundlegend für die Erlösungslehre, sondern auch für die Ethik und damit außerdem gesellschaftliches und politisches Handeln.

Während der Reformation spaltete der Streit um die Rechtfertigungslehre und die Autoritätsfrage die westliche Christenheit. Diesem Konflikt lagen unterschiedliche Anthropologien, Lehren von Menschen, in den Konfessionen zugrunde. Leider wird heute die reformatorische Anthropologie entweder ignoriert oder einseitig dargestellt oder in Bausch und Bogen verworfen. Skeptisch wird ausgerufen: „Völlige Verderbtheit“ – wer soll an so etwas Düsteres heute noch glauben?! Muss nicht vielmehr unser Selbstwert gestärkt werden?

So betrachtet man Johannes Calvin gemeinhin als Miesepeter oder gar Misanthrop (Menschenhasser). Zu wenige machen sich die Mühe und überprüfen die Klischeebilder an den tatsächlichen Aussagen Calvins und der anderen Reformatoren. Hier würde einerseits erkennbar, warum Protestanten und Katholiken immer noch getrennte Wege gehen; andererseits kann auch die Aktualität dieser Lehre und ihre erstaunlich große Relevanz neu entdeckt werden.

„Schlamm von Irrtümern“

Das erste Buch (oder der erste Hauptteil) von Calvins Institutio (1559) ist „Von der Erkenntnis Gottes als des Schöpfers“ überschrieben. Gleich zu Beginn stellt der Reformator dar, wie eng Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis miteinander verwoben sind. Ein bis heute geradezu genialer Einstieg! Es geht um Gott, aber gleichzeitig auch um den Menschen. Die Anthropologie ist sofort Thema. Und genauso die Erkenntnisfrage – was kann der Mensch wissen?

In Kapitel drei stellt Calvin dar, dass eine gewisse Gotteserkenntnis dem Menschen gleichsam „innerlich von Natur eingepflanzt“, ein „Empfinden für die Gottheit gleichsam eingemeißelt“ ist (I,3,3), denn Gott hat „in alle Herzen den Keim der Religion hineingelegt“ (I,4,1). Daher können sich selbst die Gottlosen (d.h. die sich als solche bezeichnen) Gott nicht entziehen. So „nagt der Wurm des Gewissens“ auch an ihnen.

Die ganze Schöpfung hat Offenbarungscharakter, spricht also von ihrem Schöpfer: Gott „hat sich auch derart im ganzen Bau der Welt offenbart und tut es noch heute, dass die Menschen ihre Augen nicht aufmachen können, ohne ihn notwendig zu erblicken“ (I,5,1). Der Mensch selbst ist natürlich Teil der Schöpfung, ein „Mikrokosmos“, eine Welt im Kleinen (I,5,3). Menschen „fühlen, wie wunderbar Gott an ihnen wirkt; welche Fülle von Gaben sie dank seiner Freigiebigkeit besitzen“ (I,5,4).

Sei dem Sündenfall wird diese Gotteserkenntnis aber „durch Unwissenheit und Bosheit unterdrückt und verderbt“ (Überschrift von Kap. I,4). Hier betont Calvin (natürlich Paulus in Römer 1 folgend), dass sich die gefallenen Menschen „stolz selbst zuschreiben, was ihnen vom Himmel herab gegeben ist“ (I,5,4). Sie rebellieren und sind undankbar, halten sich selbst für den Schöpfer, verwechseln also Schöpfer und Geschöpf.

Gott wird in der Schöpfung klar erkannt, doch diese echte Erkenntnis hält der gefallene Mensch „durch Ungerechtigkeit“ nieder, unterdrückt sie (Röm 1,18–19). Calvin: „Jedoch wie hell und klar uns auch der Herr sich selbst und sein ewiges Reich im Spiegel seiner Werke vor Augen stellt – wir bleiben doch in unserem großen Stumpfsinn stets blind gegen so große Bezeugungen, so dass sie in uns ohne Frucht bleiben!“ Dies ist aber „nicht nur die Krankheit ungebildeter und stumpfsinniger Menschen, sondern auch die bedeutendsten und mit einzigartigem Scharfsinn begabten Geister sind ihr verfallen.“ So haben selbst die Elite-Denker, die Philosophen, viel „Torheit und Abgeschmacktheit an den Tag gelegt“. Allgemein gilt eben, dass „unser Hang zu Eitelkeit und Irrtum“ sehr groß ist (I,5,11).

„Einem jeglichen ist sein Verstand wie ein Labyrinth“, aus dem ein „Schlamm von Irrtümern“ quillt. Dies ist vor allem im Hinblick auf die Religion zu sagen. Das Herz produziert wie „aus einer großen und weiten Quelle“ eine „unmessbare Menge der Götter“. Selbst unter den Philosophen herrscht eine „beschämende Verwirrung“. Daher ist „des Menschen Geist… den göttlichen Geheimnissen gegenüber mehr als schwachsinnig und blind“ (I,5,12). Ein paar Kapitel weiter beklagt Calvin, dass der Mensch nun „voll Hochmut und Vermessenheit“ ist. Er vergleicht den menschlichen Geist  mit einer „Werkstatt von Götzenbildern“, so dass sich der Mensch „einen Gott nach seinem Fassungsvermögen“ denkt (I,11,8).

Der gefallene Mensch kennt daher zwar Gott (Röm 1,21), ist aber dennoch „ohne Gott“ (Eph 2,12). Der „Keim der Religion“ ist da, wächst aber nicht an. Calvin gebraucht hier ein weiteres Bild: Die „brennenden Fackeln“ der allgemeinen Offenbarung „überstrahlen uns mit ihrem Licht von allen Seiten“, doch sie „leuchten uns vergebens“; sie „können uns doch nicht auf den rechten Weg führen“. Uns Sündern fehlen nämlich „die Augen sie [die Gottheit] zu sehen“ – es sei denn, wir werden „durch Gottes innere Offenbarung erleuchtet“ oder sehend gemacht.

Der reformierte Philosoph und Theologe Cornelius Van Til (1895–1987) gab uns in The Defense of Faith für den Zustand des Menschen noch ein Bild. Er ist wie ein Handwerker, der durchaus eine Säge hat (der Keim der Religion, ‘natürliche’ Gotteserkenntnis, Verstand), aber diese Säge ist verzogen und sägt immer, sobald er nur ansetzt, im falschen Winkel. Ordentliche, passende Bretter können dabei nicht herauskommen. So bleibt auch die Gotteserkenntnis des gefallenen Menschen ohne jede echte Frucht.

Von Natur haben wir nach dem Fall also nicht mehr die Fähigkeit „zur reinen und lauteren Erkenntnis Gottes zu gelangen“. Wie auch Paulus darstellt (Röm 1,20), erreicht allgemeine Offenbarung „nicht mehr, als dass wir ohne Entschuldigung sind“. Ohne von Gott im Menschen gewirkten Glauben führt kein Weg zu Gott – auch nicht einen Schritt weit. Denn nur „durch den Glauben“ erkennen wir Gott (Hbr 11,3). Ohne diesen sind selbst „die Vortrefflichsten im Finstern getappt“ – was soll da für die „Ungelehrten und Unklugen“ gelten? Calvin kategorisch: „Alle vom menschlichen Geist erdachten Religionsübungen sind entartet“ (I,5,13–14).

„Wer zu Gott, dem Schöpfer, gelangen will, der muss die Schrift zum Leiter und Lehrer haben“, so Calvin im folgenden Kapitel (I,6,1). Wohlgemerkt auch zum Schöpfer, nicht nur zum Erlöser. Ohne das Wort Gottes gibt es keinerlei klare Gotteserkenntnis, die auch Frucht bringt. Nur durch das geschriebene und gepredigte Wort, das der Geist benutzt und im Herzen Glauben weckt, gelangen Menschen auch tatsächlich zu Gott. Wir brauchen das geschriebene Wort Gottes wie eine Brille, so Calvins Bild. Nur mit ihr fangen wir an „deutlich zu lesen“, sie bringt „in unser sonst so verworrenes Wissen… die richtige Ordnung, zerstreut das Dunkel und zeigt den wahren Gott“. Aber auch diese Brille muss Gott selbst uns aufsetzen.

„Blinder als die Maulwürfe“

Calvin greift die Selbsterkenntnis zu Beginn von Buch II wieder auf. Das Streben nach ihr ist zwar gut, folgt man aber den (antiken) Philosophen, so führt die Selbstbetrachtung, die sich einseitig auf Würde und bevorzugte Stellung des Menschen konzentriert, „zu leerem Selbstvertrauen und zum Stolz“. Dagegen betont Calvin, dass wir „geschenkweise besitzen, was Gott uns gab“. Außerdem gilt es, „unseren jämmerlichen Zustand nach Adams Fall“, das „traurige Bild unserer Befleckung und Schande“, zu erkennen; denn von unserer „ursprünglichen Würde“ ist nicht mehr viel übrig (II,1,1). Nun ist „allen Sterblichen“ eine „blinde Selbstliebe“ eigen (II,1,2).

Der Ausdruck „völlige Verderbtheit“ (engl. „total depravity“) – so oft mit der reformierten Anthropologie verbunden – fällt meines Wissens in Calvins Institutio nirgendwo. Und das ist wohl auch gut so, denn der Begriff ist nicht unbedingt passend. „Völlig“ kann nämlich leider auch so verstanden werden, dass der Mensch immer durch und durch böse ist bzw. sich so verhält, was natürlich nicht der Fall ist.

Calvin erläutert die Folgen des Sündenfalls wie die Erbsünde in den ersten beiden Kapiteln des zweiten Buchs. Eine „schändliche Gottlosigkeit“ hat die Seele des Menschen „bis ins Tiefste in Besitz genommen“ (II,1,9). Der Mensch ist verdorben bis in die tiefsten Schichten seines inneren Wesens, bis in die Wurzelspitzen. „Radikal tiefe Verderbtheit“ ist daher wohl ein besserer Ausdruck als „völlige Verderbtheit“.

Der Reformator betont vor allem, dass diese Verderbtheit nicht „auf die sogenannten ‘sinnlichen Regungen’ beschränkt“ ist. Die Verderbnis hat „nicht etwa bloß in einem Teil [der Seele] ihren Sitz“, nichts in uns „ist von ihrer todbringenden Befleckung rein oder unberührt“. „Gerade jener Teil der Seele, an dem ihre hohe Würde und ihr Adel am meisten erstrahlt,“ – Calvin meint hier den Verstand, das Denken – „ist nicht nur verwundet, sondern gar derart verderbt, dass es nicht bloß der Heilung, sondern geradezu der Annahme einer neuen Natur bedarf“. (II,1,9) Der Mensch ist also umfassend – mit seinem ganzen Wesen, mit Verstand, Willen und Gefühlen – gefallen.

Umstritten war damals (wie wir noch sehen werden), inwieweit der Verstand des Menschen durch den Sündenfall in Mitleidenschaft gezogen wurde. Calvin widmet dieser Frage mehrere Abschnitte in Kap. 2 von Buch II. Die Vernunft wurde nicht ganz und gar zerstört, „ungestaltige Bruchstücke“ sind noch übrig. Im Verstand ist aber „alles ausgelöscht, was zum seligen Leben der Seele gehört “(II,2,12). Das Denken des gefallenen Menschen führt nicht – überhaupt nicht – zum lebendigen Gott.

Calvin unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Erkenntnis der „irdischen“ und der „himmlischen Dinge“ (II,2,13). In den Bereichen Kunst, Wissenschaft, Handwerk usw. ist der Mensch dank seiner Vernunft immer noch zu nicht geringen Leistungen fähig. Aber auch dieses sind „hervorragende Gottesgaben“, ja „Gnadengaben“ oder  „herrlichste Gaben des Geistes Gottes“. Es ist Gottes sog. allgemeine Gnade (nicht die „besondere Gnade“ der Erlösung), die es den Menschen auch nach dem Fall möglich macht, ein erstaunlich hohes Maß an Zivilisiertheit zu erreichen. Immer noch ist der Geist Gottes wirksam, aber dies ist nicht der „Geist der Heiligung“, der nur in den Christen wohnt. Immer noch gilt, „dass unserer Natur die Vernunft eigen ist“ und wir so immer noch von den Tieren unterschieden sind, aber „was wir übrigbehalten ist mit gutem Grunde Gottes Huld zuzuschreiben“ (II,12,14–17).

Anschließend fragt Calvin aber auch, „was die menschliche Vernunft vermag, wenn es sich um das Reich Gottes und die geistliche Einsicht handelt“. Erkenntnis Gottes und seiner Gnade und wie ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen sei – hier sind „selbst die sonst gescheitesten Menschen blinder als die Maulwürfe“. Bei den Philosophen sind zwar „gescheite Aussagen über Gott zu lesen“, dennoch sind dies „schwindelsüchtige Phantasien“.

Es mag sein, dass der von Sünde verdorbene Verstand hier und da auch eine richtige geistige Erkenntnis hat. Aber dies vergleicht Calvin mit einem „nächtlichen Blitz“, den ein Wanderer sieht. Kurz wird alles klar gesehen, doch schnell umgibt ihn wieder die „nächtliche Finsternis“. Daher „wird er mit Hilfe dieses Lichts doch kaum wieder auf den rechten Weg gebracht“. Die „eigentliche Wahrheit“, nämlich „wer der wahre Gott ist und wie er sich zu uns verhalten will“, – „dahin kann unsere Vernunft eben nicht gelangen, dahin kann sie nicht bringen, ja nicht einmal sich ausrichten“ (II,2,18). Calvin betont daher, dass Gotteserkenntnis Gottes eigenes Werk ist (II,2,20). Die gefallenen Menschen jedoch, „berauscht von der törichten Hochschätzung unserer Erkenntniskraft“, lassen sich „deshalb sehr ungern überzeugen, dass sie in göttlichen Dingen völlig blind und stumpf sind.“ (II,2,19)

„Höchst schädliche Begriffsverwirrungen“

Kommen wir nun zur römisch-katholischen Lehre vom Menschen, die im deutlichen Kontrast zu der reformatorischen steht. Die katholischen Theologen unterscheiden traditionell zwischen dem „Bild Gottes“ und der „Gottesähnlichkeit“. Diese Unterscheidung habe „entscheidende Folgen“, so der katholische Theologe Johann Adam Möhler (Symbolik, 1832), ihre Leugnung durch die Evangelischen zu „höchst schädlichen Begriffsverwirrungen“ geführt. Dieser Vorwurf kann aber auch in die umgekehrte Richtung zurückgegeben werden.

Im hebräischen Text in Genesis 1,27 finden sich tatsächlich zwei verschiedene Begriffe, „zelem“ und „demut“ (lateinisch „imago“ und „similitudo“), im Deutschen etwa mit „Bild“ bzw. „Gleichnis“ oder „Ähnlichkeit“ zu übersetzen. Wahrscheinlich hat die Verwendung dieser beiden Begriffe im hebräischen Text eher stilistische Bedeutung, ist also wohl ein sog. Hendiadyoin (gr. „eins durch zwei“, ein Sachverhalt wird durch zwei ähnliche Begriffe ausgedrückt).

Karsten Lehmkühler schreibt, dass diese Unterscheidung der Begriffe schon in der Patristik mit dem Sündenfall des Menschen in Beziehung gebracht wurde. „Besonders in der mittelalterlichen Theologie findet man die Behauptung, der Mensch sei zwar nach dem Sündenfall immer noch von seinem Wesen her Bild Gottes (imago). Diese seine Natur sei nicht zerstört. Verloren sei allerdings seine völlige Ähnlichkeit mit Gott (similitudo). Diese bestand in einer ursprünglichen Gerechtigkeit und Gottesbeziehung (iustitia originalis), die nun aber durch die Gnade in Christus zurückerhalten werden könne.“ (…)

Die ursprüngliche Gerechtigkeit wird nun, und dies ist entscheidend, bis heute als eine Gnadengabe Gottes betrachtet (das sog. donum superadditum). So spricht auch der Katechismus der katholischen Kirche (KKK) von der „Gnade der ursprünglichen Heiligkeit“ (375). Der „Verlust der heiligmachenden Gnade“ sei laut Papst Benedikt XVI der „Kern der Erbsünde“ (Gott und die Welt: Ein Gespräch mit Peter Seewald).

Im Urstand war Adam dank dieser Gabe u.a. zur „Herrschaft über sich selbst“ fähig. „Der Mensch war in seinem ganzen Wesen heil und geordnet, weil er von der dreifachen Begierlichkeit, die ihn zum Knecht der Sinneslust, der Gier nach irdischen Gütern und der Selbstbehauptung gegen die Weisungen der Vernunft macht, frei war.“ (KKK, 377) Mit dem Sündenfall, so die katholische Lehre, ist „die Herrschaft der geistigen Fähigkeiten der Seele über den Körper ist gebrochen“ und damit auch die „Harmonie“, die die Menschen „der ursprünglichen Gerechtigkeit verdankten“, verloren (400).

Nach dem Fall fehlt dem Menschen also die völlige Ähnlichkeit mit Gott, die similitudo, die ursprünglichen Heiligkeit und Gerechtigkeit als Gnadengabe. Die menschliche Natur sei aber „nicht durch und durch verdorben“; der Mensch ist nur in seinen „natürlichen Kräften verletzt. Die Natur des Menschen ist nun „der Verstandesschwäche, dem Leiden und der Herrschaft des Todes unterworfen und zur Sünde geneigt“ (405).

Auch der an sich gut geschaffene Mensch brauchte also eine gnädige, übernatürliche Gabe, um ihn eben über das Niveau der Natur und der Geschöpflichkeit zu heben. Nur so sei Ordnung und Harmonie im Menschen, d.h. zwischen seinen Wesenselementen wie Verstand, Wille, sinnliche Regungen usw., zu gewährleisten gewesen. „Nur dann ist die Seele des Menschen geordnet, wenn der Geist Gott und dem Geiste das Fleisch und die tierischen Kräfte untertan sind“, so Möhler.

Auf der einen Seite wird also der Mensch in römisch-katholischer Sicht als zu schlecht betrachtet – auch Adam vor dem Sündenfall war auf Gnade, auf von Gott geschenkte übernatürliche Gerechtigkeit angewiesen. Die Evangelischen hingegen betonten wieder, dass der Mensch als Geschöpf vor dem Fall „sehr gut“ war – ihm fehlte nichts. Der ungefallene Mensch war nicht auf übernatürliche Gaben angewiesen, um gerecht zu handeln. Der gut geschaffene Mensch erkannte Gott wahrhaft „ohne jegliche übernatürliche Stütze“,  „ohne übernatürliche Kräfte“ (Möhler über Luthers und  Calvins Lehre). Protestanten betonen nämlich, dass der ganze Mensch auf Gott hin ausgerichtet war und ist; seine Gottesähnlichkeit ist seinem ganzen natürlichen Wesen zuzuordnen. Deswegen ist der Fall allein seine Schuld und hat so fatale Konsequenzen.

Auf der anderen Seite ist der Sünder nach katholischer Lehre nach dem Fall nicht völlig verdorben, kann noch viel Gutes aus sich hervorbringen und vor allem mit der Gnade kooperieren. Evangelische sehen dies anders: Der gefallene Mensch ist nicht nur geschwächt, sondern nach dem Fall tot in Sünden, geistlich blind (s.o. Calvin). Sünde hat das Ebenbild nicht ausgelöscht, hat aber den Menschen in allen Bereichen in schwere Mitleidenschaft gezogen. Der Mensch ist zwar noch frei im Sinne von nichtgezwungen, aber im Hinblick auf das Heil ist er ganz auf die Gnade angewiesen. Der gefallene Mensch hat nicht mehr die Gaben, Furcht und Vertrauen gegenüber Gott zu erzeugen; er trägt in sich eben nicht das Potential zur Verbesserung.

„Gewisse Keime des sittlich Guten“

In der in römisch-katholischen Sicht ist vor allem der Verstand nicht tief gefallen und verdorben, sondern nur defizitär – ihm fehlt die göttliche Gnade; dennoch kann er von sich aus auch im Hinblick auf die Erkenntnis Gottes und des Heils viel erreichen. Die Kritik des Lutheraners Bernhard Kaiser: „Die Vernunft wird – mit Ausnahme der Reformatoren – als eine quasi göttliche Leuchte im Menschen verstanden. Diese Hochschätzung der Vernunft geht auf die griechische Antike zurück und wurde von Irenäus in Gestalt der imago-dei-Lehre [imago–similtudo, s.o.] in die Theologie importiert. Es muss jedoch hartnäckig gefragt werden, mit welchem Recht die ratio [Vernunft] zum Ausgangspunkt der Erkenntnis gemacht wird. Allein die Tatsache, dass sie formal ein wichtiges Organ der Erkenntnis ist, reicht nicht aus, denn sie ist ja nicht unfehlbar, sie kann irren und irrt immer wieder. Sie ist eben – entgegen der Grundanschauung des Abendlandes – gefallen.“ (Dogmatikvorlesung, FTA)

Kaiser hat völlig recht: Nach Aristoteles ist die höchste Aktivität der Götter das Nachdenken über das eigenes Nachdenken, die gedankliche Kontemplation seiner selbst, seiner eigenen Gedanken. Daher stehe auch das menschliche Denken in einem echten ontologischen Sinne höher als anderes Wirken des Menschen. Der Verstand wird damit zu einem gottgleichen Anknüpfungspunkt im Menschen. Dies hatte u.a. zur Folge, dass die Griechen das Grundproblem nicht auf der Ebene der Ethik und Moral sahen (wie in der Bibel: der Mensch als Sünder und Rebell), sondern als ein Erkenntnisproblem: Wenn der Mensch nur zu wahren Erkenntnis vordringt (bei Platon: die wahren Ideen erkennt); oder wenn er nur den Elite-Denkern die Führung überlässt, dann wird er auch das Richtige tun. – Natürlich hat Rom dieses Gedankengut nicht komplett übernommen, doch die prägende Wirkung via Thomas von Aquin war und ist stark. Noch heute können einem katholische Theologen sagen: „Wir müssen doch bei Aristoteles beginnen!“

Cornelius Van Til betonte ebenfalls, dass „Rom zu positiv über das moralische Gewissen des gefallenen Menschen denkt.“ Er zitiert Thomas von Aquin, der „meinte, dass der Sünder zwar Gnade für mehr Bereiche braucht als Adam, aber mehr Gnade als solche braucht er nicht. Thomas sagte: ‘Im Status der perfekten Natur [vor dem Fall] brauchte der Mensch eine geschenkte Stärke, zusätzlich zu seiner natürlichen Kraft; und dies aus dem einen Grund, um das übernatürliche Gute zu tun und zu wünschen. Im gefallenen Zustand braucht er aus zwei Gründen diese Stärke, nämlich um geheilt zu werden und um Taten übernatürlicher Tugend zu leisten… In beiden Zuständen braucht der Mensch göttliche Hilfe, um zu gutem Handeln bewegt zu werden.’… Der Mensch braucht also [nach Thomas] als solcher Gnade, weil er Geschöpf ist, nicht nur, weil er Sünder ist… Der gefallene Mensch ist also nur teilweise schuldig und nur teilweise anzuklagen. Und er hat weiterhin viel der ethischen Kraft, die er im Paradies besessen hatte.“ (The Defense of Faith)

Aquin hat damit die Kluft, die der Sündenfall aufgerissen hat, ein Stück weit eingeebnet. Der gefallene Mensch ist zwar schlechter, aber dennoch nicht viel anders als Adam im Paradies, nämlich hier wie dort auf Gnade angewiesen und in der Lage, mit dieser zu kooperieren.

Der „Keim der Religion“, die Religiosität des Menschen, ist daher in katholischer Sicht ein positiver Anknüpfungspunkt. Der Keim kann aufgehen und erste Früchte bringen. Er braucht für die volle Frucht dann das Begießen durch die Gnade, die die Kirche austeilt. Bei Aquin zeigt sich somit, dass die Gotteserkenntnis der gefallenen Menschen (wie der heidnischen Philosophen, Aristoteles an erster Stelle) echte Schritte auf Gott hin darstellt; diese muss nur noch durch die übernatürliche, christliche Offenbarung vervollständigt werden. Der gefallene Mensch baut also durchaus an der Brücke zu Gott, die die Gnade der Kirche abschließt.

Calvin und Luther sahen dies ganz anders. Der „Keim der Religion“ geht auf, doch er bringt falsche Religion und Götzendienst hervor! Gerade die menschliche Religiosität führt auf Abwege; sie ist keineswegs ein erster Schritt in die richtige Richtung. Luther hatte ja gut erkannt, dass der Mensch sich paradoxerweise immer mehr in Sünde verstrickt, Gott also weiter entfernt, wenn er aus religiösem Antrieb versucht, sich Gott – aus eigenen Kräften – zu nähern.

Die Reformatoren unterstrichen, dass der Mensch nach dem Fall keinen Funken geistlicher Kräfte mehr verfügt. Im Augsburger Bekenntnis heißt es im Art. 2 „Von der Erbsünde“, dass nach dem Fall alle Menschen „von Mutterleib an voll böser Lust und Neigung sind und keine wahre Gottesfurcht, keinen wahren Glauben an Gott von Natur aus haben können.“ Sie können sich von Natur aus nicht Richtung Gott bewegen. Dazu ist der Glaube nötig, den der geistlich tote Mensch aus sich heraus nicht hervorbringen kann.

Während der Reformation trafen die beiden Paradigmen bald mit voller Wucht aufeinander. 1524 verfasste Erasmus von Rotterdam Vom freien Willen. In dem Werk stellte der berühmte Humanist, der lange mit der Reformation sympathisierte, seine Position gegenüber Luthers Lehre klar. In dieser Kernfrage eben doch ganz der katholischen Lehre verpflichtet, legte der Gelehrte dar, dass der freie Wille des Menschen nur „verdunkelt“, aber „nicht ausgelöscht“ ist. Erasmus glaubte, „dass gewisse Keime des sittlich Guten von Natur im Menschen liegen und dass er infolgedessen irgendwie das sittlich Gute erkennt und erstrebt“. Der gefallene Mensch neigt „mehr zum Bösen als zum Guten“; die „Hauptursache“ der Rettung ist der Gnade zuzuschreiben, der menschliche Wille ist nur „Nebenursache“; es ist „nur sehr wenig, was der freie Wille dabei tut“; es ist „einiges dem freien Willen, doch das meiste der Gnade zuschreiben.“

Im folgenden Jahr widersprach Luther vehement in Vom unfreien Willen gegen diese Vermischung von Gnade und freiem Willen. Siegfried Kettlings Zusammenfassung: „Für Erasmus ist der Mensch wohl schwer erkrankt; er liegt am Boden, aber in seiner Substanz ist er doch so robust und vital, dass man ihm mit Hilfe guter Ärzte (zu denen sicher auch Jesus Christus gehört) und starker Medizin (wobei gewiss ein Bibelwort nicht fehlen darf) wieder zu einem aufrechten Gang verhelfen kann. Für Luther ist der Mensch ‘tot in Sünden’, keine Zelle ist zu reanimieren; da hilft nur noch Totenauferweckung, eben Christus allein! Für Erasmus ist die Burg, der Mensch, wohl weitgehend vom Feind erobert, aber im Bergfried, im innersten Refugium, brennt noch das Lämplein der Freiheit. Wird von dort innen der Ausbruch gewagt und kommen von außen noch Hilfstruppen hinzu, dann ist die Rettung gewiss. Dieser noch glühende Funke im Personenkern – eben das ist der freie Wille; die Hilfstruppen wäre die hinzukommende Gnade. Für Luther ist gerade das innerste Zentrum des Menschen, das Herz, längst vom Feind erobert, ja zur Kommandozentrale des Satans umfunktioniert.“ (Typisch evangelisch)

„Das Heiligtum im Menschen“

Die römisch-katholische Lehre hat kein echtes Gespür für die große Tragik der Sünde. Auch wenn man sich auf katholischer Seite bis heute vom Pelagianismus abgrenzt, wird dennoch zu einer optimistischen Sicht der menschlichen Fähigkeiten ermutigt. Das Heil wird als ein Prozess angesehen, in dem die Natur immer weiter vervollkommnet wird. Dabei spielt die Kirche als Mittlerin zwischen Mensch und Gott eine entscheidende Rolle, da sie die Gnade in ihrem sakramentalen System verwaltet.

Im protestantischen Denken ist Gnade eine Antwort auf Sünde und Rebellion des Menschen. Gnade hebt den Menschen nicht über die Natur in den übernatürlichen, göttlichen Bereich, sondern befreit von Sünde. Die katholische Theologie sieht eher ein    Kontinuum: Natur war und ist immer offen für Gnade und wird von ihr vervollständigt; der heidnische Philosoph und der wahrhaft Heilige unterscheiden sich nur nach dem Grad der Gnadenfülle. Die Evangelischen sehen viel klarer den Abgrund, der sich mit dem Sündenfall in ethischer, kognitiver und geistlicher Hinsicht auftat. Sie denken daher viel stärker in Antithesen: Glaube und Unglaube, Gott wahrhaft erkennen oder ihn nicht erkennen, tot in Sünden oder lebendig in Christus, gute Werke aus Dankbarkeit für das Heil oder gute Werke, um zum Heil zu gelangen.

Betrachten wir noch kurz die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes. Das Dokument des II Vatikanischen Konzils aus dem Jahr 1965 sieht den Menschen als solchen „auch zum Bösen geneigt“; er sei „in sich selbst zwiespältig. Deshalb stellt sich das ganze Leben der Menschen, das einzelne wie das kollektive, als Kampf dar, und zwar als einen dramatischen, zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis.“ (13) Das klingt auf den ersten Blick gut, bleibt aber weit hinter den protestantischen Kernüberzeugungen zurück. Der angesprochene Kampf im eigentlichen Sinne findet in den Wiedergeborenen statt, in denen alte und neue Natur miteinander ringen. Der gefallene Mensch dagegen neigt nur zum Bösen, ist eben nicht in sich zwiespältig, sondern ganz tot in Sünden, blind usw.

Weiter heißt es über die Menschen allgemein, Christen wie Nichtchristen: „In diese Tiefe [der Innerlichkeit] geht er zurück, wenn er in sein Herz einkehrt, wo Gott ihn erwartet, der die Herzen durchforscht, und wo er selbst unter den Augen Gottes über sein eigenes Geschick entscheidet.“ (14) Gibt es in den Seelentiefen einen Ort, wo Gott auf den Menschen wartet? Calvin und Luther würden sagen, dass es dort immer dunkler wird. Und wieder Erasmus pur: Dort, „im Bergfried, im innersten Refugium“ (Kettling), entscheide der Mensch frei über sein Schicksal.

Auf typische Weise vermischt sich schließlich Wahres und Falsches im Abschnitt über das Gewissen des Menschen. Es ist sicher richtig, dass der Mensch in seinem Inneren eine Art Gesetz entdeckt, „das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss“. Aber ruft dessen Stimme tatsächlich „immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen“ auf? (16) Das Gewissen funktioniert nicht nur, sondern es funktioniert an sich auch richtig und ruft den Menschen zum Gott wohlgefälligen Leben auf, so Gaudium et spes. Wieder würden die Reformatoren massiv widersprechen. Auch das Gewissen selbst ist gefallen und daher falsch eingestellt. Es ist oft mehr oder weniger christlich geprägt, d.h. mit biblischen Werten gefüllt. Oft genug weist es in die falsche Richtung.

Es wird in dem Abschnitt, wie gesagt, auch Richtiges festgestellt. Aber es muss aus evangelischer Sicht festgehalten werden, dass das Gewissen sicherlich nicht „das Heiligtum im Menschen [ist], wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist“. Noch einmal: das Gewissen ist ebenfalls tief gefallen. In Gaudium et spes wird zwar eingestanden, „dass das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis“ irren kann. Doch wieder wird das Kontinuum betont: „Durch die Treue zum Gewissen sind die Christen mit den übrigen Menschen verbunden…“ Verbunden sind sie durch das Vorhandensein eines Gewissens; doch „Treue“ gegenüber einem gefallenen Gewissen? Evangelische sprechen hier von Treue gegenüber Gott und seinem Wort. Wieder wird zu verstehen gegeben, dass auch der gefallene Mensch richtig und Gott wohlgefällig leben kann: „Je mehr also das rechte Gewissen sich durchsetzt, desto mehr lassen die Personen und Gruppen von der blinden Willkür ab und suchen sich nach den objektiven Normen der Sittlichkeit zu richten.“

„…die ihr tot wart in den Sünden“

Völlige Verderbtheit? Radikal tiefe und umfassende Verderbtheit? Nicht selten wird die reformatorische Anthropologie heute geradezu böswillig karikiert und dann als „ganz furchtbares Menschenbild“ (T. Hebel) bezeichnet. „Ist der Mensch wirklich böse?“, fragen andere skeptisch (die beiden Hossa-Talker, s. hier). „Du bist ein begabter, wundervoller, schöner Mensch – so müssen wir miteinander reden“ (Hebel in einer ERF-Sendung).

Die großen christlichen Denker der Vergangenheit hatten da eine andere Perspektive. Noch von Blaise Pascal bis hin zu G.K. Chesterton und C.S. Lewis war allen klar, dass die Erbsünde offensichtlich ist und das tiefe Gefallensein des Menschen keines Beweises bedarf – es ist eben offen sichtbar. Man braucht auch eine Brille (s.o. Calvin), um den Menschen klar zu erkennen. Viele haben sie heute abgelegt.

Völlige Verderbtheit meint, wie schon mehrfach gesagt, nicht, dass der Mensch so böse wie nur denkbar ist. In menschlichen Gemeinschaften ist tatsächlich viel Gutes zu finden. Aber wem haben wir dies zu verdanken? Unserem phantastischen inneren Wesen? Die theologischen Neuerer unserer Tage sehen meistens nicht, dass es Gottes Schöpfungsordnungen waren und sind, die die wesentliche Rolle beim Zurückdrängen des Bösen in der Welt spielen.

Der öffentlichen Ordnung, dem Staat, ist es zu verdanken, dass Verbrecher bestraft und dem Bösen Einhalt geboten wird. Die freie Marktwirtschaft kanalisiert unsere Wünsche nach Besitz, so dass wir selbst unsere Gier meist nur dann ausleben können, wenn wir anderen gute Produkte und Leistungen anbieten. Familie und Kirchen halten auf der persönlichen Ebene das Böse zurück, indem Tugenden vorgelebt, gepredigt und geprägt werden.

Das reformatorische Menschenbild ist also keineswegs furchtbar, sondern liefert durchaus gute Erklärungen und kann verteidigt werden. Es muss aber noch mehr gesagt werden. Es ist aus einem entscheidenden soteriologischen Grund notwendig: radikale   Verderbtheit steht in direkter Beziehung zur Einheit mit Christus, ist dessen andere Seite der Medaille oder Entsprechung (J. Todd Billings hat darauf gut in Union with Christ hingewiesen).

Jesus selbst hat dies so ausgedrückt: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ (Joh 15,5) In Joh 8,31–38 betont er, dass wir in Christus und seinem Wort bleiben müssen; andernfalls erkennt man die Wahrheit nicht und bleibt ein „Sklave der Sünde“ (V. 34). Die theologischen Neuerer laufen heute oft Sturm gegen alles entweder-oder bzw. gegen jeden Dualismus. Doch hier haben wir es schwarz auf weiß: Entweder man ist mit Christus verbunden oder nicht. Außerhalb von ihm gibt es keine geistliche Frucht und kann nichts getan werden, was Gott wirklich wohlgefällig ist.

Paulus bekräftigt diese Sicht in seinen Briefen wie in 1 Kor 7,22 oder in Röm 6,16–18: Gläubige waren Knechte der Sünde, sind nun in Christus frei. Kol 2,13: Gott „hat euch mit ihm [Christus] lebendig gemacht, die ihr tot wart in den Sünden…“ Tot, blind, unfrei, gefangen – das sind die biblischen Umschreibungen des Zustands unserer tiefen Gefallenheit. Und das ist die menschliche default position – es sei denn, man ist eins mit Christus durch den Glauben.

„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“

Die nüchterne, pessimistisch wirkende reformatorische Sicht des Menschen hatte zahlreiche positive Auswirkungen. Abgesehen von der Soteriologie und der Erneuerung der Kirche wurde besonders die westliche Welt durch den Gedanken geprägt, dass wir alle im Hinblick auf Wissen und Handeln fehlbar sind.

Es ist sicher kein Zufall, dass vor allem die protestantisch (und meist calvinistisch) geprägten angelsächsischen Ländern sowie die Niederlande säkulare Anwendungen der tiefen Gefallenheit des Menschen hervorbrachten und in Institutionen verankerten. Hier ist natürlich an erster Stelle das parlamentarische System mit seiner Gewaltenteilung und Kontrolle der Herrschenden zu nennen. Denn auch die Machthaber sind Sünder, fehlbar und alles andere als vollkommen. Daher muss es möglich sein, sie bei Machtmissbrauch auf friedliche Weise zu beseitigen.

Natürlich glaubte man zu allen Zeiten an die Fehlbarkeit von Menschen. Doch in der Regel nahm man eine bestimmte Elite davon aus. Tief gefallen und verdorben sei das gemeine Volk, die Beherrschten, die Barbaren usw. Der innovative Gedanke des  Christentums war, dass alle Menschen gleich gefallen sind. C.S. Lewis schreibt daher in seinem Essay „Equality“ (Gleichheit, 1943): „Ich bin Demokrat, weil ich an den Sündenfall glaube… Die Menschheit [d.h. alle Menschen] ist so tief gefallen, dass man keinem Menschen die uneingeschränkte Macht über seine Mitmenschen anvertrauen kann.“

Auch in Wissenschaft spielte der ‘negative’ Gedanke der Fehlbarkeit eine äußerst positive Rolle. Einfallsreich und kreativ sind alle Menschen, aber es war eine besondere Idee nötig, um unser modernes System von Bildung und Forschung hervorzubringen. Neil Postman (1931–2003) nannte in Keine Götter mehr: Das Ende der Erziehung (1995) die Idee „der gefallenen Engel“: „Das Leitmotiv dieser Geschichte [d.h. dieser Leitidee] ist die Tatsache, dass Menschen Fehler machen. Ständig… Dass wir uns irren könnten, dass wir uns wahrscheinlich irren, ist die Bedeutung des ‘gefallen’ im Bild…“ Postman schreibt, „dass die Wissenschaft der Geschichte des gefallenen Engels mehr schuldet als jeder anderen Lehre.“ Und diese Idee, so der Agnostiker, ist „im Wesentlichen eine religiöse“. Umgekehrt gilt: „Zu glauben, dass wir gottgleich oder vollkommen seien, zählt sogar zu den schwersten Sünden, derer wir fähig sind.“

In der Wissenschaftsphilosophie prägte Karl Popper (1902–1994) den Begriff Fallibilismus oder Fehlerhaftigkeit. Ganz anders die großen Optimisten wie der Atheist Carl Sagan glaubte Popper nicht, dass die Naturwissenschaften das große Licht im Dunkel von religiösem Aberglauben und kirchlichen Dogmen seien. Wir haben überall gerade einmal genug Licht für den nächsten Schritt und tasten uns auch in den Wissenschaft suchend vorwärts. Unser gesamtes Wissen ist Vermutungswissen, welches wir ständig in Orientierung an der Wahrheit korrigieren.

Poppers Freund und Gesinnungsgenosse war Friedrich August von Hayek (1899–1992). Der Ökonom warnte in seiner Rede bei der Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaft im Jahr 1974 vor der „Anmaßung von Wissen“. Die „Verfahren der exakten Naturwissenschaften“ waren, so Hayek, „überaus erfolgreich“. Doch ihre simple Übertragung auf die Sozialwissenschaften, d.h. das komplexe Zusammenleben von Menschen, bezeichnete er als „Szientismus“ und nannte dies einen „schweren Fehler“.

Denn in der Folge führt der Szientismus zur Selbstüberschätzung, so dass man sich vom Wesen der Wissenschaft – dem kritischen Denken – entfernt. Wenn wir Gesellschaftsordnungen verbessern wollen, gilt es unbedingt zu bedenken, dass unsere Fähigkeiten zu Formung aufgrund des begrenzten Wissens äußerst beschränkt sind. „Die Erkenntnis der unüberschreitbaren Grenzen seines Wissens sollte den Forscher auf dem Gebiet der Gesellschaft eine Demut lehren, die ihn davor bewahrt, ein Mitschuldiger in des Menschen unglückseligem Streben nach Beherrschung der Gesellschaft zu werden – ein Streben, das ihn nicht nur zum Tyrannen über seine Mitmenschen, sondern auch zum Zerstörer einer Zivilisation machen kann…“

In der Verfassung der Freiheit schrieb Hayek, ganz auf der Linie von Lewis oder Postman: „Natürlich gehen alle politischen Theorien davon aus, dass die meisten Menschen sehr unwissend sind. Die Vertreter der Freiheit unterscheiden sich von den übrigen dadurch, dass sie zu den Unwissenden auch sich selbst und auch die Weisesten zählen. Gegenüber der Gesamtheit des Wissens, das in der Entwicklung einer dynamischen Zivilisation ständig genutzt wird, ist der Unterschied zwischen dem Wissen, das der Weiseste, und dem Wissen, das der Kenntnisloseste bewusst verwenden kann, verhältnismäßig bedeutungslos.“

In der gleichen Denktradition steht ein anderer großer Ökonom: Thomas Sowell (geb. 1930). In A Conflict of Visions (1987) unterscheidet er zwischen einer „begrenzten“ und einer „unbegrenzten Vision“. Letztere („unconstrained vision“) sieht den Menschen als im Kern gut an, weshalb soziale Probleme mit Hilfe der richtigen Prinzipien und des richtigen Fachwissens auch lösbar sind. Die Führung dabei muss den „Gesalbten“, so Sowell spöttisch, überlassen werden. Diese Vision der Machbarkeit geht auf Denker wie Jean-Jacques Rousseau zurück. Menschen seien nicht durch ihre sündige Natur, sondern durch gesellschaftliche Zwänge behindert.

Die „constrained vision”, die natürlich auch Sowell hochhält, betrachtet den Menschen in moralischer Hinsicht als begrenztes, keineswegs vollkommenes Wesen, das zu Egoismus neigt und dem durch sein eigenes, nämlich gefallenes oder sündiges Wesen Grenzen gesetzt sind. Dieses Wesen ist inhärenter Teil des Lebens und kann auf politischem Wege nicht einfach beseitigt werden. Aufgabe des politischen Handelns ist daher, das  Böse möglichst weit einzugrenzen und das Beste aus der Gefallenheit und Begrenztheit des Menschen zu machen – jedem Utopismus ist aber die Grundlage genommen.

Entdecke das Göttliche und das Gute in dir, raten einem heute so manche Pastoren und christliche Autoren. Auch hier gilt: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, so Jesus in Mt 7,16. Die Früchte einer Weltsicht, die das Dunkle im Menschen – in allen Menschen – beachtete, war nachgewiesen fruchtbarer.