Die Reformation geht weiter!
Das Reformationsjubiläum wurde in Deutschland bewusst als ökumenisches Fest begangen. Oft demonstrierten die Spitzen der Großkirchen ihre Einheit. Beide Konfessionen begegnen sich auf Augenhöhe; man pflegt einen herzlichen Umgang und betont das Gemeinsame. All dies wundert wenig, sind doch evangelische und katholische Christen im deutschsprachigen Raum seit Jahrhunderten zahlenmäßig etwa gleich stark.
Auch in Litauen bestand einst diese konfessionelle Pattsituation. 1569 kamen jedoch die ersten Jesuiten ins Land, die Gegenreformation nahm Fahrt auf. Bis zum 18. Jahrhundert ging die Zahl der evangelischen Gemeinden drastisch zurück. Zwar wurde der evangelische Glaube nicht ganz ausgemerzt, doch die Vorherrschaft Roms war sichergestellt. Und das bis heute: Nun stehen den knapp 80% Katholiken rund 1% Evangelische gegenüber.
In einem katholisch dominierten Land wie Litauen lassen sich daher auch die theologischen und kulturellen Brüche viel leichter erkennen, die bis heute zwischen Rom und den protestantischen Kirchen bestehen.
Jedes Jahr um den 1. November herum wird dies deutlich sichtbar, wenn sich alles um die Verstorbenen dreht. Erzbischof Grušas aus Vilnius bekräftigte beim Allerheiligenfest wieder die katholische Grundüberzeugung: Tote und Lebende bilden gleichsam ein Team, zwischen ihnen gibt es vielfachen Austausch. Wir können etwas für die Verstorbenen tun, die sich im Fegefeuer befinden – für sie beten, Seelenmessen stiften, ihre Gräber aufwendig pflegen. Umgekehrt leisten die Heiligen und Maria im Jenseits Fürbitte für die Lebenden. Hier sind natürlich auch die Ablässe zu nennen. Die Kirche Roms gewährt sie aus dem von ihr verwalteten „Kirchenschatz“ und verkürzt damit die Reinigungszeit im Fegefeuer. Jeden Sommer gibt es zahlreiche Ablässe an vielen Orten in ganz Litauen.
Verstärkung erhielt das Team im Jenseits in diesem Sommer durch die Seligsprechung des 1962 verstorbenen litauischen Bischofs Teofilius Matulionis. Zurzeit reist sein Reliquie durch die Bistümer des Landes.
Die Reformatoren machten all dem ein Ende. Wir können und brauchen für die Toten nichts mehr tun. Der Glaubende ist nach dem Tod direkt bei Christus, Leid erwartet ihn nicht mehr. Heinrich Bullinger schreibt im Zweiten Helvetischen Bekenntnis: „Wir glauben, dass die Gläubigen nach dem Tode des Leibes geradewegs zu Christus gehen und deshalb weder der Unterstützung noch der Fürbitte der Lebenden, noch all ihrer Dienste irgendwie bedürfen.“ (XXVI)
Natürlich beerdigen auch die Evangelischen ihre Toten in anständiger Weise. Im Mittelpunkt der kirchlichen Handlungen stehen bei Bestattungen aber die Lebenden. Schon früh gewann die Trauerpredigt bei den Protestanten große Bedeutung, die Trost und Glauben wecken und stärken sollte. Am weitesten in ihrer Kritik der katholischen Bestattungsriten gingen die britischen Presbyterianer bzw. Puritaner. In ihrem „Directory for the Public Worship of God“ (1647) ist keinerlei kirchlicher Ritus am Grab selbst vorgesehen, um jeglichen Aberglauben, für den Toten noch etwas tun zu können, zu unterbinden.
Die Kirche Roms ist außerdem die Konfession der Wunder. Bei jeder Messe vollzieht der Priester die Wandlung der Substanz von Brot und Wein in Leib und Blut Christi – das wäre nun tatsächlich ein echtes Wunder. Voraussetzung für Heiligsprechungen sind bekanntlich auch Wunder. In der prunkvollen Kapelle des Hl. Kasimir in der Vilniuser Kathedrale werden einige der Wunder dargestellt, die das Leben des Nationalheiligen Litauens umranken.
Übernatürlich sind zudem die Marienerscheinungen, die widerum von Wundern begleitet werden – so auch bei der ersten anerkannten Erscheinung der Jungfrau in Europa im Jahr 1608 im litauischen Šiluva. Heute wird in Litauen einem halben Dutzend wichtiger Marienbildnisse wunderwirkende Kraft zugesprochen. 2018 wurde vom Parlament zum „Jahr der Gottesmutter von Trakai“ erklärt, da das Marienbild vor dreihundert Jahren „gekrönt“ wurde. Göttliche Wunderkraft wird auch dem populären, 1934 nach einer Vision der hl. Faustyna Kowalska gemalten „Gnadenbild vom barmherzigen Jesus“ in Vilnius nachgesagt.
Schon während der Reformation mussten sich die Evangelischen nach ihren Wundern fragen lassen. Schließlich ist von Wundertaten der Reformatoren nichts bekannt. Natürlich glaubten auch sie an Wunder. Aber in den Bekenntnisschriften ist von ihnen fast nur im Zusammenhang der Christologie und der Erlösungslehre die Rede. Dass Gott in Jesus Mensch wurde und auferstand und dass Er durch Wort und Geist geistlich Toten neues Leben schenkt – dies sind für die Evangelischen die großen Wunder, die von den ‘katholischen’ nur zu leicht überdeckt werden.
Protestanten und Katholiken haben drittens eine ganz unterschiedliche Theologie des Kirchenraums. Für Rom sind Kirchen besondere, heilige Orte. Dort wird in einem Tabernakel der wahre Leib Christi aufbewahrt, weshalb man in einer geweihten Kirche Gott in einem objektiven Sinn näher ist. Die Evangelischen hingegen haben die klare Trennung zwischen sakralem und profanem Raum radikal aufgehoben. Ort der besonderen Gegenwart Gottes sind die Gläubigen selbst, da diese nun „Tempel des Heiligen Geistes“ sind. Kommen Christen zum Gottesdienst zusammen, ist dies eine heilige Zusammenkunft. Der Ort dieser Gemeinschaft selbst hat aber keine Heiligkeit in sich selbst; es ist einfach der Ort der Predigt und des Gotteslobes. Ohne Gemeinde ist die Kirche ein bloßes Gemäuer.
Luther meinte schon 1520 provokant, dass sich Gott über das herzliche Gebet seiner Kinder aus einer Strohhütte oder gar einem Schweinestall mehr freut als über das heuchlerische Getue in einer prächtigen Kathedrale. Protestantische Kirchenräume haben daher eine vor allem funktionale Ausrichtung. Sie sollen genug Platz bieten, damit die Gemeinde zusammenkommen und auf die Predigt hören kann. Alle Nebenaltäre für die vielen katholischen Privatmessen wurden abgeschafft, Kirchenbänke eingeführt; und diese ordnete man besonders in den reformierten Kirchen um die Kanzel herum an, da die Predigt ja den Kern des evangelischen Gottesdienstes darstellt.
Gravierende Unterschiede gibt es schließlich bis heute im Amtsverständnis. Zwar anerkennt die katholische Kirche inzwischen auch das „allgemeine Priestertum“ aller Gläubigen, davon unterscheidet sich das „hierarchische Priestertum“ aber immer noch dem Wesen nach. Geweihte Priester und Bischöfe stehen in einem höheren Gnadenstand, besitzen eine „heilige Gewalt“ und sind für die Vermittlung des Heils unabdingbar. Die Evangelischen dagegen sehen keinen geistlichen Unterschied zwischen Ordinierten und „Laien“. Jeder Christ, so Luther, besitzt die grundsätzliche Befähigung zur Bibelauslegung. Pastoren und andere Diener der Kirche sind um der Ordnung willen öffentlich beauftragt zu predigen. Sie sind auf Synoden in die Kontrolle durch Nichtordinierte eingebunden.
Trotz dieser klaren Unterschiede geht in Litauen von der katholischen Kultur ein starker Sog aus. Evangelische passten sich vielfach dem Brauch der Mehrheit an. So werden z.B. lutherische und reformierte Pastoren auch „Priester“ genannt und ähnlich hoch geachtet wie die katholischen Kollegen. Und nun lässt sich der lutherische Bischof auch noch ganz unevangelisch mit „Seine Exzellenz“ anreden… Die Reformation muss in Litauen weitergehen! Wenn die Evangelischen ihre Identität jedoch nicht bewahren und die Reformation neu entdecken, ist das Überleben des 1% akut gefährdet.